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3. Kapitel

Im Norden Dortmunds, Juli 2019

Nachdem sie Holthausen in nordöstlicher Richtung verlassen hatten, tauchten sie in eine ganz eigene Welt ein: weitläufige Wiesen mit Hecken und kleinen Baumgruppen. Hier und da eine Kuhherde mit Kälbern, die träge wiederkäuten und dem Auto hinterherschauten. Nach fünf Minuten Fahrt durch diese Idylle machte Raster ein Wäldchen aus, durch das das rote Dach eines stattlichen Gebäudes zu erkennen war. »Ist es das?«, fragte er.

»Das ist es«, antwortete Sabine, ohne etwas Stolz in ihrer Stimme verbergen zu können.

Sie bogen nach links in eine schnurgerade Allee ein, die beiderseits von alten Eichen gesäumt war. Nach 500 Metern öffnete sich der Blick auf ein hufeisenförmiges flaches Gebäude. In der Mitte befand sich eine überdachte Durchfahrt, hinter der man einen kiesbedeckten Innenhof erreichte. An der gegenüberliegenden Seite erhob sich der eigentliche Gutshof. Ein klassischer Herrensitz, eigentlich eher typisch für das Münsterland, das allerdings auch in Steinwurfnähe begann: breit mit mittiger Eingangstreppe, rotem Giebeldach und drei Etagen. »Die übrigen Gebäude beherbergen die Stallungen, die zwei Ferienwohnungen und Wirtschaftsräume«, erklärte Sabine ihrem Freund, während sie am rechten Rand des Vorplatzes den Wagen parkte. »Der Verwalter lebt auch im Haupthaus, da ganz links. Ist ein total netter Typ. Friedrich Ehlert heißt er, wird aber von allen nur Fritz genannt. Du wirst ihn mögen.«

Sabine und Raster schnappten ihre Taschen aus dem Kofferraum und steuerten auf die breite Freitreppe zu.

»Es scheinen ja schon einige Leute da zu sein«, meinte Raster und wies auf mehrere Fahrzeuge, die weiter links geparkt waren. In diesem Augenblick öffnete sich die reich verzierte Haustür, und heraus trat eine freundlich lächelnde alte Dame. Schlank und mit geradem Rücken hätte man sie auch als 70-Jährige durchgehen lassen können, wenn da nicht die unendlich vielen Falten und Fältchen in ihrem Gesicht gewesen wären. Sie trug ein nachtblaues elegantes Kostüm, das nicht so recht zu ihrem freundlichen und natürlichen Lächeln passen wollte. Das noch volle weiße Haar hatte sie zu einem akkuraten Dutt aufgesteckt.

»Ist das deine Großmutter?«, flüsterte Raster.

»Oma! Ist das schön, dich endlich wiederzusehen! Und alles, alles Gute zum Geburtstag!«, rief Sabine, ohne auf seine Frage direkt einzugehen, und sprang die Stufen hinauf, um ihrer Großmutter in die Arme zu fallen.

»Das ist sie ja wohl«, murmelte Raster und folgte seiner Freundin.

»Raster, darf ich dir meine liebe Oma vorstellen? Frau Lina Funda. Oma, das ist mein Freund Raster, ich meine Hans Schulz«, verbesserte sie sich.

Erneut öffneten sich die Arme der alten Dame, und ein warmes Lachen verschönerte aufs Neue das faltenreiche Gesicht. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass meine Sabine endlich jemanden gefunden hat. Und wen sie liebt, den mag ich schon mal erst recht. Ich bin Lina, darf ich auch einfach Raster sagen?«

»Selbstverständlich, gerne. Und auch von mir meinen herzlichsten Glückwunsch!«, antwortete Raster etwas unsicher.

