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1.3. Aufbegehren:
Auf den Gedanken kommen, (an) Gott zu denken
Weder Gott noch der Glaube haben es nötig, zur Bewältigung innerweltlicher Aufgaben für notwendig gehalten zu werden. Als Freiheitsverhältnis ist ein authentisches Gottesverhältnis auf etwas anderes als auf eine affirmativ benennbare innerweltliche Notwendigkeit Gottes angewiesen. Der Gottesglaube – so die hier eingebrachte These – gründet nicht in der Einsicht in eine Notwendigkeit Gottes für etwas Innerweltliches und einem darauffolgenden Akt der Affirmation Gottes. Hinsichtlich seines „Weltbezuges“ artikuliert er eine Negation, d.h. ein Nicht-Einverstandensein, ein Aufbegehren, einen Protest, ein Nein zum Ja zur Welt (wie sie ist) und ein Ja zum Nein zur Welt (wie sie ist). Er wurzelt nicht in einem Vollzug der Behauptung, sondern in der Praxis der Bestreitung. Wenn es zutrifft, dass der Glaube an Gott nicht dem Menschen „von außen“ andemonstriert werden kann, sondern existenziell verwurzelt sein muss, dann wird diese existenzielle Grundierung mit jenen Erfahrungen und Widerfahrnissen zu tun haben, in denen sich die spezifische Verfassung des Daseins in der Zeit spiegelt.50 Wie aber kann der Mensch in der Moderne noch auf den Gedanken „Gott“ kommen, wenn ihn jene Wege, auf denen er nach gängiger philosophischer Auffassung ursprünglich ins Nachdenken geriet, auf gänzlich andere Gedanken bringen? Wenn das Denken mit dem Staunen beginnt51 und dieses Staunen mit dem Gewahrwerden anhebt, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, endet dann dieses Nachdenken angesichts der Katastrophen der Moderne nicht in dem Entsetzen über das Ausmaß dessen, was zu schrecklich war und ist, als dass es noch etwas zu bestaunen übrig lässt?
Das Staunen ist die Angelegenheit der Begüterten. Wer staunt, protestiert nicht. Wer aber protestiert, nimmt Anstoß am Zustand der Welt, der keinen Anlass gibt, sich an ihr zu ergötzen: Wie kann man eine Welt akzeptieren, in der vieles kategorisch inakzeptabel ist? Wie kann man einverstanden sein mit einem Leben, auf das am Ende unausweichlich nur der Tod wartet? Wie kann man eine Welt annehmen, die durchzogen wird von einer Spur unschuldigen Leidens, welches sie eigentlich unannehmbar macht? Reicht das unausweichlich Negative und Inakzeptable nicht aus, um das Leben für ein Verhängnis, für ein unverschuldetes Unglück zu halten?52
Auf den ersten Blick sind diese Fragen geeignet, die Frage nach Gott für erledigt zu halten oder sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Rekurs auf Gott zum Zweck der Akzeptanzbeschaffung ist längst obsolet geworden. Etliche Zeitgenossen sind ohnehin überzeugt, dass es für die Herstellung der Daseinsakzeptanz keiner religiösen oder theologischen Perspektive bedarf.53 Was es mit dem Leben, seinem Wert und seinem Sinn auf sich hat, richtet sich nach ihrer Auffassung danach, was man aus dem Leben macht. Die Optimisten unter ihnen arbeiten mit der Möglichkeit, dass man, wenn die Welt von sich aus noch nicht akzeptabel ist, diesem Mangel durch menschliches Zutun nachhelfen kann. Wenn es mit dem Dasein in dieser Welt etwas auf sich haben soll, dann ist dies eine Frage der Machbarkeit.
