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Kapitel III
Acta in Sachen des Rechtes ./. C.F.M.

Es ist weit über ein Menschenalter her, daß ich an einer schweren seelischen Depression erkrankte, deren Äußerungen man vor den Strafrichter brachte, anstatt vor den Arzt und Psychologen. Ich habe es schwer zu büßen gehabt, daß der Stand der gerichtlichen Psychologie damals noch nicht derselbe war, wie er es heutigen Tags ist. Heut würde man mich freisprechen …[1] Heute: zwei weitere Menschenalter nach der Niederschrift dieser Sätze: würde man May gewiß ebensowenig ›frei-sprechen‹ wie damals; und ob der ›Stand der gerichtlichen Psychologie‹ in den vergangenen 100 Jahren eine heilsame Änderung erfahren habe, ist eine Frage, auf die das Strafgesetzbuch auch nach Revision nur eigentlich trübe Antworten austeilt. ›Vor Gericht‹, vor welchem immer, wäre Mays Fall nur wenig aussichtsreich, heute wie immer[2]; ein Verstehen ließe wohl einzig aus jener Humanität sich erwarten, nach der sich der alte Mann dann so verzweifelt umsah und so vergeblich: die er, blind tappend zwischen den mit ihm alt gewordenen Erinnerungen, nicht mehr zu greifen bekam, so süchtig auch er zu ergreifen suchte. Anrührend immer bleiben diese späten Versuche, die heillos dunkle Zeit seiner Jugend ins Licht der Begnadigung zu bringen; bei sachlicher Aktennüchternheit zu bleiben haben gleichwohl die kurzen Referate, mit denen sie im Gesamtbild seines Charakters noch am ehesten menschlich vorüberzuschaffen ist.

Am 2.11.1868 wird May »in Folge Allerhöchster Gnade« vorzeitig aus Osterstein entlassen. Aber die brutal verhängte lange Zeit hat von allen theoretisch möglichen Wirkungen die unterste gezeitigt, die nächstliegende und verständlichste: nur geduckt versteckt unter verworrener Schweigsamkeit, bricht sie im Augenblick des Freiwerdens durch die dünne Kontrolldecke herauf. Er geht zu den Eltern nach Ernstthal, und kaum war ich dort, so stürzte sich alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die Anfechtungen begannen von neuem. Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff … Die ›inneren Stimmen‹, auf die May in der späten Beschreibung den Konflikt projizierte, sind freilich bereits Imagines einer höheren Einordnung; bei kälterem Licht besehen, und abgelöst von der belletristischen Überfärbung, zeigt sich der Zwiespalt weit verwischter, dumpfer in der tieferen Region der kaum mehr sichtbar abgegrenzten Antriebe: wenig wahrscheinlich ist, daß die Parteien des Getümmels dem Bewußtsein deutlich geworden wären, einem Bewußtsein, das – ohnehin unklar genug – von den immer dichter heraufreichenden, von Alkoholzufuhr aufgerührten Bodensätzen fehlschlägiger Erziehung am Ende nun ganz eingetrübt wird. Nach knapp 5 Monaten Freiheit bereits folgen die Folgen.

Am 29.3.69 begibt sich ein vorgeblicher Polizeileutnant v. Wolframsdorf aus Leipzig in Wiederau auf einen Ostermontagsspaziergang zum Krämer Reimann, teilt diesem mit, er sei »beauftragt, nach Falschmünzern, mit denen Reimann bereits seit Jahren in Verbindung stehen solle, zu recherchieren«[3], und fordert den strammstehenden Untertan forsch auf, doch einmal seine Kassenscheine zur Prüfung herzuzeigen – (und der Auftritt wird schon echt genug ausgefallen sein: den ›Leutnantston‹ beherrschte May, wie er dann in den Kolportageromanen demonstrierte, durchaus virtuos). Ein Zehn-Taler-Schein wird herbeigeholt; natürlich ist er falsch und läßt sich »nach anscheinend genauer Untersuchung« beschlagnahmen. Enttäuscht nun von der geringen Ausbeute seines Recherchierens, erblickt der Herr von Wolframsdorf des Krämers »vergoldete Zylinderuhr« (Wert: 8 Taler) und nimmt auch diese zu sich, »mit dem Bemerken, daß er sie als gestohlen erkannt«. Dann fordert er Reimann auf, »behufs weiterer Erörterung mit ihm nach Clausnitz zu gehen, wo sich die Gendarmerie befinde«; doch dort wartet der Krämer vergeblich im Gasthof, daß man ihn zur Einvernahme hole: der Polizeileutnant ist verschwunden …

