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1. JUNI 1939
IN DEN KALMEN
DIE NACHT DER VERGELTUNG

Tag um Tag verging, und wir glitten im Passatwind dahin. Es war eine angenehme, eine leichte Zeit für die Besatzung, denn keine unerwarteten Segelmanöver unterbrachen die Routine im Tagesablauf. Trotzdem mangelte es nicht an Arbeit. Zum Alltag an Bord eines Großseglers gehört, das Schiff in gutem Zustand zu halten. Eine Viermastbark ist eine Art segelnde Großbaustelle. Es gibt immer etwas zu tun. Wir besserten kleinere Schäden in der Takelage aus und halfen dem Segelmacher, das Segel an Deck auszubreiten und verschlissene Stellen zu ersetzen, tauschten Taue aus und spleißten Drähte neu. Der Zimmermann und ein ihm zugeteilter Junge besserten die Decksnähte aus, die Rillen zwischen den Planken, indem sie Hanf hineinschlugen und mit Teer ausgossen. Kalfatern nennt man diese Arbeit. Der übergelaufene Teer musste mühsam abgekratzt werden – aber mit der Pflege des Decks kannten wir uns ohnehin aus. Schrubben gehörte zur täglichen Routine wie Zähneputzen.

In den warmen Passatnächten war es sogar erlaubt, auf den Luken zu schlafen. Als Kopfkissen nahm ich eine zusammengerollte Jacke oder ein Stück Holz. Ich fand nur schwer in den Schlaf, weil ich in diesen fantastischen Himmel sehen musste, in diesen Ozean aus Sternen.

In einer Nacht ging es weniger romantisch zu. Einer der Matrosen, der besonders berüchtigt für seine Schindereien war, hatte sich auf Luke IV gelegt und schlief tief. Sein Schnarchen war von weitem zu hören. Das war die Gelegenheit, auf die wir gewartet hatten! Kein Offizier war in der Nähe, kein anderer Matrose. Der Moment unserer Rache war gekommen.

»Los jetzt!«, wisperte einer der Jungs. Wir waren sechs.

Lautlos schlichen wir an unseren Peiniger heran und umwickelten seine Arme und Beine mit einem dünnen Tau. Wir fesselten seine Hände an das Gangspill auf dem Achterdeck und die Füße an die Reservespiere an Deck. Dann hievten wir das Tau mit dem Gangspill, bis sein Körper in der Luft hing.

Der Matrose wurde wach, erschrak und rief um Hilfe: »Ihr verdammten Halunken, lasst mich sofort runter!« Wir ließen ihn hängen. Bis ihn jemand fand und losmachte, vergingen mehrere Minuten. Er konnte darüber nachdenken, ob er uns wieder schlagen wollte oder wo wir ihn beim nächsten Mal hinhängen würden. Wie wir später feststellten, verstand er unsere Warnung. Dieser Matrose schikanierte uns nicht mehr.

»NIEMEYER’S SHAG«

Rauchen gehörte zu den wenigen Genüssen, die einem an Bord blieben. Mit wenigen Ausnahmen rauchten alle an Bord. Jeder freute sich auf die »Smoketime«, wie wir die Minuten der Entspannung nannten, unser kleiner Frieden. Es ging weniger um den Geschmack des Krauts, ein streng riechender Feinschnitt namens »Niemeyer’s Shag«, den wir zu Zigaretten drehten, als vielmehr um das Ritual. Es existiert ein Foto, aufgenommen während eines Wachwechsels in Chile, auf dem eine Gruppe Jungmänner und Matrosen zu sehen ist. Die eine Hälfte der Gruppe ist in eine Rauchwolke eingehüllt, die andere gerade damit beschäftigt, sich die nächste Zigarette zu drehen. Absolute Tabuzone auf der Priwall und auch auf anderen Segelschiffen war das Hochdeck, eine heilige Zone. Es käme auch niemand auf die Idee, sich am Hochaltar im Kölner Dom eine Zigarette anzustecken.

KLABAUTERMÄNNER

Je weiter südlich die Priwall segelte, desto böiger und unberechenbarer wurde der Wind. Wir näherten uns den Mallungen, dem Trennungsgebiet zwischen den Passaten, das wegen der drückenden Hitze und der Windstille von Segelschiffsbesatzungen gefürchtet wurde. Weil die Spanier früher dort ihre verendeten Pferde über Bord warfen, nennt man dieses Seegebiet auch »Rossbreiten«.