»Jetzt kommt mal erst rein«, half ihm Lina über seine Verlegenheit hinweg. »Es sind schon fast alle da.« Sie dirigierte die beiden durch einen breiten Flur zu einer geschwungenen Treppe, die in die oberen Etagen führte, und neben der einige antike Stühle standen. »Lasst eure Taschen hier. Wir sitzen im Garten.«

Raster folgte Sabine und ihrer Großmutter durch eine hohe Tür hinter der Treppe in den rechten Flügel des Hauses. Sie betraten ein helles Wohnzimmer mit großen Fenstern und einer Terrassentür, die in den Garten führte. Der etwa drei Meter hohe Raum war geschmackvoll mit alten Möbeln eingerichtet, wobei Raster keine Ahnung hatte, aus welcher Epoche sie stammten. An den Wänden hingen, wie schon in der Diele, wertvoll aussehende Gemälde, die er aber nicht weiter einordnen konnte. Draußen, auf dem Rasen, war eine lange Kaffeetafel aufgebaut. Vergnügtes Geplapper von mehreren Menschen drang bis ins Wohnzimmer. Raster holte einmal tief Luft und trat dann hinter Sabine nach auf die Terrasse.

»Alles gut«, flüsterte sie. »Ist doch nur meine bucklige Verwandtschaft.«

Als ob mir das helfen würde, dachte Raster und bereute in diesem Moment, überhaupt mitgekommen zu sein. Wie gerne säße er jetzt zu Hause an seinem PC und tüftelte an kniffligen Fragen zur Entwicklung eines neuen Computerspiels.

Die Gespräche waren mit einem Schlag verstummt, als die Gesellschaft die beiden Neuankömmlinge bemerkte. Nur Hanna, Sabines jüngere Schwester, war aufgesprungen und eilte den beiden entgegen.

Na, wenigstens eine, die ich kenne, dachte Raster erfreut.

»Keine Sorge«, flüsterte Hanna ihm während der Begrüßungsumarmung ins Ohr, »die sind alle nur schrecklich neugierig, wen Sabine da mitgebracht hat. Alles ganz harmlos.«

»Ihr Lieben!«, hob in diesem Moment das Geburtstagskind an. »Sabine kennt ihr ja alle. Und das ist ihr Freund, Hans Schulz, aufgrund dieser unübersehbaren Haarpracht von allen nur Raster genannt. Nehmt ihn herzlich in eurer Mitte auf, denn wer meine Sabine glücklich macht, der gehört wahrlich zu uns.«

Applaus brandete auf, und spätestens in diesem Moment sehnte sich Raster nach irgendeiner Art Zeitmaschine, die ihn von hier wegbrächte.

»Komm, wir setzen uns. Dann erzähl ich dir, wer wer ist. Oma ist manchmal ein wenig pathetisch. Nimm es ihr nicht übel. Und die Leute da sind fast alle richtig nett.«

Nachdem sie die obligatorische Begrüßungsrunde vollzogen hatten, setzten sie sich auf zwei leere Stühle, die Gott sei Dank nebeneinanderstanden, wie Raster immer noch leicht nervös bemerkte. Sofort steuerte eine junge Frau mit weißer Schürze auf sie zu, die er vorher gar nicht wahrgenommen hatte. »Darf ich Ihnen Kaffee einschenken?«, fragte sie, eine Porzellankanne in der Hand haltend.

Beide ließen sich gerne bedienen und genossen schon bald den selbstgemachten Apfelkuchen, der Sabine ein ums andere Mal zum Schwärmen brachte. Nach den ersten Bissen hielt sie inne und legte ihre Gabel auf den Teller. »Also fangen wir mal an. Rechts von dir, die beiden Mädchen, müsstest du ja eigentlich kennen.«

Raster nickte. Klarissa, Hannas Tochter, und Lydia, ein Pflegekind von Hanna, das von seiner Mutter verstoßen wurde und dessen Vater im Gefängnis saß. Woran Raster, Philo und Sabine nicht gerade unbeteiligt waren. Beide standen am Anfang der Pubertät. Lydia hatte das Downsyndrom, machte aber in der Schule gute Fortschritte und war mit Klarissa ein Herz und eine Seele. Sie freuten sich riesig auf die Pferde, und die Urgroßmutter hatte ihnen für den Spätnachmittag einen kleinen Reitausflug versprochen, wie Klarissa Raster stolz berichtete.