Weniger freundlich verläuft der zweite Streich, der diesem sogleich folgt. Ermutigt von der Erfahrung, wie leicht es in Deutschland doch sei, das Volk im Gewande der Obrigkeit um brachliegende Barschaften zu bringen, erscheint am 10.4.69 ein weiteresmal ein »Mitglied der geheimen Polizei« beim Seilermeister Krause in Ponitz, verlangt diesen unter vier Augen zu sprechen und fordert ihn dreist zur Vorlage der im Haus vorhandenen Gelder auf: das sind 23 Taler Courantbillets und ungefähr 12 Taler »klingender Münze«, von denen der Geheime unverzüglich 30 »unter der Erklärung, daß dieses Geld falsch sei« zu sich nimmt, nämlich sämtliche papierenen und 7 der klingenden Münzen. Alsdann fordert er den Krause auf, »ihm sofort nach Crimmitschau an Gerichtsamtsstelle zu folgen. Auf dem Wege dahin und vor Frankenhausen ist indes der Angeklagte« (= der geheime May) »unter dem Vorgeben, ein natürliches Bedürfnis befriedigen zu müssen, abseits getreten und hat plötzlich querfeldein die Flucht ergriffen, ist von Krause und einem von diesem zu Hülfe gerufenen Dritten verfolgt und eingeholt worden und hat, nachdem er vorher das Krausen abgeschwindelte Geld von sich geworfen, der von seinen Verfolgern beabsichtigten Ergreifung dadurch mit Erfolg sich widersetzt, daß er ein bei sich geführtes Doppel-Terzerol … aus der Tasche gebracht und damit auf seine Verfolger, wenn sie ihn nicht gehen lassen würden, zu schießen gedroht hat …«[4] Der interessanteste Zug dieses Stückleins ist die »Widersetzung gegen erlaubte Selbsthilfe«: denn eigentliche Gewalttätigkeit hat May nie gelegen, obwohl er schon bei der Verhaftung am 27.3.65 im Rosental gräßlicherweise ein Beil bei sich führte, angeblich »um es in Leipzig schärfen zu lassen«. Daß dieses neuerliche »Doppel-Terzerol damals geladen gewesen, hat man dem Angeklagten, der das in Abrede gestellt, nicht nachweisen können …« Immerhin aber entkommt er mit Hilfe des Geräts, doch fassen jetzt bereits die ersten ›Bekanntmachungen‹ nach ihm: »Der Unbekannte ist von mittlerer Größe mit braunem dünnen Schnurrbart und braunem langen Haupthaar, trug breitkrempigen hellbraunen Filzhut, hellbraunen Rock und Weste, Beinkleider von gleicher Farbe und schwarze Gallons …«[5]

