Читать книгу: «VON ZEIT ZU ZEIT», страница 3

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3 – Wiederbegegnung

»Interessant. Sie sagen also, die ganze Welt um sie herum steht quasi still …«

»Kein vollkommener Stillstand. Nur extrem verlangsamt.«

»Also gut. Verlangsamt.«

»Ja, wie in Zeitlupe. Aber das habe ich doch alles schon zu erklären versucht.«

»Natürlich.« Doktor Wohlhausen nickte begütigend.

Er glaubte mir nicht. Oder vielmehr, er glaubte, ich hätte Wahnvorstellungen. Reine Zeitverschwendung. Aber ich musste es trotzdem versuchen.

»Hören Sie«, sagte ich. »Ich weiß, Sie halten das alles für einen seltsamen Traum, eine Wahnvorstellung …«

»Nein, nein!«, beeilte er sich, zu sagen. »Sehen Sie – Sie müssen zugeben, dass es nicht leicht ist …«

»Da haben Sie vollkommen recht«, unterbrach ich ihn. »Leicht ist es weiß Gott nicht. Und ich habe Angst, dass es wieder passiert.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte er, und blickte verstohlen an die Wanduhr hinter mir.

»Wenn es einmal passiert ist, kann es doch jederzeit wieder passieren, oder nicht?«

»Ja, im Prinzip schon …« musste Doktor Wohlhausen zögernd zugeben. »Erzählen Sie weiter.«

Jetzt war ich derjenige, der auf seine Armbanduhr blickte.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, wie es war, als ich an diesem Morgen aufgewacht war, in dieser abartigen Kälte mitten im Hochsommer …«

»Ja, sehr interessant. Hatten Sie dieses Gefühl vorher auch schon?«

»Nein«, sagte ich. »Darum geht es auch gar nicht. Es war einfach unterirdisch kalt. Im Juli. Ist doch nicht normal, oder?«

»Vermutlich nicht.«

»Haben Sie sich gefragt, wie das sein kann?«

»Erklären Sie’s mir«, antwortete Doktor Wohlhausen im routinierten Psychiaterduktus.

»Darüber habe ich lange nachgedacht«, sagte ich.

»Und – sind Sie zu einem Ergebnis gekommen?«

›Ja, bin ich. Nämlich, dass das Ganze hier keinen Zweck hat.‹ Aber das sagte ich ihm schon nicht mehr. Ich dankte ihm freundlich für das nette Gespräch, gab ihm die Hand und verabschiedete mich.

Es war eigentlich von vornherein klar, dass es sinnlos war, meine abartige Geschichte mit einem Psychologen zu besprechen. Aber ich wollte nichts unversucht lassen.

Tobias hielt zwar ebenso wenig wie ich von der Psychozunft, aber man könne es ja mal probieren, meinte er. »Wäre doch mal interessant zu erfahren, wie so ein Berufspsycho auf deine Geschichte reagiert.«

Die vorangegangene EEG-Aufzeichnung und eine Untersuchung mit dem Computertomografen hatten erwartungsgemäß keine Hinweise auf Wahrnehmungsstörungen oder den Verdacht auf einen bevorstehenden psychotischen Schub gebracht. Substanzinduzierte Psychose konnte ebenso ausgeschlossen werden wie neurologische Erkrankungen oder eine Infektion des Nervensystems. Nach allem, was die Ärzte feststellen konnten, war ich geistig und körperlich vollkommen gesund.

Dass ich überhaupt in den Genuss eines so umfangreichen Gesundheitschecks kam, hatte ich meinem Hausarzt zu verdanken, der sich sehr kooperativ verhielt. »Wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte er, als er mir bereitwillig den Überweisungsschein zum Neurologen ausgefüllt hatte.

Wirklich beruhigend war diese Diagnose allerdings nicht.

Mit der Zeit traten die Gedanken daran in den Hintergrund. Die Wintermonate dümpelten im gewohnten Trott dahin. Um diese Jahreszeit war ich ohnehin meist mit viel Arbeit eingedeckt. Zu schreiben hatte ich genug, in den Wochen vor Weihnachten jagte ein Kirchenkonzert das andere, und als treue Abonnenten erwarteten die Veranstalter auch einigermaßen sachkundige Presseresonanz.