»Dahinter kommen Hanna und ihr Freund Klaus. Den kennst du, glaube ich, noch nicht?«

Raster schüttelte den Kopf.

»Ist ein richtig Netter. Kommt super gut mit den Mädchen klar und wohnt wie Hanna auch in Herne. Ich wette, die ziehen bald zusammen. So, weiter im Text: Links von mir sitzen zwei befreundete Paare aus dem Dorf. Ich habe die früher zwar öfter hier gesehen, aber frag mich nicht nach den Namen. Uns gegenüber fangen wir mal ganz rechts an. Da ist zunächst Tante Frieda, Omas älteste Tochter. Sie ist schon lange verwitwet. Links neben ihr sitzt ihre Tochter Barbara, also meine Cousine.«

»Moment mal. Nicht so schnell«, fuhr Raster dazwischen. »Wie viele Kinder hat denn deine Oma?«

»Drei«, antwortete Sabine, »Frieda, mein Vater und Günter Funda. Der sitzt neben Barbara, mit seiner Frau Helga und dem Sohn Gernot. Die Fundas wohnen in Münster und Gernot in der Nähe von Dülmen.«

»Was macht der denn beruflich? Er sieht ein wenig ungepflegt aus, so ein bisschen wie ich früher.«

Sabine lachte. »Das kann schon hinkommen. Er ist arbeitslos und schlägt sich, soweit ich das mitbekommen habe, mit Gelegenheitsjobs durch. Ehrlich gesagt mag ich ihn nicht besonders. Aber wir hatten nie engeren Kontakt. Wenn ich mir das recht überlege, eigentlich keiner von uns. Weder meine vier Geschwister noch Barbara. Aber egal. Die Nächsten sind mein Bruder Ralf – den kennst du von meinem 40. Geburtstag – mit seiner Frau Sarah und dem Sohn Max. Und dann sind da noch mein Bruder Christoph mit Freundin Claudia. Ah, und da kommen die Ehrengäste.«

Oma Lina war aufgestanden und eilte einem Paar entgegen, das von einer weiteren Angestellten in den Garten geführt wurde. Dahinter folgte in gebührendem Abstand, dem Talar zufolge, der Pfarrer des Dorfes.

»Das ist der Bürgermeister von Brechten Hans Fleischhauer nebst Gattin Petra und Pfarrer Hilgenstock«, erklärte Sabine.

»Was hat denn der Bürgermeister um den Hals hängen?«, fragte Raster erstaunt, der eine solch breite und opulente Kette, geschweige denn bei einem Mann, noch nie gesehen hatte.

»Das ist die Amtskette, du Ignorant«, meinte Sabine. »Wird bei allen hohen Anlässen vom Bürgermeister getragen. Also auch beim 90. Geburtstag einer hochgestellten Persönlichkeit.«

»Wieso ist deine Großmutter eine hochgestellte Persönlichkeit? Okay, sie hat offensichtlich Vermögen, aber das heißt ja nicht automatisch, dass sie etwas Besonderes im politischen Sinne darstellt.«

Ein Schatten huschte über Sabines Gesicht, und kurzzeitig war ihr Lachen verschwunden. »Ich erkläre dir das später«, meinte sie nur und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.

Raster war in Gedanken schon wieder ganz woanders und hatte die Veränderung im Gesicht seiner Freundin gar nicht mitbekommen. Er beobachtete interessiert die Küsschen links und rechts, die die Bürgermeistersgattin der Jubilarin auf die Wangen drückte. Gut, dass endlich jemand anderes im Mittelpunkt steht, dachte er erleichtert.

4. Kapitel

Brighton, Südengland, April 2017

Paul beobachtete verstohlen seine drei Kumpel. Dies war eine äußerst gefährliche Zeit. Er wusste, dass von diversen Brüchen vorher. Wenn alles, wie in diesem Fall, so glatt lief, verbreitete sich schnell eine Art Euphorie in der Truppe, die zu Fehlern führen konnte. Mit verheerenden Folgen für alle.