Eine schwere Schwüle legte sich bald auf die Priwall und lähmte das Leben an Bord. Das Meer wirkte wie aus Blei gegossen. Kein Windhauch war zu spüren. In der Takelage klapperte es, weil die Segel nicht unter Spannung standen. Drähte und Taue schlugen, wenn das Schiff sich leicht bewegte, gegen die Rahen aus Stahl. Ein deprimierendes Geräusch.

Wer auf dem Hochdeck zu tun hatte, tat gut daran, Kapitän Hauth aus dem Weg zu gehen. Seine Laune war miserabel, denn er sorgte sich um die Geschwindigkeit auf unserer Reise. Die Schoten der Untersegel waren aufgegeit, um jeden noch so leichten Windhauch einfangen zu können. Ständig einsatzbereit sein zu müssen in der trägen, heißen Schwüle, strapazierte unsere Nerven zusätzlich.

Manche Schiffe, so wussten wir, waren für lange Zeit in den Mallungen gefangen. Einigen Besatzungen wurde die Flaute zum Verhängnis, erzählten die älteren Matrosen. Ob es Seemannsgarn war? Seeleute waren angeblich qualvoll auf dem Meer verhungert, weil kein Wind einsetzte und die Vorräte wegen der längeren Reisezeit aufgebraucht waren. Wir nutzten die Regengüsse, die heftig auf uns niedergingen, als habe man den Hahn einer Dusche voll aufgedreht, um die Frischwassertanks der Priwall aufzufüllen. Alle Deckabflüsse wurden verstopft und sämtliche Pützen und Balgen auf Deck gestellt. Immerhin konnten wir unsere Kleidung endlich wieder gründlich waschen. Als ein wenig Wind aufkam, wuchs bei uns Jungen aus einem anderen Grund die Sorge. Der Äquator kam näher – und damit auch die Äquatortaufe. Ein berüchtigter Brauch: Während der Zeremonie sollen die Seeleute symbolisch vom Schmutz der Nordhalbkugel gereinigt werden, auf eine Art, die wir nicht mehr vergessen würden. Wovon die älteren Matrosen berichteten, klang wirklich beängstigend: Torturen erwarteten uns. Außerdem fragten wir uns, welches Spiel wohl der sadistische Offizier treiben würde. Und was hatten die brutalen Matrosen vor? Würde es uns der Schläfer von Luke IV, den wir wie ein Kalb aufgehängt hatten, doch noch heimzahlen? Zur Beruhigung blieb nur der Gedanke, dass der Kapitän während der Tauffeierlichkeiten anwesend sein und bestimmt einschreiten würde, wenn es zu brutal zuginge. Schließlich hatte man uns ja gepredigt, dass die Priwall jedes Besatzungsmitglied benötigte, um in den Stürmen vor Kap Hoorn zu bestehen.

Bereits am Vorabend der eigentlichen Taufe wurden wir in unserem Logis von einigen »Herolden« aufgesucht, die den Besuch des Meeresgottes Neptun ankündigten. Damit sich ihre Botschaft besser einprägte, hatten die verkleideten Matrosen Tampen mitgebracht, mit denen sie beherzt zuschlugen. Der Abend endete mit einer Art Spießrutenlauf. Es gab die ersten blauen Flecken, und einige Schiffsjungen wurden besonders brutal geprügelt.

Am nächsten Morgen wussten wir, warum wir den Schweinestall an Deck einige Tage nicht ausmisten sollten. Alle Täuflinge wurden in den stinkenden Verschlag gesperrt. Ich musste mich überwinden, dort hineinzukriechen. Übereinander lagen wir im Schweinedreck, zehn Mann auf vielleicht zweieinhalb Quadratmetern. Es galt, den Würgereiz zu unterdrücken. Und besser den Mund zu halten und sich nicht zu beschweren, denn keiner wusste, was noch folgen sollte.