Allerdings blendet diese Überzeugung ein Problem aus, das elementar mit der Herstellung von Daseinsakzeptanz durch die Verbesserung der Lebensverhältnisse zu tun hat. Jeder Anspruch, durch die Veränderung der Weltverhältnisse die Welt akzeptabler zu machen, muss davon ausgehen, dass die Welt nicht von vornherein etwas Missglücktes oder unaufhebbar Misslungenes darstellt. Wer etwas zum Besseren verändern möchte, kommt nicht umhin, es für besser zu halten, etwas zum Besseren zu verändern, als es bleiben zu lassen. Es kommt hierbei nicht alles auf das Tun des Menschen an. Die Welt muss von sich aus wenigstens Akzeptanzsteigerungen ermöglichen und einen Ansatz dafür bieten, sie annehmbar zu machen. Aber das reicht noch nicht. Die Welt müsste auch von sich aus einen Anhalt für die Überzeugung geben, es sei besser, sie zu verbessern, als es zu unterlassen. Nur dann zeigt sich, dass sie nicht nur Verbesserungen ermöglicht, sondern dieses Aufhebens auch wert ist. Ob diese Annahme berechtigt ist, lässt sich aber an der Welt nicht ablesen. Es könnte sein, dass sie letztlich „unverbesserlich“ bleibt. Dann wären alle Anstrengungen der Daseinsoptimierung sinn- und wertlos. Deswegen erübrigt sich keineswegs die Frage, ob das Dasein der Welt überhaupt etwas Wertvolles ist. Wenn die Welt etwas unaufhebbar Misslungenes darstellt, kann man sich jegliche Mühe der Weltverbesserung sparen. Dann gibt es in der Tat „kein richtiges Leben im falschen“ (Th. W. Adorno).54
Pessimistische Zeitgenossen greifen diese Feststellung gerne auf und erweitern sie um den Einwand, ob es der Mensch wirklich wert ist, dass man seinem Daseinsinteresse so viel Gewicht beimisst. Das 20. Jahrhundert durchzieht eine Blutspur der Gewalt, der Unterdrückung und Ausbeutung. Wo sich ein Wesen offenbart, dessen Aggressivität es im Vergleich zu jedem „Raubtier“ als die größere Bestie, als „Untier“ erweist, verwandelt sich jede an den Menschen geknüpfte Weltverbesserungserwartung als Trug.55 Es ist keineswegs ausgemacht, ob der Mensch es wirklich verdient, zur Welt zu kommen. Und noch viel weniger ist erwiesen, dass er fortexistieren soll mit einer Welt. Denn er weiß ja um ihre Verbesserungsnötigkeit ebenso wie um die Tatsache, dass der Nebeneffekt seiner Weltverbesserungen immer auch die Verschlechterung der Welt war. Deren unbestrittene Verbesserungsnötigkeit besagt eben nichts über die Erfolgsaussichten. Eher sind die unbestrittenen Misserfolge ein Anzeichen für die fehlende Verbesserungswürdigkeit. Nimmt man beides zusammen, lässt sich daraus erst recht kein Argument für den Fortbestand der Menschheit zum Zwecke der Selbst- und Weltverbesserung ableiten.56
In der Tat stellt sich die Frage des Weiterlebens demjenigen nicht mehr, der überzeugt ist, es sei „genauso gut“, wenn es den Menschen nicht gäbe. In diesem Fall ist die Aufgabe bereits erledigt, sich um die Möglichkeit der Daseinsakzeptanz zu bemühen. Wer aber in der Konfrontation mit dem Inakzeptablen sich dennoch dieser Aufgabe stellt, kommt nicht umhin, die Relativierung des Unterschiedes zwischen Sein und Nichtsein zu relativieren. Gäbe es nicht eine Gegenperspektive, erübrigte sich die Feststellung des Inakzeptablen. Man könnte von ihm nur noch sagen, es sei beliebig, belanglos, keines Aufhebens wert. Wer dagegen darauf besteht, dass es für den Menschen unabweislich ist, einen Unterschied zwischen dem Beliebigen und dem Inakzeptablen zu machen, muss gegen die Einebnung dieses Unterschiedes aufbegehren.57 Wer angesichts des Inakzeptablen in der Welt das Leben in und mit dieser Welt dennoch annehmen will, muss dieses „dennoch“ unterscheiden von einem naiv-trotzigen Idealismus, der nicht ablassen will von einem Ideal, das längst als unhaltbar erwiesen ist. Dies ist nur möglich, wenn die Unterstellung bewahrheitet werden kann, dass jeder Anspruch, durch Veränderung der Weltverhältnisse die Welt akzeptabler zu machen, davon ausgehen muss, dass die Existenz dieser Welt nicht von vornherein einem Verhängnis oder einem unverdienten Unglück gleichkommt – mag es dafür auch manchen Anschein geben. Insofern müsste das Ziel menschlichen Bemühens um ein sinnvolles Dasein zugleich dessen Ursprung sein: ein Dasein, dass per se nicht absurd oder gleichgültig ist, sondern zustimmungsfähig und Zustimmungen ermöglichend. Für die Berechtigung dieser Annahme besteht aber eine „Deckungslücke“. Am und im Leben ist nichts ablesbar, das diese Lücke schließen könnte.