Keith und Simon wirkten noch einigermaßen überlegen, während sie angefangen hatten, das Diebesgut aus den großen Sporttaschen zu sortieren. Aber auch sie kamen aus dem breiten Grinsen nicht mehr heraus. Ethan allerdings wirkte übermütig und fahrig. Entgegen seiner sonst so stillen Art juchzte er jedes Mal wie ein kleiner Junge auf, wenn er ein Stück aus seiner Tasche klaubte. Außerdem ging er nicht gerade sorgsam mit den Dingen um. Paul musste ihn im Auge behalten.

Im Wohnzimmer der Wohnung hatte sich ein saurer Schweißgeruch in die klamme Kälte gemischt. Ein solcher Überfall war immer mit Stress verbunden, und das merkte man deutlich. Aber es war perfekt gelaufen. Vonseiten der Bankangestellten hatte es kaum Widerstand gegeben. Die drei Notfallknöpfe hatten sie innerhalb weniger Sekunden entdeckt und dafür gesorgt, dass sich keiner in ihrer Nähe aufhielt. Der Filialleiter hatte ohne Zögern die schwere Tür zu dem Raum mit den Schließfächern geöffnet, woraufhin alles sehr schnell gegangen war. Die Spezialwerkzeuge taten, was sie sollten, und innerhalb von wenigen Minuten waren sämtliche Fächer geleert, in denen sie vermeintlich Wertvolles gefunden hatten. Auch der Rückzug war schon fast zu glatt gegangen. Eine Warnung an die Angestellten hatte ausgereicht, ihnen einen ausreichenden Vorsprung zu verschaffen. Keine Sirene ertönte, und so waren sie ohne Hast in ihrer Wohnung in Brighton angekommen. Der kleine Umweg über einen befreundeten Schrotthändler, wo sie den Zweitwagen geparkt hatten, hatte sie gerade einmal 15 Minuten gekostet. Das Tatfahrzeug war sicherlich längst zusammen mit den Spezialwerkzeugen zu einem koffergroßen Metallblock zusammengepresst worden.

Auf den ersten Blick sah die Beute vielversprechend aus. Pauls Einschätzung über den Inhalt der Schließfächer schien ein Volltreffer zu sein. Er konnte Dutzende Colliers, Armreifen, Ketten und andere Schmuckgegenstände ausmachen. Dazu kamen antik aussehende Kästchen, Reiseaccessoires und diverse Papiere wie Schuldverschreibungen, Wertpapiere und Dokumente, die er zu einem späteren Zeitpunkt sichten wollte. Dies konnte sich zu seinem bisher größten Coup entwickeln, dachte Paul. Wenn seine Truppe sich in den nächsten Wochen zusammenriss, und wenn der Verkauf über diverse Hehler wie geplant über die Bühne ging.

»Also, Leute. Erst mal: super Arbeit. Ich denke, wir können stolz auf uns sein. Mit ein bisschen Glück könnten wir für einige Zeit ausgesorgt haben. Aber«, Paul verschärfte seinen Tonfall, »das funktioniert nur, wenn wir uns exakt daran halten, was wir vorher besprochen haben. Ist das allen klar?«

Allgemeines Kopfnicken unterbrach kurz das Grinsen und Händereiben.

»Das heißt: Jeder begibt sich an seinen vereinbarten Ort. Wir verteilen uns und halten die Füße still. Ihr bleibt während der ganzen Zeit getrennt. Achtet darauf, dass ihr nicht zu viel trinkt. Ihr wisst, was dann passieren kann!«

»Paul. Jetzt lass doch nicht dermaßen den Schulmeister raushängen! Wir wissen Bescheid. Aber ein bisschen Feiern ist ja wohl erlaubt, oder?«, maulte Simon.