»Neptun« erschien, mit einem Bart aus Kabelgarn und in Begleitung einer vollbusigen Thetis. Die Quälereien gingen in die nächste Runde. Wir mussten durch ein »Fernglas« blicken, das mit Salzwasser gefüllt war und uns fürchterlich in den Augen brannte. Wir wurden mit Farbe und mit Tran beschmiert. Wir bekamen einen Teerquast unter die Nase gerieben, bis wir uns vor Ekel übergaben. Neptuns »Arzt« verabreichte uns Tabletten, die aus Pfeffer, Petroleum und anderen unappetitlichen Zutaten bestanden. Man rasierte einigen das »Kreuz des Südens« in die Haare. Eine Äquatortaufe? Es war eher ein Fest für Sadisten.

Als es darum ging, die Täuflinge in einem Segeltuchbecken zu reinigen, übertrafen sich Neptuns Herolde erneut vor Diensteifer. Bis kurz vor dem Ertrinken tauchten sie uns unter. Zum Abschluss mussten wir durch einen Windsack kriechen, in den man von der anderen Seite einen Wasserstrahl hielt. Auch die Tampen kamen in bewährter Manier zum Einsatz. Dann hatten wir die »Taufe« überstanden.

Als wir abends in den Kojen lagen, fühlten wir uns erleichtert, weil wir den Tag überlebt hatten. Aber auch erniedrigt. Bis der Teer aus den Haaren gewaschen war, vergingen Tage. Auch in die betäubten Geschmacksnerven kam schließlich das Empfinden zurück. Bei der Qualität des Essens hätte das noch ein wenig länger dauern können, dachte ich, behielt die Überlegung aber für mich.

Ich habe später als Kapitän an Bord meiner Schiffe dafür gesorgt, dass das Ritual der Äquatortaufe eine eher humoristische Note bekam. Jeder Täufling wurde von Poseidon mit launigen Versen bedacht. Schläge, brutale Spielchen oder Teer in den Haaren habe ich an Bord meiner Schiffe niemals zugelassen.

ALBATROSSE

Zum Unterhaltungsprogramm an Bord gehörte es, Albatrosse zu fangen, die den Schiffen hinterherflogen, weil sie auf Abfälle lauerten. Wenn jene Albatrosse, die hinter der Priwall her waren, geahnt hätten, wie das Essen an Bord schmeckte, wären sie bestimmt schnell weitergeflappt. Um einen dieser imposanten Vögel zu fangen, die bis zu zwölf Kilo schwer werden und ihre Flügel dreieinhalb Meter weit ausbreiten, bauten wir eine Falle. Aus einer Konservendose schnitten wir ein dreieckiges Stück Blech, das wir an einem dünnen Draht aussetzten. Es dauert nicht lange, bis der erste neugierige Vogel in der Nähe landete, weil er das metallische Funkeln für einen Fisch hielt.

Albatrosse gleiten zwar elegant über den Himmel, landen aber mit größtmöglicher Tollpatschigkeit auf dem Wasser. Wenn sich das Blech im Schnabel des Vogels verhakt hatte, zog der Fänger zu und den Albatros an Deck. Auf manchen Schiffen watschelten ein Dutzend Albatrosse über die Planken. Fliehen konnten die Vögel nicht, weil sie zum Abheben einen langen Anlauf benötigen. Albatrosse sind so etwas wie die Jumbojets unter den Seevögeln.

An Bord eines rollenden und schaukelnden Schiffs wurden die Albatrosse seekrank und übergaben sich. Sie torkelten an Deck umher, was an Betrunkene auf dem Weg zur nächsten Kneipe erinnerte. Wir lachten und warfen sie zurück ins Meer. Auf anderen Seglern tötete man die Vögel, um aus ihren Schnäbeln Griffe für Spazierstöcke zu machen, ihr Rückrat für Schnitzereien zu verwenden oder aus ihren Schwimmhäuten Tabaksbeutel zu fertigen.

Ein Albatros, der eine Falle im Schnabel trägt, schmückt auch das Wappen der Kap-Hoorniers-Bruderschaft, die 1937 in St-Malo gegründet worden war. Viele Jahrzehnte nach unserer Reise errichtete man auf der Isla Hornos vor dem Kap, auf 55° 59' Süd und 67° 14' West, ein Denkmal zu Ehren aller Seeleute, die den Kampf gegen die Elemente verloren. Es zeigt die Silhouette eines am Himmel gleitenden Albatros. Auf dem Steinsockel liest man ein Gedicht der chilenischen Dichterin Sara Vial.

Ich bin der Albatros, der am Ende der Welt auf dich wartet.