Daher bleibt mit jedem Versuch, im Leben etwas über den Sinn und Wert des Lebens im Ganzen zu sagen, unabstreifbar das Moment der Differenz und Nicht-Identität verknüpft. Das Gesuchte scheint am Leben als dasjenige auf, was in ihm fehlt. Diese Fehl-Anzeige lässt sich nur in einem nicht-affirmativen Sprechen artikulieren. Die Perspektive, welche die Annehmbarkeit einer in vielfacher Hinsicht unannehmbaren Existenz zumutbar machen kann, ist nicht in Behauptungssätzen darstellbar. Mit ihr lässt sich keine Abfindung ausrechnen, welche die Ansprüche der im Leben Zukurzgekommenen nach diesem Leben befriedigt. Vielmehr geht es um die Aporiefähigkeit des Menschen: sich mit dem nicht abzufinden, wofür es keine Abfindung gibt. In diesem Kontext auf den Gottesgedanken zu kommen heißt: nach der Ermöglichung einer Lebenspraxis zu fragen, die sich dort bewährt, wo es nichts mehr zu machen gibt, d. h., wo jede Weise des instrumentellen, zweckrationalen Tuns und Machens nicht mehr weiterführt, sondern zu transzendieren ist in eine Sphäre der Zwecklosigkeit, die keineswegs wirkungslos ist. Eine solche Praxis ist dort gefragt, wo es keinen Weg mehr gibt, auf dem man vorankommt, und es dennoch „weitergehen“ muss.58
Was nach abstrakter Spekulation klingt, gehört zu den ersten Lektionen jüdisch-christlicher Rede vom Menschenverhältnis Gottes und vom Gottesverhältnis des Menschen: Der erste religiöse Vollzug des Menschen, von dem die Bibel erzählt, ist das Opfer von Kain und Abel (vgl. Gen 4). In dieser Erzählung begegnen alle Motive, von denen zuletzt die Rede war: die Fraglichkeit der Welt- und Selbstakzeptanz, der verzweifelte Versuch der Herstellung von Daseinsakzeptanz, das Gewahrwerden einer Existenz „etsi deus non daretur“ und die Weigerung, sich mit der Situation abzufinden. Auf den Gottesgedanken kommen Kain und Abel nicht in der Weise eines Gedankens, sondern über einen gänzlich anderen Vollzug. Sie setzen ein Zeichen und sie wählen die Sprache einer Zeichenhandlung. Diese Sprache bezeichnet aber nicht etwas in der Weise, dass sie es darstellt oder repräsentiert. Vielmehr verweist sie auf etwas Ausständiges, von dem erhofft wird, dass sich seine Realität erst noch herausstellen wird. Das Affirmative hat hier keinen Platz, weder zu Beginn der Erzählung noch an ihrem Ende.
Kain und Abel setzen ein Zeichen des Gott-Vermissens, indem sie für sich ein Ritual sprechen lassen und ein Opfer vorbereiten. Die Opferhandlung wurzelt in der Erfahrung eines Mangels, sie ist Ausdruck einer Differenz, einer Nicht-Identität, eines existenziellen Zwiespalts.59 Dieser Zwiespalt besteht für Kain und Abel zum einen darin, dass es für sie kein Zurück mehr an einen heilen Anfang der Welt gibt. Das Paradies ist unwiederbringlich verloren, die alte Gottesvertrautheit ist dahin. Die Sicherung des Daseins aus eigener Kraft (ohne Gott) wird zum Gegenstand all ihrer Anstrengungen. Ihre Anstrengungen können jedoch ein Problem nicht tilgen: das Gefühl, in dieser Welt ein Ausgesetzter, Fremder, ein unerwünschter Emigrant und Asylant zu sein. Die erfolgreiche Sicherung des Daseins in der Welt erbringt nämlich noch nicht den Nachweis der Daseinsberechtigung; sie streift noch nicht den Gedanken der Wertlosigkeit der eigenen Existenz ab. Hoffnung und Zweifel mischen sich in der Frage, ob man mehr vom Leben haben kann als all dies, was man ihm mühsam abringt. Dieses unverfügbare „mehr“ und „andere“ wäre besser als das Beste, über das Kain und Abel verfügen. Was denjenigen fehlt, die alles haben, werden sie aber nur erhalten, wenn es ihnen zu ihrer Habe und zu ihrem Tun dazugegeben wird. Es wird daher nicht das Resultat ihres Tuns sein können und auch nicht ihre Habe vermehren, sondern ihr Sein in neuer Weise auszeichnen. Es wird sich nur in einem Freiraum ereignen können, der nicht vom menschlichen Haben und Machen zugestellt ist.