»Ihr wisst selbst ganz genau, was ich meine, Leute. Wenn einem von euch was rausrutscht, sind wir alle dran, und die ganze Arbeit war für die Katz. Und noch etwas: Es wird die Zeit kommen, dass ihr ungeduldig werdet. Ich weiß das. In zwei oder drei Wochen werdet ihr denken: Wo bleibt denn nur der alte Paul mit dem Schotter? Hat der sich etwa aus dem Staub gemacht? Und dann passieren Fehler. Glaubt mir, ich hab es selbst schon erlebt. Ihr müsst mir vertrauen. Anders funktioniert das nicht. Und es kann dauern. Einen solchen Haufen vernünftig zu verkaufen, geht nicht innerhalb von ein bis zwei Wochen.«

Ethan rutschte auf der Sessellehne herum, auf der er Platz genommen hatte. Seine Augen glitten unstet hin und her. »Aber du meldest dich ganz bestimmt bei uns, Paul?«

»Ich verspreche es.«

Die Vier beglückwünschten sich noch einmal zu ihrem gelungenen Coup, zogen ihre Jacken an, schnappten sich ihre privaten Taschen und verließen nach sehr unterschiedlichen Verabschiedungen jeweils im Abstand von einer halben Stunde die Wohnung. Die Euphorie war verflogen. Eine gewisse Ängstlichkeit und auch etwas Misstrauen ihm gegenüber hatte sich stattdessen breitgemacht. Paul spürte das deutlich. Aber anders ging es nun mal nicht.

Allein in der Wohnung machte er sich daran, eine erste grobe Kalkulation vorzunehmen. Er hatte genug Erfahrung, um bei den meisten Gegenständen den Wert in etwa einzuschätzen und den Hehleranteil abzuziehen. Nach gut zwei Stunden erhob er sich, strich sich über die Haare und pfiff lächelnd durch die Zähne. Grob kam er auf einen Reingewinn von 1.200.000 Pfund. Das wären dann 600.000 für ihn. Nicht schlecht. Aber zunächst einmal standen ihm anstrengende Wochen bevor.

Sein Blick fiel auf einen Briefumschlag, den er bisher übersehen hatte. Er sah alt und vergilbt aus. Das Format war ungewöhnlich und heutzutage sicher nicht mehr üblich. Der Umschlag war geöffnet, die Lasche nur wieder eingesteckt. Paul öffnete ihn vorsichtig und zog ein ebenfalls gelbes und fleckiges Stück Papier heraus. Der untere Rand schien abgerissen zu sein. Eine Seite war handschriftlich beschrieben, die Tinte gut erhalten. Aber entziffern konnte Paul zunächst nichts. Diese Schrift hatte er noch nie gesehen. Wort für Wort versuchte er, irgendetwas zu entschlüsseln, bis er schließlich drei Buchstaben fand, die mit ein wenig Fantasie das deutsche Wort »das« bedeuten konnten. Zumindest das »a« war ziemlich eindeutig, das »s« sah allerdings wie eine »1« aus. Paul war neugierig geworden. Ein alter deutscher Brief in einem englischen Schließfach? Er nahm sich vor, Nathan, dessen Familie aus Deutschland stammte, danach zu fragen.

5. Kapitel

Münster, Februar 1944

Alfred von Strelitz war auf dem Weg nach Hause. Er hätte, wie üblich, seinen Chauffeur bitten können, ihn zu fahren, aber er musste nachdenken. Außerdem war das Wetter an diesem späten Februartag so schön, dass er Lust auf einen Spaziergang verspürte. Er hatte seine Dienststelle in der Bismarckallee 5 verlassen und war in östlicher Richtung aufgebrochen. Eine knappe Stunde würde er schon brauchen, bis er seine Wohnung in der Diepenbrockstraße erreichen würde. Zumal er einen kleinen Umweg über den Bahnhof eingeplant hatte, um mit seinem Mitarbeiter, Untersturmbannführer Keller, den morgigen Tag durchzusprechen. Sie erwarteten nach langer Zeit mal wieder eine Lieferung aus dem Osten.