Die Betrügereien aber sprechen sich noch schneller herum, als man annehmen möchte. Als May am 12.4.69 bei den Eltern in Ernstthal auftaucht, ist bereits ein Bericht des Obergendarmen Prasser unterwegs[6], der die Identität des Gesuchten vermutet; er hat also einige Gründe, eiligst wieder zu verschwinden. Am 18.4. fährt er nach Schwarzenberg, um sich mit einer »Geliebten«, dem Dienstmädchen Auguste Gräßler, zu treffen; einen Tag lang erfreut er sich des Intermezzos, dann geht es weiter nach Leipzig, von wo er am 20.4. an die Eltern schreibt, er gedenke, sich nunmehr nach Nordamerika zu begeben: Ich traf nämlich zwei nordamerikanische Herren, Vater und Sohn, welche von einer Vergnügungs- und wohl auch halb und halb Geschäftsreise kamen und über Leipzig, Frankfurt, Amsterdam etc. nach Hause wollten. In Prag hatten sie ihren Hofmeister zurückgelassen und machten mir den annehmbaren Vorschlag, an dessen Stelle zu treten, mit nach Pittsburg zu gehen und dort die jüngeren Geschwister zu unterrichten … Ihr werdet wohl mit meinem Schritte einverstanden sein, der mir vielleicht Aussicht auf etwas mehr Glück biethet, als ich bisher gehabt habe … Ich reise ab; man wird meine Vergangenheit vergessen und verzeihen, und als ein neuer Mensch mit einer besseren Zukunft komme ich wieder …[7] Obwohl nun die Vermutung nicht ganz fern liegt, der Brief habe schlicht eine Mystifikation sein sollen, bestimmt zuletzt auch, Behördennachforschungen irrezuführen, reist May tatsächlich noch am gleichen Tage mit den beiden Amerikanern nach Amsterdam ab; doch kommt er nur bis Bremen, von wo er wieder nach Sachsen zurückkehrt.[8] Zu Pfingsten (16./17.5.) weilt er ein weiteres Mal in Schwarzenberg bei Auguste Gräßler; dann taucht er am 27.5. plötzlich in Ernstthal auf, jedoch nicht bei den Eltern, sondern beim Paten Weisspflog, der ihm – vermutlich aus geistesverwandter Abenteuerlichkeit – während der folgenden Zeit beisteht. Vermutlich ebenso ist er es gewesen, der dem Verfolgten die wenige Kilometer nördlich von Hohenstein in den Wäldern gelegene Eisenhöhle zuweist, später ›Karl-May-Höhle‹ genannt[9]; eher gutmütig vom Paten verschenkt als ihm gestohlen dürften die Gegenstände sein, die May sich in der Nacht zum 28.5. dort hinschafft: 1 Kinderwagen, 1 Schirmlampe, 1 Brille mit Etui, 1 Brieftasche und 2 Börsen mit insgesamt 2 Talern 1 Neugroschen 3 Pfennigen Inhalt, ¼ Pfund Waschseife und 2 Bunde mit zusammen 60–70 Sperrhaken alias Dietrichen … Aber ein Nachbar hat die Transaktion beobachtet, und so muß Weisspflog, um nicht wegen Beihilfe – nach so mancher Tat und vor so mancher weiteren Tat – belangt zu werden, eine Schein-Anzeige erstatten[10]; er nimmt sich freilich eine ganze Woche damit Zeit, – aber das Delikt kommt zu denen, auf die hin May dann später verurteilt wird.

Kaum in seinem feuchten und wenig romantischen Hauptquartier etabliert, setzt May seine Bemühungen fort, sich an den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft zu vergreifen. Am 31.5. frühmorgens betritt er eine Gaststube in Limbach, bestellt ein Glas Wein, ohne es zu erhalten, da der Herr Wirt noch nicht aufgestanden ist, und nimmt sich statt dessen, »eine augenblickliche Entfernung des Schankmädchens benutzend«[11], einen Satz Billardbälle. Die 5 Exemplare werden später vom Gericht »legal auf 20 Thaler gewürdigt«, und für ein Viertel des Wertes kann er sie immerhin an einen Drechsler am Ort umsetzen; doch sein Abgang vollzieht sich sodann in größter Eile, denn zwei Chemnitzer Polizeidiener haben von dem verdächtigen Handel erfahren, folgen dem Händler und fordern denselben auf, »über seine Person sich auszuweisen«, worauf wiederum derselbe lieber verzichtet.

Ein gleichartiger Diebstahl ereignet sich in der Nacht zum 4.6. in Bräunsdorf, wo dem Gasthofbesitzer Schreier ein Pferd samt Trense, Reitpeitsche und Halsriemen aus dem Stall verschwindet (Wert: 66 Taler 15 Ngr.). Für billige 15 Taler darf es der Pferdeschlächter Voigt in Höckendorf erwerben, doch leider ist der Vorbesitzer allzu eilig zur Stelle, und so hat es May dann doch »für rathsam gehalten, ohne den Kaufpreis für das Pferd von Voigt ausgezahlt erhalten zu haben, aus Höckendorf sich schleunigst zu entfernen«.

Am 15.6. erscheint er in Gestalt eines »Expedienten des Advocaten Dr. Schaffrath in Dresden« dem Bäckermeister Wappler zu Mülsen St. Jacob. Der vernimmt die frohe Botschaft, es sei ihm von einem amerikanischen Verwandten eine Erbschaft zugefallen, macht sich sogleich mitsamt seinen 3 Söhnen weisungsgemäß auf den Weg nach Glauchau, wo in ›Dingelstädts Hotel‹ der Doktor Schaffrath persönlich ihrer harre, und kaum sind sie fort, so eröffnet der Expedient nach altgeübter Weise bei des Bäckers Eheweib und Schwiegertochter seine Falschgeldforschungen. Man trägt herbei, was man hat, und »mindestens 28 Thaler« dienen diesmal der Beförderung der Literatur: der Forscher nimmt sie »an sich und mit fort«.