So kommen Kain und Abel auf die Idee, ihr Bestes zu geben, um etwas Besseres zu bekommen, dessen sie in der Weise des Machens nicht habhaft werden. Abel, der Schafhirt, opfert eines von den Erstlingen seiner Herde. Kain, der Ackerbauer, bringt etwas von den Früchten des Feldes dar. Mit der durch das Opfer entstandenen „Leerstelle“ ihres Machens und Habens bringen sie einen durch eigenes Handeln nicht mehr überwindbaren Zwiespalt zum Ausdruck. Das Opfer ist in diesem Kontext ein Vollzug der Offenbarung eigener Ohnmacht und der Hoffnung. Offenbar werden der Zwiespalt und die Unmöglichkeit, diesen Zwiespalt zwischen Sein und Haben, zwischen dem Leben und seinem (Sinn-)Grund selbst überwinden zu können. Das Weg-Geben des Besten, das der Mensch besitzt, ist die Konkretisierung dieses Zwiespaltes. Der opfernde Mensch gibt die Strategie des Machens auf. Sein Weg-Geben und Aufgeben erst schafft den Freiraum für das, was ihm unverfügbar ist und ihm nur gegeben werden kann. Diese „Be-Gabung“ besteht darin, dass das Opfer (und d. h. die eigene Existenz) „Ansehen“ findet.
Dem Opfer eignet aber ein zwiespältiger Charakter, der sich in der Geschichte von Kain und Abel in Gottes zwiespältiger Reaktion auf ihr Tun spiegelt: „Der Herr sah (mit Wohlgefallen) auf Abel und sein Opfer, auf Kain aber und sein Opfer sah er nicht“ (Gen 4,4–5). Einerseits findet das auch vor Gott Wertschätzung, woran der Mensch sein Wohlgefallen hat. Wenn die Welt etwas hervorbringt, das in den Augen Gottes Anerkennung findet, so kann sie nicht von Grund auf etwas Missglücktes sein. Aber selbst wenn der Mensch sein Bestes (weg)gibt, so ist er andererseits dennoch mit diesem Besten und der Geste des Weggebens nicht identisch. Er ist vor Gott mehr wert als dieses Beste. Was auf den ersten Blick als ein willkürliches, unerklärliches Verhalten erscheint – dass Gott nämlich auf Kains Opfer nicht sieht – kann auch als Dementi der Identifikation des Opfernden mit seinem Opfer gedeutet werden. Eine solche Gleichsetzung würde den Menschen stets zu Höchstleistungen zwingen, um vor Gott Ansehen zu finden. Dass diese Logik durchbrochen wird, ist das Beste, was dem Menschen passieren kann. Daher wäre das Opfer eigentlich und letztlich auch gar nicht nötig gewesen.60 Der „Mehrwert“ des Menschseins zeigt sich erst jenseits der Logik von Aufwand und Ertrag, jenseits des Zweck/Mittel-Denkens und des Notwendigkeitskalküls. Selbst- und Daseinsakzeptanz entsteht durch das Überzählige, Überflüssige, Unverfügbare.
Wer dagegen von einem Entsprechungsverhältnis zwischen der Geste des Weggebens und Gottes Ansehen ausgeht, kann die unterschiedlichen Reaktionen Gottes auf das Opfer von Kain und Abel nur als willkürlich und ungerecht empfinden (was sogleich in der Empörung über den Urheber und in der Aggression gegenüber dem Nutznießer solcher Ungerechtigkeit seinen Ausdruck finden muss). Innerhalb der Logik von Aufwand und Ertrag wäre es nur recht und billig gewesen, keinen Unterschied zwischen Kain und Abel zu machen. Aber gerade dann wäre der Gedanke verlorengegangen, dass der Mensch besser ist als das Beste, mit dem er vor Gott aufwarten kann. Dass Kain dies nicht wahrhaben kann und will, macht vielleicht seine Verzweiflung aus und führt ihn zur Wahnsinnstat des Brudermordes. Jenseits seiner Logik vermag Kain nichts mehr an Sinnvollem und Verstehbarem zu erkennen. Wenn nicht das Wertvollste, das er opfert, noch etwas wert ist, was ist dann überhaupt noch etwas wert? Wenn nicht das Beste, das er weggibt, etwas gilt, was gilt dann überhaupt noch?