Ende Mai bekam ich einen unerwarteten Anruf von Franziska, meiner Lieblingstante mütterlicherseits. Franziska mit ihrem polnischen Mann Pavel und ihrer Patchworkfamilie, zwei pubertierenden Jungs aus einer vorangegangenen Ehe. Trotz des Altersunterschieds verstanden wir uns prächtig. In den letzten Jahren waren wir uns immer mal wieder über den Weg gelaufen. Franziska fragte mich in ihrer spontanen Art, ob ich nicht Lust hätte, über Pfingsten mit ihr und ihrer Familie auf einen Fahrradtrip entlang des Doubs mitzufahren. So ganz nebenbei ließ sie noch fallen, dass Iris aus Frankfurt auch mit von der Partie wäre; sie hätte zwei Wochen Urlaub, nichts Konkretes gebucht und wollte bei dieser Gelegenheit mal wieder ein paar alte Kontakte erneuern.

Iris! Iris, meine Güte, was war ich in die verknallt gewesen. Iris, eine anmutige, grazile Gestalt, der lange Schwanenhals, die fein geschnittenen Züge, rabenschwarzes Haar und wunderbare braune Augen – kurz: eine seltene Schönheit, in die wir als Jungs alle mal verliebt gewesen waren. Und dieser unerfüllbare Jugendtraum wollte nun mit Franziska und mir auf Tour gehen. Und ob ich Lust darauf hatte – und ehrlicherweise auch ein wenig Bammel davor.

Das Unternehmen entwickelte sich allerdings gleich zu Anfang völlig anders als geplant. Einen Tag, bevor es losgehen sollte, geriet das bis dahin unzertrennliche Ehepaar plötzlich und außerordentlich heftig in einen unerwarteten Streit, mit dem Ergebnis, dass wir nun ohne Pavel loszogen, der es vorzog, das Wochenende zu Hause bei seinen Eltern in Polen zu verbringen.

Nun denn. Irgendwie war mir das gar nicht unrecht. So fiel mir als nun einzigem Mann der Truppe die Aufgabe zu, in der Großfamilie von zwei Frauen und zwei heranwachsenden Jungs Führer, Leitfigur und Pfadfinder zu spielen. Aber das eigentliche Familienoberhaupt blieb natürlich Franziska.

Wir trafen uns mit unseren Rädern und Ausrüstungen am Freiburger Hauptbahnhof. Iris hatte wegen ihres Fahrrads eine etwas umständliche Verbindung von Frankfurt nehmen müssen, und trudelte eine halbe Stunde später ein.

Ich erkannte sie sofort. Dieselbe zarte, mädchenhafte Figur und dieses umwerfende Lächeln. Die Haare trug sie nun kürzer, was sie seriöser, tougher erscheinen ließ.

Franziska und Iris fielen sich gleich um den Hals. Ich half Iris beim Aussteigen und schob das Rad auf den Bahnsteig. Ein wenig unbeholfen umarmten wir uns.

Eine halbe Stunde später saßen wir endlich vereint im Zug nach Mulhouse. Die Jungs konnten es nicht erwarten, endlich loszulegen. Leon prüfte ein ums andere Mal die Funktionstüchtigkeit seines Mountainbikes. Colin war mehr auf seine Mutter fixiert und fragte sie ständig irgendetwas. Franziska hingegen war mehr mit uns beschäftigt und ließ sich nur ungern stören. Schließlich wurde es Colin langweilig und er fand mehr Spaß darin, den großen Bruder zu ärgern. Franziska schien das gewohnt zu sein; solange keine ernsthaften Verletzungen drohten, sah sie keine Veranlassung, sich in die üblichen Kabbeleien der nicht gerade in brüderlicher Liebe verbundenen Geschwister einzumischen.

Nach einer Stunde Fahrt kamen wir in Mulhouse an und luden Fahrräder und Gepäck aus dem Regio-Express. Den Weg vom Bahnhof zum ausgeschilderten Fernradweg kannte Franziska schon von einer früheren Tour her, sodass wir zügig die Stadt verlassen konnten und auf ruhigen Radwegen vorankamen. Unsere Marschordnung sah meistens so aus: mit großem Abstand stets vorneweg Franziskas ältester Sohn Leon, der seine überschüssigen jugendlichen Kräfte austobte, indem er uns bei allen passenden und meistens unpassenden Gelegenheiten davonfuhr. Als zweite und eigentliche Spitze des Trosses folgte dann ich, immerzu den Weg und die Abzweigungen im Auge behaltend; und wiederum mit einigem Abstand Iris und Franziska, mit Colin, dem Jüngsten, in der Mitte.