So grotesk die, sagen wir, Hochstapeleien Mays am Ende doch nur wirken, so bedenklich macht zugleich ihre zunehmende Hemmungslosigkeit. Daß die tölpelhaften, allzu leicht zu foppenden Opfer nicht eben dazu beitrugen, sein bißchen Gewissen zu Besinnung und auch nur annähernder Tateinsicht kommen zu lassen, liegt auf der Hand; so werden die ursprünglich von vielerlei, vielfach ineinander verschränkten Zwängen[12] diktierten Strafhandlungen immer dreister; die materielle Not, die anfangs alles beherrschende, tritt als Motiv zurück; fast komödiantische Züge werden sichtbar. Der Einstieg ins Hohensteiner Kegelhaus (Ende Juni) läßt sich eigentlich nur noch als eine jener Sport-Veranstaltungen sehen, die in der heutigen Jugendkriminalität als Typus bekannt sind: in kraus verblasenen Bestätigungen schafft sich das lange schlimm gedämpfte Selbst-Bewußtsein Kraft. Die Beute: ist nichts als 1 Handtuch und »1 Cigarrenpfeifchen« im Gesamtwert (nach gerichtlicher ›Würdigung‹) von 10 Neugroschen 5 Pfennigen … Leichtsinn vor dem Fall.

Am 2.7.69, nachts 3 Uhr, wird May in Hohenstein verhaftet und nach Mittweida ins Gerichtsgefängnis geschafft; am andern Tag wird er vom Staatsanwalt Taube vernommen. Doch seine Zuversicht scheint während der Verhöre keineswegs gelitten zu haben: erst die zutiefst demütigenden Lokaltermine versetzen ihm einen Stoß und lösen zugleich die Rebellion in ihm aus. In Handschellen wird er nach Wiederau transportiert (5.7.)[13], nach Werdau, nach Mülsen St. Jacob (15.7.) –; da hält er es nicht mehr aus, und bei Kuhschnappel, auf dem Weg nach Bräunsdorf, reißt er am 26.7. alle seine Kräfte zu einem starken Stück zusammen: er zerbricht die ›eiserne Bretze‹ und entkommt …

Bei der Verhaftung am 2.7. wurden in Mays Besitz 2 Schriftstücke gefunden, »welche der Angeklagte recognoscirt und geständlich in der Absicht selbst gefertigt hat, um davon bei Ausführung seiner Betrügereien und Schwindeleien Gebrauch zu machen …«[14] Das eine: ist eine »Polizeiliche Legitimation« mit der gefälschten Unterschrift »Dresden, am 19. Juni 1869 / Dr. Schwarze, Generalstaatsanwalt« und darauf angelegt, dem Inhaber bei seinen Falschgelderhebungen zu dienen; das andere, »Acta betreffend in Sachen der Erbschaft des Particuliers …«, trägt die Unterzeichnung »Dresden, am 24. Mai 1869 / Vereinigtes deutsch-amerikanisches Consulat / G. D. Burton, amerikanischer Generalkonsul / Heinrich von Sybel, sächs. General-Consul« – und bemerkenswert daran ist, daß May sich hier eines Namens bediente (›Burton‹ – so hießen auch die beiden Amerikaner), unter dem er selber noch im Alter in ›Winnetou IV‹ den Wilden Westen bereist: Namen wie Profile seiner späteren Figuren bleiben noch in der weit auswuchernden Imagination der Handlungsweisen ein paar einzelnen, zwanghaft wiederkehrenden Mechanismen verhaftet. Ob May von den selbstgefertigten Papieren irgendeinen praktischen Gebrauch gemacht hat, »ist von ihm in Abrede gestellt, ihm auch nicht nachgewiesen worden …« Dunkel ebenfalls bleibt, mit welcher Betätigungen Hilfe er sich in den folgenden Monaten am Leben erhalten hat: nach erfolgloser Polizeisuche am 11.8. (»Gestern Nacht rückten hier gegen 25 Gendarmen, die Polizeimannschaften der Umgegend und die Steiger-Section der Ernstthaler Turnfeuerwehr aus, um in den Hohensteiner Wäldern dem berüchtigten … May auf die Spur zu kommen …«[15]) bleibt er verschwunden, und erst Ende November wieder ist ein Aufenthalt in Plößnitz bei Halle nachgewiesen. Er reist dann im Dezember durchs Herzogtum Coburg-Gotha, hält sich in Coburg auf[16] und geht dann nach Böhmen; und dort ereilt ihn – unter ironisch bizarren Umständen – sein Geschick …