2. „Gott“ als AdVerb:
Perspektiven einer postsäkularen Rede von Gott
Das Projekt einer zeit- und sachgemäßen Theologie besteht in der Reflexion, wie es letztlich „um den Menschen steht“, unter welchen Umständen und in welchem Kontext sich die Dramatik des Daseins zeigt. Dass sich das Drama von Kain und Abel „vor“ Gott abspielt, ist nichts Nebensächliches, sondern zentral für die Frage, wie heute von oder zu Gott gesprochen werden kann: Gott kommt in der Lebenspraxis des Menschen „adverbial“ ins Spiel. Was das Wort „Gott“ bedeutet, erweist sich in besonderen „Umstandsbestimmungen“ des Daseins, in jenen Situationen, bei denen es für den Menschen um alles oder nichts geht. Dies sind Situationen des Gegen- und Ineinanders von Macht und Ohnmacht, Konstellationen des Widerstreits von Angst und Hoffnung, Provokationen der Bestreitung von Sinn und Verantwortung. Die AdVerbien, in denen sich die Bedeutung des Wortes „Gott“ in den Nöten und Nötigungen solcher Lebensverhältnisse andeutet, geben die Umstände an, in denen sich „herausstellt“, was es letztlich mit diesem Dasein der Menschen auf sich hat. Es sind Umstände, in denen man bitter nötig hat, was sich jenseits aller Notwendigkeit dem Menschen als identitäts- und sinnkonstitutiv zuspricht und gewährt.
Wer von Gott reden will, bleibt unpräzise, wenn diese Rede nicht durch eine entsprechende Praxis konkretisiert wird. Wer diese Praxis verbalisieren will, bleibt gleichfalls unpräzise, wenn sie nicht auch adverbial konkretisiert wird. Wer von Gott „handelt“, gerät mit dem eigenen Tun in „andere Umstände“.61 Es sind Umstände der vermissten Identität, der verlorenen Gewissheit und zerbrochenen Sicherheiten, in denen dieses Handeln sein sujet erhält. Es sind Lebensumstände, von denen zugleich Zumutungen menschlicher Selbstbestimmung und Selbstbehauptung „vor Gott“ ausgehen. Diese Zumutungen zeichnet aus, dass eine Ermutigung mit einer Enttäuschung beginnt, dass eine Bestärkung eine Bestreitung voraussetzt. In der religiösen Rede und Praxis gilt es, die adverbial bestimmten Momente der Differenz, der Nicht-Identität und Alterität als Merkmale einer möglichen Beziehung zwischen Sein und Sinn, zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten, zwischen Gott und Mensch wahrzunehmen.62 In dieser Spur lassen sich auch die anderen Aufgaben angehen, die dem Reden von Gott heute aufgetragen sind: von Gott jenseits weltimmanenter Notwendigkeiten und jenseits affirmativer Sprachmuster zu reden sowie Gott nicht ohne eine Welt zu denken, deren Verfassung es notwendig macht, die Welt ohne Gott zu denken.
2.1. Versuchungen:
Die Rede von Gott – nach ihrem Ende
An dieser Verfassung scheint sich Entscheidendes verändert zu haben, seitdem die Rede von „postsäkularen“ Signaturen der Moderne im Umlauf ist und eine Renaissance der Religion beobachtet wird. Diese Wiederkehr besteht keineswegs allein in den aggressiven Formen eines politisch-religiösen Extremismus und Fundamentalismus. Sie ist auch nicht beschränkt auf die häufig „dekonstruierende“ Übernahme religiöser Stoffe und Motive, mit der etwa in der Populärkultur die Autoren von Fantasy-Romanen, Werbespots und Kinofilmen aufwarten. Und ebenso wenig erschöpft sie sich in Formen einer spirituellen Wanderschaft, bei der man sich auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela macht, um sich „Wellness für die Seele“ zu erlaufen. Vielmehr wird zunehmend eine Relevanz der Religion für zentrale und elementare Fragen menschlichen Miteinanders wiederentdeckt.