Trotz einiger Unstimmigkeiten zum Streckenverlauf kamen wir auf den Feldwegen gut voran. Von Zeit zu Zeit fuhren wir auf schmalen, lauschigen Wegen, die direkt am Flussufer entlangführten. Diese besseren Wanderwege hatten allerdings den Nachteil, dass sie sich nach einiger Zeit zunehmend verjüngten, Schlaglöcher und Bewuchs aufwiesen und schließlich von den sie umgebenden Wiesen und Feldern überhaupt nicht mehr zu unterscheiden waren. Es war ein Bild für sich, zu sehen, wie Colin, der Kleinste von allen, sich tapfer seinen Weg durch das mannshohe Gras bahnte, das links und rechts über seine Gestalt hinausragte. Immer wieder bot der Streckenverlauf atemberaubend schöne Ausblicke auf die Landschaft.

So anheimelnd der Weg auch war, ich hatte dennoch zunehmend mit Beklemmungen zu kämpfen. Vielleicht war es keine so geglückte Idee, ausgerechnet an einem Fluss entlangzufahren. Der Anblick des träge dahinfließenden Doubs weckte immer wieder Erinnerungen an meine albtraumhaften Erlebnisse. An manchen Flussschleifen glitzerte das Wasser spiegelglatt, wie ein See in der Sonne, zum Ufer hin von Schilf und Dotterblumen umsäumt. Plötzlich legte sich wie ein Schatten ein lähmendes Gefühl des Ausgeliefertseins und bohrender Angst auf mich.

Ich schüttelte die Erinnerungen ab und blinzelte in die Sonne, spürte beruhigend den Wind, der über mich strich.

Iris musste etwas gespürt haben. Sie schloss zu mir auf: »Du bist so still …«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. »Es ist nichts«, sagte ich. »Bloß ein bisschen maulfaul.«

Sie fuhr noch ein Weilchen schweigend neben mir her und ließ sich dann wieder zu Franziska und Colin zurückfallen.

Der Doubs floss in der Mittagshitze gemächlich dahin. Auf einer Sandbank lauerte reglos wie in Stein gemeißelt ein Reiher, die Augen starr auf die Strömung gerichtet. Im Schilf tummelte sich eine Entenfamilie. Die kleinen Entchen paddelten unermüdlich hinter ihrer Mutter her, eifrig darum bemüht, den Anschluss nicht zu verpassen.

Iris war nicht nur wegen Franziska mit auf die Tour gegangen, so viel war mir klar. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie es wissen wollte. Und zwar von mir. Was mich zwar ziemlich nervös machte, aber wenigstens auf andere Gedanken brachte. Also tief durchgeatmet und hinein ins pralle Leben. Leichter gesagt als getan.

Trotz meiner zeitweiligen Zurückhaltung fanden wir peu à peu öfter mal Gelegenheit, nicht nur die rein räumliche Nähe des anderen zu suchen, aber der Funke wollte nicht so richtig überspringen.

Doch noch war nicht aller Tage Abend. Noch nicht einmal der des ersten Tages, um genau zu sein. Noch schien alles möglich.

Den Campingplatz hatten wir eher zufällig entdeckt, ein kleiner Familienbetrieb mit ein paar unparzellierten Plätzen direkt an einem Nebenarm des Doubs, inmitten einer sanften, locker bewaldeten Hügellandschaft. In der Rezeption gab es ein paar Lebensmittel zu kaufen, Wein, Würstchen und frisches Brot. Was wollten wir mehr?

Die Jungs hatten noch überschüssige Energie und tobten noch eine Weile herum. Die Abendsonne tauchte die Hügel und Wiesen in sanftes Licht. Nachdem die Zelte aufgebaut waren, fragte mich Iris, ob ich nicht Lust auf einen kleinen Spaziergang am Ufer hätte.