Am 4.1.1870 wird in Algersdorf (Böhmen) ein Unbekannter aufgegriffen[17], der auf verdächtige Weise in einer Scheune übernachtet hat. Man schafft ihn zum Bezirksgericht Bensen und untersucht auf Diebstahl, stellt das Verfahren aber wieder ein und gibt den »ausweislosen Fremden« an die Bezirkshauptmannschaft Tetschen weiter, »zur Konstatierung seiner Identität«[18]. Die ist nun einzig auf die selbstgebastelten Data des Verhafteten angewiesen: Albin Wadenbach heiße er, so gibt er an, stamme von Orby auf Martinique, wo er eine von seinem Vater Heinrich W. geerbte Landwirtschaft besitze; seine gegenwärtige Reise gelte dem Besuch diverser Verwandten in Europa, – und er nennt auch ohne Scheu die Namen: einen an der Bürgerschule Chemnitz angestellten Lehrer W., eine Kantorswitwe, wohnhaft in Wendisch-Ossa bei Görlitz, eine weitere Tante, vermählte Rittergutsbesitzerin Ulrich bei Görlitz, und schließlich noch eine dritte namens Alwine W., die als Wirtschafterin des Oberamtmanns Poppel bei Halle hause. Dieser letzte Name (der den Initialfunken für die ganze exotische Geschichte geliefert hatte: denn diese echte Alwine hatte der falsche Albin Ende November 1869 tatsächlich in Plößnitz aufgesucht, damals vorgeblich in Gestalt eines »Schriftstellers Reichel aus Dresden« und »natürlichen Sohns des Prinzen von Waldenburg«, und dabei auch ihre frühere Anstellung bei besagtem Poppel in Siegelsdorf erfahren) – dieser Name läßt das so künstliche Gebäude am Ende zusammenstürzen. Wenn auch die Nachforschungen nach den übrigen Verwandten natürlich erfolglos bleiben, so wird doch jene Alwine bald ermittelt; Tetschen schreibt den ganzen Befund an die Dresdener Polizei-Direktion (28.1.1870) und bittet um Ermittlungen; ein eigens angefertigtes Porträt-Photo des Wadenbach wird 3 Tage später hinterhergeschickt; und da trifft am 2.2. das Telegramm der Dresdener Staatsanwaltschaft ein: »Der dort zur Haft gebrachte angebliche Albin Wadenbach aus Orby, welcher identisch mit dem entsprungenen Carl Friedrich May, ehemaliger Schullehrer, und ein sehr gefährlicher Verbrecher ist, soll dort sofort aufgehalten werden …«[19]

Er wird es; man stellt ihm eine Falle (»Unter Benutzung seiner schon damals erworbenen Kenntnisse von ausländischen Gegenden und Sitten schrieb er … an den angeblichen Onkel einen Brief, aus dessen Inhalt man tatsächlich hätte schließen können, daß der Häftling auf Martinique wie zu Hause sei …«[20]); er wird überführt[21]; und am 14.3. holt man ihn von Tetschen ab und schafft ihn nach Mittweida, zum Bezirksgericht, wo er ein umfassendes Geständnis ablegt. Die Hauptverhandlung findet öffentlich am 13.4.70 statt; der königliche Richter »erkennt für Recht«, daß Carl Friedrich May des »einfachen Diebstahls, ausgezeichneten Diebstahls, Betrugs und Betrugs unter erschwerenden Umständen, Widersetzung gegen erlaubte Selbsthilfe, und Fälschung« schuldig sei: ein »Strafansatz« von 2 Jahren Arbeitshaus wird »für angemessen erachtet«, dem sich für die Widersetzung (Ponitz), den Pferdediebstahl (Bräunsdorf) und die Fälschung der Legitimationen 1 Jahr hinzugesellt; 1 weiteres Jahr wird pauschal wegen »Rückfälligkeit« verhängt; und die so addierten 4 Jahre Arbeitshaus werden »gemäß der Vorschrift Art. 300 Abs. 1 des Rev. StGB in die nächsthöhere Strafart von gleicher Dauer verwandelt«: Zuchthaus. Die Rache der Gesetze, die May im Gesamtwert von 106 Thalern 12 Ngr. 3 Pfg. beschädigt hatte, ist so brutal wie stets zuvor; freilich scheint sein Verhalten diesmal auch kaum Anlaß zu humanen Regungen gegeben zu haben: »Die ganze Persönlichkeit des Angeklagten«, schreibt der Verteidiger Haase aus Haynichen in seiner Berufung (17.5.), »machte in der Hauptverhandlung den Eindruck eines komischen Menschen, der gewissermaßen aus Übermuth auf der Anklagebank zu sitzen schien …«: er (der Haase) hat mich nicht verteidigt, sondern belastet, und zwar in der schlimmsten Weise … Dieser Advokat war unfähig, mich oder überhaupt ein nicht ganz alltägliches Seelenleben zu begreifen … Tatsächlich liest sich der Protest des Mittweidaer Routine-Verteidigers gegen das Urteil befremdlich genug: er hält die Strafe »nur deswillen für zu hoch, weil nicht sowohl Schlechtigkeit und Böswilligkeit den Angeklagten zu den Verbrechen getrieben zu haben scheinen, als vielmehr grenzenloser Leichtsinn und die angeborene Kunst, den Leuten etwas vorzumachen und daraus Gewinn zu ziehen, … wenn schon ich anerkenne, daß der Angeklagte ein gemeinschädliches Individuum ist …«; und damit meint der Mann dann »das Wenige, was für den Angeklagten spricht, herangezogen zu haben«. Eine derartige Berufung richtet natürlich nichts aus; am 16.5.70 wird das Urteil vom Sächsischen Oberappellationsgericht Dresden bestätigt.[22]