Was für geraume Zeit von Theologen bloß behauptet wurde, finden diese vermehrt von anderen Akteuren und Wissenschaften bekräftigt: Die Politik(wissenschaft) interessiert sich für die religiösen Quellen von Werten, die gegen die Fliehkräfte eines liberalistischen Individualismus aufzubieten sind. In der Ökonomie begegnet Religion als eine Ressource zur Bildung jenes Vertrauens, ohne das wirtschaftlicher Handel und Wandel nicht funktionieren können. Historiker entdecken neu, dass das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft religiöse Erinnerungsarbeit nicht bloß als Sediment, sondern auch als Ferment betrachten kann. Soziobiologen machen darauf aufmerksam, dass Religiosität aus einem evolutiv erfolgreichen Anpassungs- und Selektionsvorgang hervorgeht und ein Merkmal darstellt, das die evolutionsbiologische „fitness“ erhöht. Von vielen Soziologen ist die Kategorie der „Säkularisierung“ als Schlüsselbegriff einer Gesellschaftstheorie der Moderne verabschiedet worden. Weder hat sich die Prognose eines modernisierungsbedingten Endes der Religion erfüllt noch scheint die in vielen westlichen Ländern beobachtbare Verdrängung der Religion ins kulturelle Abseits unumkehrbar zu sein. Offensichtlich muss die Annahme korrigiert werden, dass Modernisierungsprozesse unweigerlich mit einer Verabschiedung des Religiösen einhergehen. Vielmehr offenbaren sie eine eigene Ambivalenz und Dialektik, welche die Gleichsetzung von Moderne und Säkularisierung, Rationalität und Fortschritt als kurzschlüssig erweisen.63 Die Nachfrage nach dem religiösen Anderen der Vernunft nimmt einerseits ab in dem Maße, wie die Vernunft (in Wissenschaft, Technik, Medizin, Politik) Modernisierungserfolge verzeichnen kann. Zugleich nimmt sie fast proportional zur Verunsicherung zu, welche die fortschrittsbedingten „Entgleisungen“ (J. Habermas) der Moderne auslösen. Sich solchermaßen „postsäkularen“ Konstellationen verdankend, ist Religiosität kein Überbleibsel einer unaufgeklärten Vorzeit, „vielmehr, genau im Gegenteil, Produkt avancierter, sich selbst in Frage stellender Modernisierungen“.64
Mit diesem Befund das zeitliche Ende einer von Säkularisierungsprozessen bestimmten Moderne zu assoziieren und mit einem vollständigen Comeback des Religiösen zu rechnen bedeutet jedoch ein eklatantes Missverständnis. Nicht ein Nacheinander von Prozessen des Verlustes und der Wiederkehr von Religion, sondern deren Ineinander, die Simultaneität von Abschied und Rückkehr gilt es zu diagnostizieren. Aber auch dort, wo undialektisch von einer „Wiederbelebung“ der Religion gesprochen wird, setzt man zumindest einen zeitweiligen Ausfall von Lebensfunktionen voraus. Wer das Bild von der „Wiedergeburt“ verwendet, darf den vorausgehenden Tod nicht verschweigen. Das Aufhören kommt immer vor dem Anfangen – auch vor dem Wieder- oder Neuanfang. Ein bruchloses Fortsetzen des Vergangenen ist unmöglich. Zudem darf nicht übersehen werden, dass die registrierte sozio-kulturelle Antreffbarkeit religiöser Traditionen „in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung“65 geschieht. Der fortwährende Prozess der Säkularisierung schließt somit keineswegs aus, dass die Renaissance des Religiösen zu jenen Totenerweckungen zählt, bei denen man in ein Leben zurückkehrt, in dem man sich ein zweites Mal den Tod holen wird. Und selbst dort, wo es zur Revitalisierung des Religiösen kommt, ist noch nicht entschieden, was an ihm wiederbelebt und wie viel von ihm „wiedergeboren“ wird. Die traditionelle Rede von Gott zählt einstweilen nicht dazu.66
Ganz im Gegenteil. Für die Vertreter eines „Neuen Atheismus“, die im Namen der philosophischen Vernunft zugleich das Anliegen eines naturalistisch aufgeklärten Humanismus und politischen Liberalismus vertreten,67 resultiert die neuerliche Wertschätzung der Religion aus einer doppelten „Halbherzigkeit“. Die erste besteht in einer „halbierten“ Wahrnehmung der sozio-kulturellen Auswirkungen religiöser Überzeugungen und Praktiken, da nur jene Aspekte genannt werden, welche die gesellschaftliche Nützlichkeit von Religion betreffen. Es mag sein, dass Religion existenzielle Ängste beruhigen kann, dass sie soziale Gruppen stabilisiert, dass sie eine Sprachform für unerfüllte Sehnsüchte bereithält. Und es mag auch zutreffen, dass sie Trostformeln für einstweilen unlösbare „letzte“ Fragen anbietet. Aber der weitaus größere Anteil religiöser Sozialschädlichkeit bleibt bei diesen Merkposten ausgeklammert: bornierter Fanatismus und militanter Fundamentalismus, repressive Moral und aggressive Intoleranz. Ausgeblendet wird auch, wofür sich Religion in Geschichte und Gegenwart hergegeben hat: Treibriemen ideologischer Verblendung, Verschleierung von Unterdrückung und Ausbeutung, Ausrede zur Weltflucht und Opiat der Jenseitsvertröstung, Hemmnis des wissenschaftlichen Fortschritts etc.