Über einen kleinen Trampelpfad gelangten wir an eine seichte Stelle an der Biegung des Doubs. Wir setzten uns auf einen Stein am Ufer. Die tief stehende Sonne blitzte golden flirrend durch das Blattwerk einer Weide und tauchte die langen Schatten in schimmerndes Licht.

Das wäre jetzt der richtige Moment gewesen, sanft ihre Hand zu ergreifen. Der Augenblick zog vorbei. Irgendwie lagen wohl einfach zu viele Erwartungen und Hoffnungen unausgesprochen zwischen uns.

Wir saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander und blickten in den Fluss. Schließlich nahm sich Iris ein Herz. »Was ist denn los? Dich bedrückt doch etwas.«

»Ach, nichts«, beeilte ich mich, zu versichern.

Sie blickte mich ernst an, sagte aber nichts.

»Es ist nur etwas ungewohnt. In letzter Zeit habe ich mich ziemlich zurückgezogen.«

»Willst du drüber sprechen?«, fragte sie.

Die Unterhaltung wurde mir zunehmend unangenehm. Was ich meinem besten Freund nicht zu sagen traute, konnte ich erst recht Iris nicht anvertrauen. Nicht, wenn ich mir meine Hoffnungen mit ihr nicht endgültig verbauen wollte.

»Ich weiß nicht, ich kann es nicht erklären.« Ich zuckte bedauernd mit den Achseln und blickte sie flehentlich an, nicht weiter nachzufragen. »Vielleicht ein andermal. Ich glaube, allmählich sollten wir wieder zurück.«

Der Abendschein ergoss sich über das Wasser und die grünen Hügel. Wie wir es zuvor besprochen hatten, sammelten wir auf dem Rückweg jeder noch ein Armvoll Feuerholz ein.

Franziska und die Jungs saßen auf ihren Isomatten vor den Zelten und hatten inzwischen schon ein kleines Lagerfeuer in Gang gesetzt. Unser Feuerholz kam gerade richtig.

Es wurde ein richtig gemütlicher Abend, mit Grillwürsten, Stockbrot über dem Feuer und einigen in Alufolie eingewickelten Kartoffeln. Den Wein tranken wir einfach aus der Flasche, an Gläser hatte keiner gedacht, wozu auch?

Allmählich senkte sich eine ruhige, fast schon tropische Nacht über das Land. Unermüdlich zirpten die Grillen. Mit dem schwindenden Licht kamen immer mehr Sterne heraus. Ich erkannte das Sternbild des Schützen. Jupiter leuchtete hell im Westen.

Wir plauderten noch eine Weile, bis wir allmählich müde wurden. Aber keiner wollte schlafen, dazu war die Nacht viel zu schön.

Franziska hatte eine Idee. Wir könnten uns ja Geschichten erzählen, so wie früher bei den Pfadfindern.

»Ach, Mama, wo lebst du denn? Das ist doch voll letztes Jahrhundert.« Leon fühlte sich eindeutig zu alt für solche althergebrachte Formen der Unterhaltung. Allerdings war er hier mitten in der Pampa ohne Netz entertainmentmäßig vollkommen aufgeschmissen. Die Spiele auf seinem Smartphone hatte er ebenfalls schon alle durch, und Colin hatte auch keinen Bock mehr, mit ihm herumzualbern.

»Meinetwegen«, maulte Leon. »Aber kein so alberner Scheiß mit Geistern und so …«

Wir blickten uns vielsagend an.

»Keine Sorge, aus dem Alter sind wir raus. Also …?« Franziska beendete den Satz nicht, sondern blickte auffordernd in die Runde.

Iris war auf Franziskas Geschichtenattacke auch nicht vorbereitet und zuckte bedauernd mit den Schultern.

Alle sahen mich erwartungsvoll an. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber wie es manchmal so geht, fiel mir doch tatsächlich etwas ein. Improvisieren gehört zum Geschäft.