Von Strelitz war seines Zeichens Sturmbannführer bei der Allgemeinen Schutzstaffel, kurz SS genannt. Mit seinen 51 Jahren stand er noch sehr weit unten auf einer möglichen Karriereleiter, aber das war ihm eigentlich auch recht so. Ihm fehlte es sowohl an Ehrgeiz als auch an der für höhere Posten erforderlichen politischen Einstellung. Die Partei war ihm egal. Natürlich hatte er damals eintreten müssen, als man ihm diesen Posten angeboten hatte, aber er beschäftigte sich kaum mit parteiinternen Inhalten, und der große Krieg interessierte ihn nur insofern, als dass er hoffte, ihn zu überleben, und dass Deutschland möglichst bald den verdienten Sieg einfuhr. Er genoss das Privileg, in seiner Heimatstadt Münster arbeiten zu können, und ließ sich gerne von seiner Frau Ruth bekochen, was seinem Leibesumfang deutlich anzusehen war. Außerdem verbrachte er viel Zeit mit seiner 14-jährigen Tochter Lina, die für ihn trotz der fortgeschrittenen Pubertät sein kleines Mädchen blieb.

Nachdenken musste er, weil ihm eine Sekretärin in der Gauverwaltung gerade einen Brief überreicht hatte, den er überhaupt nicht erwartet hatte.

»Herr Sturmbannführer, ich habe hier ein Schreiben aus England für Sie«, hatte sie ihm diskret zugeflüstert. »Sie wissen, dass das ein eher ungewöhnlicher Vorgang ist, den ich eigentlich melden müsste. Die Poststelle hat ihn natürlich sofort geöffnet und den Inhalt überprüft. Aber es scheint sich nur um familiäre Angelegenheiten zu handeln. Seien Sie trotzdem ein wenig vorsichtig!«

Er mochte diese Belinda. Sie war stets umsichtig und bemüht, Aufsehen zu vermeiden.

Alfred wusste genau, von wem der Brief kam, und dass die Poststelle ihn gelesen hatte, machte ihm keine Sorgen. Aber trotzdem hatte er gerade heute, nach sechs Jahren, nicht damit gerechnet. Was konnte das bedeuten? Gutes eigentlich nicht. Natürlich waren die Zeiten unsicherer geworden. Schon seit drei Jahren fielen immer wieder Bomben auf die Stadt, aber dem Endsieg in absehbarer Zeit stand doch wohl nichts entgegen? Seine Gedanken wanderten 29 Jahre zurück, nach …

*

Ypern, Belgien, April 1915

So wie zigtausend andere hatte sich Alfred mit seinen 21 Jahren im Sommer 1914 begeistert für den Kriegsdienst gemeldet. Schließlich musste man den befreundeten Österreichern helfen, und dass der Russe den Serben zur Seite sprang, sollte ihn teuer zu stehen kommen. Wenn dann auch noch die westlichen Nachbarn, Belgien, Frankreich und sogar England und Kanada, sich gegen das Kaiserreich formierten, musste eben aus allen Rohren geschossen werden. Es hatte ihn an die Westfront nach Flandern verschlagen.