Ich bin die vergessene Seele der toten Seeleute,

die Kap Hoorn ansteuerten von allen Meeren der Erde.

Aber sie sind nicht gestorben im Toben der Wellen.

Denn heute fliegen sie auf meinen Flügeln in die Ewigkeit.

12. JUNI 1939
OFFENER ATLANTIK
»CAP ARCONA«

»Ein Schiff! Ein Schiff!«

Wer die Hände frei hatte, lief auf die Backbordseite, um zu sehen, was der Ausguck von der Back ausgesungen hatte. Ein schwarzer Riese mit hohen, strahlend weißen Aufbauten glitt heran, der Luxusdampfer Cap Arcona, Flaggschiff der Hamburg-Südamerika-Linie. Ein Schiff mit Platz für mehr als 1500 Passagiere, für reiche Jetsetter und arme Auswanderer gleichermaßen, die auf der Route von Hamburg über Madeira nach Buenos Aires unterwegs waren. Für die Reise über den Atlantischen Ozean benötigte das Schiff lediglich 15 Tage.

Zweimal umrundete uns die Cap Arcona in kurzer Entfernung; Hunderte Schaulustige winkten uns von den Decks zu. Wir waren doch nicht ganz allein in der Weite des Atlantiks. Es muss eine der letzten regulären Reisen der Cap Arcona gewesen sein, deren Geschichte knapp sechs Jahre später, am 3. Mai 1945, ein entsetzliches Ende fand. Als schwimmendes Konzentrationslager sank sie nach einem britischen Luftangriff vor der Küste von Neustadt in Holstein. Mehr als 4500 Gefangene, Aufseher und Soldaten ertranken in der Ostsee.

Wir kamen immer weiter nach Süden. Die lauen Nächte der Tropen, in denen ich auf Deck die Sterne zählen konnte, waren bald nicht mehr als eine schöne Erinnerung. Es wurde kühler, es wurde windiger, und der Himmel färbte sich oft in bedrohliches, schweres Grau. Wir tauschten die leichten Passatsegel gegen die daumendicken, widerstandsfähigen Schwerwettersegel aus. Zusätzliche Taue wurden gespannt, an denen man sich festhalten konnte, wenn eine große Welle das Deck überspülte. Und »Leichennetze«, als eine letzte Sicherung davor, über Bord zu gehen.

STURMKAP

Je näher wir Kap Hoorn kamen, desto mehr verschlechterte sich das Wetter. Die Priwall kämpfte sich durch eine anthrazitgraue, von Schaumkronen bedeckte See unter einem bedrohlichen Himmel in der Farbe von Beton. Das Schiff legte sich schwer auf die Seite. Wir kreuzten gegen den Sturm, auf der mühsamen Route von Ost nach West um Kap Hoorn, die jeder Segelschiffmann fürchtet. Jede Seemeile, die wir vorankamen, mussten wir uns bitter erkämpfen.

Mitte Juli überquerten wir den 50. Breitengrad. Wir zogen das Ölzeug und die ledernen Seestiefel nur noch selten aus. Wer Wache hatte, konnte sich oft nur mit Mühe auf den Beinen halten, weil das Schiff schwer in der See rollte und gewaltige Brecher überkamen. Oft genug hielt man sich an den Tauen fest, spürte, wie die Wassermassen am Ölzeug rissen, und japste nach Luft. Der Kapitän stand im Sturm, wenn er es für erforderlich hielt, auf der dem Wind zugewandten Seite des Hochdecks, um rechtzeitig Böen oder Windwechsel zu sehen, die Segelmanöver erforderlich machten. Er wachte dort allein, unter seinem alten, bräunlichen Filzhut, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte.

An den Lärm des Sturms muss man sich erst gewöhnen. An sein Heulen und Pfeifen in allen Tonlagen, an sein Brüllen, an das Donnern der Brecher an Deck, an das Stöhnen und Jaulen, das einen am Tag und in der Nacht begleitet. Aber nach zwei Monaten auf See hat man Vertrauen zum Schiff und bekommt ein Verhältnis zum Sturm, als sei er ein lebendes Wesen.