An diese Auflistung schließt sich umgehend das Attest einer zweiten „Halbierung“ an: Man unterlässt die Erörterung der Vertretbarkeit eines Verhältnisses zu einer Größe, auf die sich ein religiöses Verhältnis primär bezieht („Gott“), weil man jene sinn- und identitätsstiftenden Konsequenzen für vertretbar hält, die sich aus einem religiösen Wirklichkeitsverhältnis ergeben. Allerdings gerät die (ungerechtfertigt) positive Einschätzung des Bezuges zu einer „transzendenten“ Größe dann ins Wanken, wenn die fatalen „weltimmanenten“ Konsequenzen dieser Beziehung abgerechnet werden. Sind die sozialschädlichen Folgen unvertretbar, die sich aus einem Gottesverhältnis ergeben, dann ist auch das Verhältnis zu einem solchen Gott nicht mehr rechtfertigungsfähig. Man muss folglich von Gott loskommen, wenn es in und mit der Welt vorangehen soll.68 Allenfalls eine ohne Gott auskommende Spiritualität im Sinne einer religiösen „Diätetik“ als Anleitung, Unterstützung oder Inspiration einer geregelten Lebensführung erscheint noch tolerierbar.
Für die Theologie steht somit trotz „postsäkularer“ Konstellationen von Religion und Gesellschaft nicht zur Disposition, ob sie die Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Religionskritik, mit der Rede vom „Tode Gottes“, mit der Absage an ein onto-theologisches Paradigma (das Gott an die Spitze einer Seinspyramide setzen will) oder mit den Protagonisten eines „nachmetaphysischen“ Denkens abbrechen darf. Hinter das Anspruchsniveau des Redens von Gott, das diese Positionen beschreiben, kann die Theologie nicht mehr zurück, will sie nicht anachronistisch werden.69 Sie kann nicht mehr bei etwas für fraglos Gehaltenem ansetzen, um von dort ihre Sache wieder verständlich zu machen. Gleichwohl lassen sich gegenwärtig zwei „Versuchungen“ ausmachen, einer postsäkularen Gottesrede dadurch Verständlichkeit zu geben, dass sie mit dem verknüpft wird, was leicht eingängig scheint oder sich scheinbar von selbst versteht.
(1) Die erste Versuchung ergibt sich aus einer kulturellen und einer religionskritischen „Selbstverständlichkeit“. Zu den sozio-kulturellen Schlüsselqualifikationen der Gegenwart zählt Pluralitätsfähigkeit. Mögen die Theoretiker der Postmoderne – von R. Rorty bis J. Derrida – wenig Dauerhaftes hinterlassen haben,70 so hat doch ihr Plädoyer für den Vorrang der Vielheit nachhaltige Wirkung. Es findet auch Zustimmung bei den Sympathisanten spätmoderner Skeptiker wie O. Marquard, der sich auf den „Abschied vom Prinzipiellen“ eingestellt hat. Die durchgängige und vergröberte Grundthese von Rorty und Marquard lautet: „Die wirkliche Wirklichkeit des Lebens … ist unerschöpflich vielgestaltig; ihr Grundcharakter ist die Vielheit. Einheit – Allgemeinheit, also auch Vergleichbarkeit und Gleichheit – gibt es nur durch Komplexitätsreduktionen, durch Vereinfachungen; deren Herrschaft ist … ein Unglücksfall, der repariert werden muß: Es muß detotalisiert, dezentralisiert, differenziert, pluralisiert, … regionalisiert, individualisiert werden.“71 All dies hat zu geschehen im Namen der Freiheit und zum Zwecke ihrer Vermehrung. Denn individuelle Freiheit beginnt dort, wo das Individuum nicht mehr dem Alleinzugriff einer einzigen Macht, Gewalt oder Instanz unterworfen ist, sondern wo mehrere Mächte und Gewalten existieren, die sich beim versuchten Zugriff auf das Individuum gegenseitig begrenzen und relativieren.