Vier lange Jahre lang: vom 3.5.1870 bis 2.5.1874: ist Karl May der Sträfling Nr. 402 im Zuchthaus Waldheim.

Kapitel IV
Aus der Mappe eines Vielgereisten

Die vier Jahre Waldheim bilden die dunkelste Zeit in Mays Leben, und nicht nur im Blick auf die dumpf verworrenen Seelenzustände, deren Quittung sie sind: schweigsamer als irgend sonst bleiben die Dokumente, und was sich in diesem vergitterten Zeitraum vollzieht, die große Wendung, der Anfang des Wortwerdens allen lange allzu schwachen Fleisches, ist zuletzt nur eigentlich im Ergebnis sichtbar. Mysteriös bleibt die Verwandlung in allen Details, und das gerade da, wo May es selber zu ihrer Erklärung an Einzelheiten nicht fehlen ließ.

Nicht halten läßt sich, neben so manchen anderen Deutungen des Feinsinns, die patente Lösung, die Straftaten selbst seien von förmlich abgespaltenen, halb bewußtseinslosen Zuständen nur ermöglicht worden und erst unter der Besinnung der Zelle durch die dicke Schicht von Lehm und Häcksel in die regulierten Bezirke von Einsicht heraufgedrungen: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, die May – im Alter verwirrter noch als je vor den ihm rüde ins Gesicht geworfenen Fakten – für sich in Anspruch nahm, ist eine Mystifikation – wie das Buch mit dem genannten Titel, das den Beichtspiegel abgegeben haben soll, – und wie am Ende wohl auch die Rolle, die spät sublimierte, des katholischen Anstaltskatecheten Johannes Kochta (1824–1886): ein weiteres Mal – wie bei der Märchengroßmutter und ihrem Buch – borgte sich May bei einem aus lauter Erinnerungslücken verdichteten Modell Anhalt und Autorität, die anders für sich herzustellen ihm mißlang. Nicht abgespalten, sondern – nach endlos langen Übungen in kahler Zellenstille – ganz heimlich und behutsam in sich isoliert werden sämtliche so verhängnisvollen Züge der gescheitert zerschundenen Person; ein gleichwohl riesiger Schub von Energie überführt sie in einen Bewußtseinsbezirk, in dem sie fortan schadlos weiterschalten können: in Bücher gebannt, von Einbänden gebändigt, vermögen sie heil zu bleiben noch im kranken, krankhaften Detail: die Heilung des Konflikts selbst entgeht der schmerzhaften, verkrüppelnden Operation. Was May hier gelingt, ist so ziemlich ohne Beispiel (und ein ›Geniestreich‹, wenn man will): nicht stutzt er zurecht, beschneidet, duckt, bekämpft, was ins bürgerliche Milieu nicht einzupassen war und auf weitere Zeit darin hätte umkommen müssen, sondern er verwandelt das Milieu selbst: er schafft seiner so bizarren Person und allen ihren heroischen, revoltierend herrischen Attitüden eine eigene, imaginäre Umwelt, in der sie ungehemmt gedeihen können: einen Traumraum, der in zähem Kleinarbeiten von jetzt an mit immer reicheren Details von höherer Wirklichkeit ausstaffiert wird. Der Vorgang dauert lange: über ein Vierteljahrhundert hin vollzieht sich Mays Entwicklung nunmehr im Gehäuse seiner Imagination. Was draußen in der rohen Realität übrigbleibt, ist nur der schattenhafte Umriß des alten vertrackten Charakters: ein ungefährliches, umweltverträgliches Wesen, das auf sehr leisen Sohlen weitergeht, bis … das wird später zu verfolgen sein. Am 2.5.1874 liegt die Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist, – wenn auch nicht buchstäblich hinter ihm, so doch auch nicht mehr eigentlich vor ihm und um ihn: Es war ausgestanden. Ich kehrte heim