»Also gut«, fing ich an und nahm noch einen Schluck Wein. »Es war einmal ein alter weiser König. Der ergraute Herrscher hatte schon alle Schlachten seines Lebens geschlagen, strahlende Triumphe eingefahren, aber auch bittere Niederlagen einstecken müssen. Er hatte sein Reich erfolgreich gegen seine Feinde verteidigt und seine Macht stets festigen können. Seine Untertanen verehrten ihn als einen weisen und gerechten Herrscher. Jetzt, am Ende seines Lebens jedoch überkam ihn eine bittere Melancholie. Er fühlte sich bereits beim Aufstehen niedergeschlagen und nichts konnte ihm mehr eine Freude bereiten. Jede Woche gab er zwar weiterhin seine prachtvollen Abendgalas, zu denen das ganze Volk eingeladen war. Aber er tat das eigentlich nur, weil er seinen Vasallen diese Freude nicht nehmen wollte. Für ihn bedeutete es eher eine unangenehme Pflicht, jede Woche Hof zu halten.

An einem späten Nachmittag, als ihn sein dauernder Unmut besonders quälte, ließ er seinen Hofnarren zu sich kommen und stellte ihm aus einer Laune heraus eine Frage.

›Keiner der Weisen konnte mir diese Frage bisher beantworten, darum stelle ich sie jetzt dir, und ich bitte dich, lange und gründlich darüber nachzudenken, bevor du mir antwortest.‹

Der Hofnarr wurde etwas nervös, aber er kannte seinen Dienstherrn als einen gütigen und großherzigen Herrscher.

›Also – wie lang ist die Ewigkeit?‹

Der Hofnarr wollte schon gewohnheitsmäßig salopp antworten: ›Nun, ich hoffe doch, länger als eure Geduld.‹ Aber die Ernsthaftigkeit und die tiefe Melancholie, in die der König versunken war, ließen ihn zögern. Der Narr zog die Stirn in Falten, fasste theatralisch den Kopf in die Hände und blickte den Herrn traurig an. Lange. Sehr lange. Und noch etwas länger.

Der König durchschaute das Manöver und sagte nach einer gefühlten halben Stunde: ›Schon klar, ich weiß, was du mir sagen willst, ohne etwas zu sagen. Aber ich bitte dich inständig, es noch einmal zu versuchen. Es ist mir sehr ernst mit dieser Frage.‹

Der Narr hatte eingesehen, dass es nichts gab, mit dem er seinen König auf andere Gedanken bringen könnte. Er wollte schon bedauernd gestehen, dass er keine befriedigende Antwort auf die abstruse Frage hätte, da erinnerte er sich an eine alte Geschichte, die ihm seine Amme vor vielen Jahren zum Einschlafen erzählt hatte.

›Auf einer Insel am anderen Ende der Welt‹, begann der Narr seine Geschichte zu erzählen. Der König blickte ihn interessiert an. ›Diese weit entfernte Insel mitten im größten Meer der Welt liegt abseits aller bekannten Schiffsrouten, durch eine Laune der Natur das ganze Jahr hindurch hinter einer undurchdringlichen Wolkenbank verborgen, sodass sie auf den handelsüblichen Seekarten erst gar nicht verzeichnet ist. Wozu auch? Auf dieser abseits gelegenen Insel gibt es nichts, rein gar nichts, wofür es sich lohnen würde, dort vor Anker zu gehen. Kein Wasser, keine Tiere und keine Pflanzen. Nur Steine, Steine, Steine.

Auf diesem öden Eiland erhebt sich ein großer Berg aus massivem Granit. Ein gewaltiger Felsen, der sich bis in den Himmel hinein erhebt. Nun ergibt es sich, dass alle tausend Jahre ein Vogel auf seinem Flug von einem Ende der Welt zum anderen Ende der Welt …‹«

»Bestimmt eine Seeschwalbe!«, platzte Colin heraus. »Die fliegen nämlich um die ganze Welt.«

»Gut möglich«, sagte ich. »Allerdings hat noch kein Mensch diesen Vogel je zu Gesicht bekommen.«

»Ganz bestimmt eine Seeschwalbe«, beharrte Colin.

»Also gut, eine Seeschwalbe. Kann ich jetzt weitererzählen?«

Colin, Leon, Franziska und Iris nickten eifrig.

»Alle tausend Jahre kommt also eine Seeschwalbe auf ihrem Weg …«

»… von einem Ende der Welt zum anderen Ende der Welt …«

»Danke, Colin.« Ich war richtig gerührt ob der Begeisterung, die die coolen Jungs meiner ollen Geschichte entgegenbrachten. »Jedenfalls, weil der Weg ja so lang ist von einem Ende der Welt zum anderen, legt sie zwischendurch mal eine Pause ein und landet auf diesem Berg.«

»Warum, dort gibt es doch nichts?«, wandte Leon ein, stolz darauf demonstrieren zu können, wie gut er aufgepasst hatte.