Längst war die Anfangseuphorie verflogen, zu viele Kameraden hatten ihr Leben verloren. Den Tränengasangriff der Franzosen hatte er mithilfe feuchter Tücher vor dem Gesicht überstanden und war nicht, wie einige seiner Mitstreiter, panisch aus den Gräben gesprungen, um dann brutal abgeschossen zu werden. Der französische Giftgasangriff war für die Deutschen eine wunderbare Begründung dafür, ihrerseits einen deutlich gefährlicheren Stoff, nämlich Chlorgas, einzusetzen. Alfred war das recht. Er wollte einfach nur weg hier. Von seiner Position aus konnte er beobachten, wie einige höhergestellte Kameraden Stahlflaschen mit dem Gas vorbereiteten. Es war mucksmäuschenstill. Der Gegner ahnte wohl, dass etwas bevorstand, und die deutschen Soldaten warteten gespannt auf die Wirkung der tödlichen Substanz. Die üblichen Feuergefechte waren jedenfalls eingestellt worden. Plötzlich sah man eine riesige gelblichweiße Gaswolke in Richtung der gegnerischen Gräben ziehen. In dem Moment, als sie den Feind erreichte, erschollen grauenhafte Schreie aus tausenden Kehlen. Männer stürzten aus den zur Falle gewordenen Gräben, in denen sich das Gas sammelte, rissen die Arme hoch, griffen sich an die Kehle und brachen zusammen. Ein grausiges Sterben hatte begonnen. Für Alfred und viele andere war jedoch dieser Moment wie Balsam für die geschundene Seele. Aber unerfahren und dumm, wie er war, blieb er nicht im Schutz des eigenen Grabens, sondern sprang mit einem Siegesgeheul heraus und feuerte mit dem Gewehr in die Luft. Die Befehle seines Hauptmanns, sofort zurückzukehren, hörte er nicht oder wollte er nicht hören. Für Alfred war der Krieg in diesem Augenblick vorbei, und das galt es zu feiern. Plötzlich nahm er vor sich Bewegungen wahr: Männer, die sich ihm in der einsetzenden Dämmerung mit dem Gewehr im Anschlag näherten. In diesem Augenblick passierten zwei Dinge: Ein weiterer Mann sprang auf ihn zu, brüllte: »Get down, immediately!«, und riss ihn von den Füßen. Gleichzeitig fielen zwei Schüsse, und Alfred verspürte einen fürchterlichen Schmerz in der linken Schulter. Einen Moment blieb er benommen liegen, nur undeutlich war ihm klar, dass der Engländer noch immer auf ihm lag. In der schnell einsetzenden Dunkelheit wurden beide in den englischen Graben gezogen und notversorgt. Sein Retter hatte eine Kugel ins Bein bekommen. Sie konnten gerade noch ihre Namen austauschen, dann wurden sie auch schon getrennt. Alfred kam in Kriegsgefangenschaft, sein Lebensretter, ein junger Soldat namens William Danning aus York, wurde vor Gericht gestellt und wegen »Feindsbegünstigung« zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

Von Strelitz hatte sich mittlerweile auf eine Bank vor dem Münsteraner Hauptbahnhof gesetzt. Er schwitzte leicht trotz der noch winterlichen Temperaturen und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, um sich das Gesicht trocken zu wischen. Außerdem spannte seine Uniform. Vielleicht war es doch nicht eine so gute Idee gewesen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er beobachtete ein paar Frauen, die über die Straße eilten. Die meisten waren einfach gekleidet, nur wenige hatten einen Hut auf. In der Hand trugen sie einen Korb mit den wichtigsten Dingen zum Überleben. Fast alle mussten den Gürtel zurzeit enger schnallen. Das ist so in Kriegszeiten, dachte Alfred. Die Frauen bewegten sich im Laufschritt. Man wusste von der Gefahr eines erneuten Bombenangriffs. Aber noch waren die Sirenen intakt. Die Warnung würde früh genug überall in der Stadt zu hören sein. Ein paar wenige Lkws brummten vorbei und hinterließen ihre stinkende Abgaswolke.

Inzwischen waren auch einige Dienstwagen der SS vorbeigefahren, und die ihm bekannten Offiziere hatten ungläubig geschaut, dass er da so alleine vor dem Bahnhof auf einer Bank saß. Er meinte, bei manchen ein spöttisches Lachen bemerkt zu haben. Ihn interessierte das nicht.

Bis heute war ihm schleierhaft, warum William ihm damals das Leben gerettet hatte. Oft hatten sie in den 20er-Jahren bei diversen Besuchen darüber diskutiert, aber verstanden hatte Alfred es trotzdem nicht. Diese Art der Selbstlosigkeit war ihm zutiefst fremd. Sie waren Freunde geworden. Einmal, weil sie dieses einschneidende Erlebnis in Belgien verband, aber auch, weil sie eine gemeinsame Leidenschaft pflegten: Beide hatten nach dem Krieg Kunstgeschichte studiert. Keiner von ihnen hatte ein besonderes Talent für eigene Gemälde, aber beide liebten die Bilder der Renaissance und der Impressionisten.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
273 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839268124
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