Wann die ersten Exerzitien des Einsiedlers in der gestreiften Kutte zustande kommen, die ersten Schreibensversuche, ist kaum mit Sicherheit auszumachen. Ein Manuskript ›Ange et Diable‹ lag bereits in Mittweida vor[1]; das Weihnachtsgedicht, das May später in seine Schulzeit verlegte, ist offenbar in Waldheim selbst entstanden;. von den vielgesuchten ›ersten Veröffentlichungen‹ bis dahin aber fehlt jede gewisse Spur. Mit größerer Wahrscheinlichkeit aus der Waldheimer Zeit stammt das Dokument des Repertorium C. May[2], eine Sammlung von 2 längeren Entwürfen und rund 200 Titelnotizen, von denen einige wohl damals schon ausgeführt wurden: solche Arbeiten vermutlich hatten May die Bekanntschaft mit H. G. Münchmeyer eingetragen[3], dem tranig funzelnden Leitstern der Folgejahre.

Ursprünglich Zimmergesell und Tanzmusikant auf den Dörfern, hatte der Heinrich Gotthold Münchmeyer (1836–1892) im Jahre 1862 in Dresden ein »Verlags- und Colportage-Geschäft« begonnen, mit dessen Produkten – Groschenheften und Kalendern – er rings im Land begreiflich reüssierte. 1868 kann er das Begonnene »nunmehr auch dem Gesammt-Buchhandel eröffnen«; 1874 ist die anfängliche Handdruckpresse einer kompletten »Druckerei mit Dampfbetrieb« gewichen, und aus dem Geschäft erblüht eine Sorte Volksliteratur, für deren Besitz sich heute unverändert Volk wie Verleger selig preisen würden: ein ›Venustempel‹ ist dabei, ein ›Buch der Liebe‹ – dessen III. Abteilung ›Die Liebe nach ihrer Geschichte‹, ein Traktat im Höhern Chor, von May stammt, – und ein 4bändiges ›Schwarzes Buch / Verbrecher-Gallerie‹: eine Art Kolportage-Pitaval, in dem 2 oder 3 anonyme Geschichten vielleicht Mays frühester Muse zu danken sind. Die eigentlich engere Zusammenarbeit zwischen May und Münchmeyer beginnt 10 Monate nach der Entlassung aus Waldheim: da erscheint der Verleger ganz plötzlich in Ernstthal und bietet dem nun fleißig ums Brot Schreibenden, der ihm gleich die längere Novelle ›Wanda‹ überreicht, einen Redakteursposten an: der bisherige Verweser des Wochenblatts ›Der Beobachter an der Elbe‹, Otto Freitag, hat sich mit Krach auf eigene Füße gestellt, Konkurrenz ist zu befürchten: da liegt schon so etwas wie eine wirkliche Aufgabe. Und May wird nur zu gern nach dieser Chance gegriffen haben, so grandios er später auch Bedenken und Abneigung beteuerte; auch winken 600 Taler Jahresgehalt: – da gab ich ihm den Handschlag; ich war – – – Redakteur.