»Na ja«, sagte ich. »Einfach, um mal zu verschnaufen und den Schnabel zu wetzen.«

»Den Schnabel wetzen?«, fragte Colin.

»Ja, hin und wieder müssen Vögel ihre Schnäbel wetzen, damit sie schön scharf bleiben. Ist so ähnlich wie Zähneputzen.«

Die beiden Mädels lachten.

»Und was hat das nun alles mit dem König zu tun?«, fragte Leon.

»Guter Einwand. Also, wie gesagt, alle tausend Jahre kommt eine Seeschwalbe an diesem riesigen Berg vorbei und wetzt sich ihren Schnabel.«

»Ja, und?«

»Tja, es ist so: Wenn der Vogel so oft seinen Schnabel an dem Berg gewetzt hat, dass er vollständig abgetragen ist …« Kunstpause. »… dann, erst dann, ist eine Sekunde der Ewigkeit verstrichen.« Alle blickten mich mit großen Augen an. Ich räusperte mich. »Ja, das war’s so im Wesentlichen.«

Colin sagte nur: »Ooh.«

»Und jetzt?«, mischte sich Leon ein, ganz der coole Obermacker aus der 10b. »Wie viele Sekunden hat nun die Ewigkeit?«

»Verdammt viele«, sagte ich. »Vermutlich mehr, als du dir vorstellen kannst.«

»Blödsinnige Geschichte.« Leons Urteil stand felsenfest. »Langweilig, diese Ewigkeit.«

»Da muss ich dir recht geben«, sagte ich. »Die Ewigkeit kann lang werden.«

»Aber was ist nun aus dem König geworden?«, wollte Colin wissen. »War er mit der Antwort zufrieden?«

»Vermutlich schon«, sagte ich. »So genau weiß ich das nicht.«

»Aber du kennst doch die Geschichte.«

»Ja, bis zu der einen Sekunde der Ewigkeit. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Also, ich glaube …«, nahm Iris den Faden auf. »Ich glaube, der König war ganz zufrieden mit dem, was ihm der Narr erzählt hat.«

»Blödsinn!«, warf Leon ein. »Bestimmt hat er ihm den Kopf abhacken lassen.«

»Nein, nein.« Franziska legte ihre ganze mütterliche Autorität in die Stimme: »Der König freute sich, dass der Narr ihm hatte nachfühlen können.«

»Als Einziger im ganzen Königreich«, ergänzte Iris.

»Und hat ihm dann sein ganzes Königreich vermacht.« Colins Augen leuchteten.

»Ich denke, so wird es wohl gewesen sein«, schloss ich die Geschichte ab. »Und wenn er nicht gestorben ist …«

»… hat ihm der König doch den Kopf abgehackt!« Leon konnte es nicht lassen.

Ich knuffte ihm in die Seite, was ihn betont empört, aber auch anerkennend aufjaulen ließ.

Doch statt sich irgendwie zu revanchieren, erstaunte er uns alle mit der Eröffnung: »Also, ich bin todmüde.« Er rappelte sich auf und gähnte ausgiebig. »Todlangweilige Geschichte.« Colins Kopf lag ohnehin schon im Schoß seiner Mutter. »Bis morgen, Jungs«, sagte Franziska. »Und seid leise morgen früh.« Das hörten die beiden schon nicht mehr und verzogen sich in ihr Zelt. »Ich verzieh mich auch, bis morgen.« Ehe Franziska in ihrem Zelt verschwand, ermahnte sie uns noch, doch bitte auf die Glut achtzugeben.

Das Feuer war schon ziemlich heruntergebrannt. Ich schob noch einige Ästchen in die Glut. Nach kurzer Zeit schlugen Flammen aus dem trockenen Holz. Taumelnd stoben Funken in die Nacht. Iris lehnte sich auf ihrer Isomatte zurück und blickte in den prachtvollen Sternenhimmel hinauf. Der Mond zeigte sich als schmale Sichel, die Sterne funkelten in der klaren Nacht. Am südlichen Horizont schimmerte die Milchstraße.