Es war an einem Sonntagmorgen, an dem eine kalte Sonne am Himmel stand und fahles Licht über einer See aus milchigem Grau lag, als ich Steuerbord voraus die Staateninsel vor Kap Hoorn sah. Ich war gerade damit beschäftigt, den Kohlenvorrat der Kombüse aufzufüllen. Wie eine tief liegende Wolke sah das Eiland aus. Einer der Offiziere, der gerade vorbeikam, raunte mir zu: »Sie es dir genau an: Dahinten ist der Eingang zur Hölle.«

Der Kapitän hatte sich entschieden, wegen der schweren See und der unsicheren Wetterlage die Insel außen zu passieren, obwohl die Le-Maire-Straße für uns eine erhebliche Abkürzung bedeutet hätte. Es erschien ihm sicherer. Er war vorsichtig – und er behielt Recht mit der Wahl seiner Route. Schwere Stürme setzten uns zu. Eine Zeit der Entbehrungen begann, die – wenn ich sie im Rückblick betrachte – seltsam zeitlos erscheint. Wochen und Tage und Stunden verschmolzen. Die Zeit verklebte, sie verklumpte, weil sie überhaupt keine Bedeutung hatte in den Stürmen von Kap Hoorn. Man war auf den Augenblick konzentriert, man lebte nur noch im Jetzt und für den Moment, nur für den Augenblick und die nächsten Minuten, in denen man überleben wollte.

Man kämpfte gegen Schlafmangel. Gegen die Kälte. Gegen eine tiefe Erschöpfung. Gegen die Verzweiflung und gegen das Gefühl, dass die Pein kein Ende zu nehmen schien.

Wer auf den Rahen lag, frierend und völlig durchnässt, um die schlagenden Segel zu bergen, dem nahm der Sturm buchstäblich den Atem. Hagelschauer und Schneestürme gingen über uns nieder. Die Hagelkörner schmerzten im Gesicht wie kleine Nadelstiche. Die Fingerbeugen platzten vor Kälte und Anstrengung auf, und das Ölzeug scheuerte den Nacken blutig. Es kam vor, dass die Segel trotz des Einsatzes beider Wachen aus den Lieken geweht wurden und die Schotenketten wild um sich schlugen und Funken sprühten.

Jeder musste auf seine Weise mit den Umständen fertig werden. Jeder kämpfte seinen eigenen Kampf. Natürlich raunte man einem Kameraden etwas zu, wenn er nicht aus der Koje aufstehen mochte, wenn er verzweifelt zu sein schien: »Komm, das schaffen wir! Ist bald vorbei. Ist bald geschafft.« Aber die trüben, die grauen Gedanken konnte nur jeder für sich vertreiben. Man fluchte leise und grimmig vor sich hin. Ganz selten gestatteten wir uns eine »Smoketime«, dann ging es wieder zum Segelmanöver.

Im schweren Sturm wurde auch das Steuern auf dem Hochdeck zu harter Arbeit. Bis zu vier Mann schufteten an den beiden Rädern, jeweils anderthalb Meter im Durchmesser. Sie standen hintereinander und waren miteinander gekoppelt, um das Schiff nicht unbedingt auf Kurs, aber immer optimal am Wind zu halten. In ruhigem Wetter genügte ein Mann, die Priwall zu steuern, mit stetigem Blick in die Segel. Um nicht von einer überkommenden See weggewaschen zu werden, schnallte man sich mit Gurten aus Segeltuch an. Nach einer Stunde, wenn die Ablösung kam, brannten einem oft die Arme.

Es gab bald kaum noch einen Ort an Deck, an dem man hätte Kraft sammeln können. Im Logis schwappte Wasser, so kalt wie der Regen und das Meer, das durch den Niedergang oder das Oberlicht eingedrungen war. Schlaf? Nachtruhe? Nach wenigen Stunden, die sich anfühlten wie Minuten, erschallte schon wieder der Weckruf: »Reise! Reise!« Oft genug arbeitete man die Freiwache hindurch, weil die Segel geborgen werden mussten und an Deck und auf den Rahen jede Hand benötigt wurde. Manchmal kam man zwei Tage lang nicht in die Koje und erlebte Momente, in denen das Unterbewusstsein die Kontrolle über den Körper übernahm. Ich lernte, wie stark der Überlebenswille des Menschen ist.

Jeder, der einmal bis an den Rand der Ohnmacht müde war, weiß, dass dieser Zustand körperliche Schmerzen verursacht. Ich tappte und wankte nach dem Wecken durch die Kammer, versuchte mich zu orientieren in der schwankenden Welt, die in der See hin und her rollte. Ohne vollends bei Sinnen zu sein, mit einem Körper, der sich taub anfühlte, weil er steif gefroren schien vor Kälte.