Als Redakteur in Dresden

Bereits 2 Tage später, am 8.3.75, reist er nach Dresden und mietet sich am Jagdweg 7 ein, ganz in der Nähe des Münchmeyerschen ›Geschäftslocals‹, der Nr. 14. Aber nach kaum einer Woche faßt auch hier die Vergangenheit nach ihm: kurz vor der Entlassung noch hatte die Kgl. Kreisdirektion Leipzig dem zweifelhaften Gefangenen 2 Jahre Polizeiaufsicht verordnet; das veranlaßt sogleich am 12.3.75 den Gendarmeriebrigadier Frenzel, der Dresdener Kriminalpolizei anzuzeigen, daß der »bereits wegen schweren Diebstahls, Betrugs, Widersetzung und Fälschung bestrafte Gauner und frühere Schullehrer Carl Friedrich May« sich von Ernstthal nach Dresden entfernt habe; »da nun zu vermuthen steht, daß derselbe … auch seine frühere verbrecherische Laufbahn theilweise wieder betreten dürfte …, so wollte der Unterzeichnete nicht unterlassen, einem geehrten Commissariate hiervon ganz gehorsamst Notiz zugehen zu lassen«[4], – und die Notiz wird nur zu gnädig angenommen, die Vermutung zu eigen gemacht, und am 15.3. weist man May aus Dresden aus. Zwar setzt er gleich am folgenden Tag ein langes Gesuch an die hohe Kgl. Polizei-Direction auf (und die Gnadenbitte ist wahrlich anrührend zu lesen: Nach langem Irren ist mir endlich eine Stellung gebothen, welche mich von Sorgen befreit und mir Gelegenheit biethet, das Vergangene wieder gut zu machen und den Beweis zu führen, daß der Weg meines Lebens nie wieder sich einem ›dunklen Hause‹ nähern werde. Wer da weiß, wie schwer es dem entlassenen Strafgefangenen wird, sich aus dem Schmutze emporzuarbeiten, der wird begreiflich finden, daß ich mit innigster Freude und Genugthuung dem Rufe gefolgt und in die gebothene Stellung eingetreten bin. In den wenigen Tagen meines Hierseins habe ich das vollständige Vertrauen meines Chefs erlangt, und ich hegte die freudige Hoffnung, daß ich die Vergangenheit hinter mich werfen und mit unbeirrtem Eifer vorwärts streben könne … Wohl weiß ich, daß ich schwer gefehlt und gesündigt habe, und die Thätigkeit meines ganzen Lebens muß darauf gerichtet sein, Verzeihung des Geschehenen zu erlangen …[5]); doch obgleich er sich erbietet, im Fall der Erfüllung seiner Bitte in steter Dankbarkeit der Humanität zu gedenken, welche meinen Eltern die bitterste Kränkung erspart und mir das Fundament läßt, auf welchem ich mir eine bessere Zukunft errichten möchte, zieht die Polizeidirektion den Buchstaben des Gesetzes vor: am 24.3. wird May endgültig angewiesen, binnen 3 Tagen Dresden zu verlassen.

Er geht nach Ernstthal zurück, bleibt aber in Münchmeyers Diensten, und als er dann Anfang August erneut um Aufenthaltsbewilligung in Dresden nachsucht, wird sie ihm gewährt: er zieht ins Hintergebäude des Verlags. So wird der unsanfte Stoß doch relativ leicht überwunden, und die nun folgende Zeit verbringt May mit redlich fleißiger Arbeit: den ›Beobachter‹, zu dem er nach der ›Wanda‹ nur noch den ›Gitano‹, ein erstes exotisches Abenteuer unter den Carlisten, beigetragen hatte, läßt er eingehen und gründet dafür zum Anfang September gleich 2 neue Wochenschriften: ›Schacht und Hütte‹ und ›Deutsches Familienblatt‹. Und die hehren Aufgaben, die er ihnen später zuschrieb, lassen sich selbst bei nachsichtigem, milde gerührtem Betrachten der alten Folianten kaum übersehen: hausbacken und naiv sind Anlage und Inhalt – und so brav, wie man nur will: sie waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und Herzen zu bringen …: das ist so richtig, wie dergleichen lakonische Plattheiten nur sein können. Die zahlreichen Traktate, die ›Schacht und Hütte‹ füllen, belegen – sieht man vom damit gegebenen Porträtbildnis der damit befriedigten Leser ab – am Ende eigentlich nur, daß May um diese Zeit den später noch häufig gepflogenen Umgang mit dem Konversationslexikon erlernte; auch die zwar mit Sorgfalt stilisierten, doch ebenso gediegen nichtigen ›Geographischen Predigten‹ lassen sich nicht besser einschätzen, – allenfalls auf deutschen Kanzeln könnten sie heute noch Ehre einlegen. Im ›Familienblatt‹ aber versucht er sich, nach der ersten Umrißzeichnung des späteren ›Winnetou‹[6], mit dem zweiten Stück aus der Mappe eines Vielgereisten, ›Old Firehand‹, zum erstenmal an der Fabel, der langsam tastend erdachten, in die er seine beschädigte Ich-Wirklichkeit verwandelt hat und hinübergerettet, planlos vorerst und noch ohne Zukunft – aber doch. Und es ist schon ein bedeutender Augenblick, dieser Oktobertag des Jahres 1875, nicht nur für May selbst, sondern für noch unabsehbare Millionen deutscher Leser: eine Mythologie wird begründet: ein ganz absonderlicher Pegasus tut die ersten Schritte: Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren

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