»Traumhaft«, sagte sie. »In Frankfurt kriegt man so etwas nicht zu sehen.«

Das unablässige Zirpen der Grillen mischte sich mit den sonoren Rufen der Frösche, die am nahen Wasser in großen Kolonien lebten.

Auf einmal verstummten die Geräusche. Für kurze Zeit legte sich eine ungewohnte Stille über die Nacht. Ein plötzlicher Windstoß fuhr in die Glut, Flammen züngelten aus der Asche und wirbelte Funkenschauer in die Nacht.

»Da!« Iris fasste mich an der Schulter. »Sternschnuppen!«

Über den Feldern, tief am Horizont, flammte ein einzigartiges Feuerwerk auf. Hunderte winzige glühende Lichter, die sich wie ein Schwarm wildgewordener Glühwürmchen über das Firmament ergossen. Funkelnder Feuerregen, ein Schauer kurzer Lichtblitze, die kreuz und quer durch die Nacht stoben.

Aus der Richtung, in der sich das Schauspiel abspielte, erfüllte ein seltsames Prasseln die Luft, wie Regen, der auf ein Blechdach fällt. Die Grillen und Frösche ließen sich davon nicht beirren, setzten unverdrossen ihr Nachtkonzert fort. Im Bruchteil einer Sekunde war das feurige Spektakel auch wieder vorbei.

»Hast du das gesehen?«, fragte Iris atemlos.

»Ja.« Ich brachte fast keinen Ton heraus. Ein eisiger Schrecken hatte mich erfasst.

»Wunderschön«, hauchte sie mit leuchtenden Augen. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ich konnte kaum noch atmen. Mit meinen Augen versuchte ich, die Dunkelheit zu durchdringen. Nichts Ungewöhnliches. Der Spuk schien vorbei zu sein. Die Glut im Lagerfeuer glomm tiefrot vor sich hin. Ab und zu ein scharfes Knacken im Holz. Ich legte eilig die letzten Ästchen in die heiße Asche. Die Glut fand neue Nahrung, bald leckten die Flammen wieder hoch und warfen ein flackerndes, unheimliches Licht auf uns.

»Was ist denn?«, fragte Iris. »Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest.«

»Ach, nichts«, sagte ich. »Ich glaube, ich bin einfach übermüdet.«

Enttäuschung und Traurigkeit flackerte in ihrem Blick.

»Sei mir nicht böse, aber ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«

»Schade«, sagte sie leicht verdrossen, Befremden und Verletzlichkeit in ihrer Stimme. Ich konnte nur bedauernd mit den Schultern zucken. Iris musste mich für einen kompletten Idioten halten – oder für jemanden mit einem ernsthaften psychischen Problem. Es tat mir unendlich leid für sie, aber wie hätte ich ihr mein seltsames Verhalten erklären können?

Eine Weile blickten wir noch stumm in die sterbende Glut. Allmählich beruhigte ich mich wieder. Ich war zwar tatsächlich hundemüde, aber so aufgewühlt, dass an Schlaf sowieso nicht zu denken war.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Die Nacht ist viel zu schön, um schon schlafen zu gehen.«

Iris sah mich leicht irritiert an und gähnte herzhaft. Offensichtlich war ihr das jetzt zu bunt geworden und sie zog sich lieber zurück. »Lass nur«, sagte sie leise. In ihrer Stimme lag leichter Ärger und erstaunlicherweise ein Hauch von Zärtlichkeit. Sie fasste mich kurz am Arm und zog sich in ihr Zelt zurück.

Die letzten Flammen verglommen, und die Nacht senkte sich über den Platz. Mir wurde zunehmend unheimlich. Ich zog die Aufstecklampe von meinem Fahrrad und suchte im angrenzenden Wäldchen noch nach etwas Feuerholz. Mit ein paar trockenen Ästchen hatte ich das Feuer bald wieder in Gang gebracht. Ich holte Schlafsack und Isomatte aus dem Zelt und legte mich vor das still vor sich hin glimmende Feuer. Die züngelnden Flammen und das gleichmäßige Zirpen der Grillen ließen mich allmählich zur Ruhe kommen. Auf dem Rücken liegend, musterte ich noch eine Weile systematisch den Nachthimmel. Die Sterne schimmerten sanft und tröstlich in der samtenen Dunkelheit.

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9783957658531
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