Dann schwang die Stahltür zum Deck auf, und man stand wieder in diesem brüllenden, nassen, eisig kalten Inferno. Man versuchte, sich an einer Leine festzuhalten, wenn die nächste See kam und das Schiff sich stark auf die Seite legte. Man kletterte hinauf in die Rigg und nutzte die Stärke des Sturms, der einen gegen die Wanten drückte. Der Kampf gegen die schlagenden Segel ging wieder los. Nur kurze Kommandos wurden ausgetauscht, Rufe, mit denen man sich gegenseitig half. Das Brüllen des Sturms übertönte alles.

Der einzige Ort an Deck, an dem man vor dem Wind ein wenig Schutz fand, war das Kartenhaus auf dem Hochdeck. Dort stand meistens Kapitän Hauth, ein kräftig gebauter Mann, der den Kragen seines Mantels hochgeschlagen hatte. Hauth war ein ruhiger, ausgeglichener Kapitän mit dünnem Haar, knapp 40 Jahre alt, auf seiner erst vierten Reise als Kapitän um Kap Hoorn und doch schon eine Legende. Mit ihm auf der Brücke hatte die Priwall 1938 das Kap der Stürme so schnell wie kein anderes Segelschiff umrundet.

Die Seefahrer von heute können, bei aller Tüchtigkeit, kaum ermessen, was es bedeutete, Kap Hoorn unter Segeln zu bezwingen. Auch ein moderner Dampfer kämpft im Sturm mit der See, und es kann eine üble Prügelei werden, in der das Schiff zahllose Schläge einstecken muss. Aber ein moderner Frachter stampft voran, Meile um Meile. Ein Segelschiff musste die See ohne die Kraft eines Dieselmotors, ohne einen Computer und ohne Wettervorhersage bezwingen. Ein modernes Schiff befährt eine Schifffahrtsstraße. Ein Segelschiff fährt zur See. Die Routen mancher Kap-Hoorn-Umrundung sehen aus wie die Kinderzeichnung eines Gebirges: wilde Zickzacklinien. Drei Wochen lang wütete der Sturm vor Kap Hoorn, ohne Atem zu holen. Dann hatten wir es geschafft. Als wir den 50. Breitengrad Richtung Norden passierten, ließ der Wind nach. Man konnte die Erleichterung an Bord der Priwall spüren. Die Männer lächelten wieder, es wurde wieder geflachst. Die Zuversicht kehrte zurück. Wir hatten die gefährliche Passage überstanden, ohne jemanden aus der Mannschaft zu verlieren. Ohne dass jemand ernsthaft verletzt wurde. Aber wir waren am Ende unserer Kräfte, und »Schweinsbeulen« plagten uns. Schweinsbeulen nannten wir im Bordjargon Furunkel, die durch den vitaminarmen Dauerproviant und das ständige Scheuern des Ölzeugs am Nacken gewuchert waren. Sie behinderten einen beim Drehen des Kopfes und setzten uns auch seelisch zu.

Wir trugen unsere durchnässten Strohmatratzen aufs Poopdeck, wo wir sie zum Trocknen auslegten. Wir wuschen unsere Kleidung, die durch die Feuchtigkeit grünen Span angesetzt hatte. Wir lüfteten das ganze Schiff. Kein trockener Faden war mehr an Bord gewesen – nun flatterte die Kleidung in der frischen Brise, die den säuerlichen, fauligen Gestank vertrieb, den man überall in den Unterkünften roch.

Und wir konnten schlafen. Endlich schlafen. Es ist kaum zu beschreiben, wie herrlich erholt man sich nach dreieinhalb Stunden Ruhepause fühlen kann. Nach einigen Tagen, in denen wir wieder einigermaßen zu Kräften kamen, spürten wir eine Art Euphorie, vor allem wir Schiffsjungen. Wir hatten Kap Hoorn bezwungen, im Winter, auf der Route gegen den Sturm. Das Schlimmste lag hinter uns, der schwerste Teil der Reise war geschafft. Zurück ums Kap hatten wir den Wind von achtern in den Segeln. Alles, was nun kam, erschien wie eine Kleinigkeit.

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