Das Religiöse darf davon keine Ausnahme machen. Daher verwundert es nicht, wenn „monomythische“ Sinnsysteme von philosophischer Seite attackiert werden und sich vorhalten lassen müssen, in der Geschichte nur zu oft als Quelle totalitären Machtstrebens und eines weltanschaulichen Monopolismus fungiert zu haben72. „Monomythen“ werden kritisiert als Ausdruck eines Bewusstseins, das „konstitutionell“ unfähig ist, die unabweisbare Vielfalt alles Wirklichen in ihrer jeweils eigenen und unableitbaren Vielfalt der Ursprünge überhaupt erkennen und ihr sozio-kulturell entsprechen zu können. Den Anwälten eines „aufgeklärten Polytheismus“ ist auch und gerade der Monotheismus suspekt, da er als Beglaubigungsideologie eines vordemokratischen, gewaltenteilungsfeindlichen Herrschaftsdenkens erscheint sowie als freiheits- und individualitätsgefährdendes Einheitsdenken unter Totalitarismusverdacht steht. Er ist nicht mehr kompatibel mit einer Kultur, die sich durch eine irreversible Pluralität hochgradig differenter Wissensformen, Handlungsmuster und Lebenswelten auszeichnet. Diese Vielfalt tritt nicht mehr als ein Binnenphänomen innerhalb eines umfassenden und allgemein anerkannten sozio-kulturellen Rahmens auf, sondern besteht in einer Vielheit inkommensurabler Bezugs- und Begründungsebenen der verschiedenen Sphären von Kultur und Gesellschaft.
Philosophische Plädoyers für „Polymythie“ zielen daher auf eine Freigabe und Stärkung differenter, partikularer Denkansätze und Sprachspiele in ihrer Verschiedenheit, Autonomie und Irreduzibilität. Der Monotheismus – erst recht in seiner christlich-konfessionellen Ausprägung – gilt als Exponent eines obsoleten Einheitsdenkens, das heute nur auf dem Weg eines repressiven und totalitären Antipluralismus wieder Fuß fassen kann. Ähnliche Unterstellungen und Kritik am Offenbarungs- und Heilsexklusivismus monotheistischer Religionen lassen sich bei dem Soziologen Ulrich BECK73 und auch aus etlichen Publikationen des Ägyptologen Jan ASSMANN zum biblischen Monotheismus herauslesen.74 Deren Kritik und Korrektur fällt der Theologie im akademischen Diskurs75 leichter als in der Auseinandersetzung mit ihrer populärwissenschaftlichen Rezeption bzw. essayistischen Adaption76 oder ihren literarischen Variationen.77
Denn was zunächst nach Theorieesoterik und Lebensferne klingt, hat längst Einlass in die postsäkulare Lebenswelt gefunden. Wir leben in einer „multiple-choice“-Gesellschaft, die für alle Bedürfnisse mehrfache und gleichrangige Befriedigungsmöglichkeiten im Angebot hat. Der Zuwachs an Freiheit bemisst sich am Zuwachs an Wahlmöglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung. Das Religiöse macht hier keine Ausnahme. Wo es Religion nach etlichen Entmythologisierungs- und Säkularisierungswellen noch oder wieder gibt, existiert sie im Plural. Dieser Plural besteht nicht allein in einem Nebeneinander verschiedener Kulte, Kirchen und Konfessionen, sondern betrifft auch die Inhalte eines religiösen Bewusstseins. Immer zahlreicher werden jene Zeitgenossen, die sich auf der Suche nach Sinnvergewisserung nicht mehr an die Gehalte einer bestimmten Tradition halten, sondern ganz unterschiedliche, heterogene Sinnofferten durchmustern und jeweils neu für sich arrangieren. Sie sind auf der Suche nach ihrem „eigenen“ Gott, dem nicht sie in ihrem moralischen und religiösen Tun zu entsprechen haben, sondern der ihnen und ihren Bedürfnissen gerecht wird.78 Dies scheint auch der erfolgreichste Weg zu sein, um sich vor religiösem Dogmatismus und Fundamentalismus zu schützen. Als deren Widerpart sind Pluralismus und Relativismus allemal willkommen. Aber kann „tatsächlich ein ‚eklektischer‘ Umgang mit religiöser Pluralität in sich selbst Halt und Grund finden? Fehlt den Konstruktionen eines eigenen Gottes nicht der Bezug auf ein ‚Außen‘, der dem Ansinnen auf ‚Erlösung‘ erst Legitimität verschaffen könnte?“79 Und kann die Wahrhaftigkeit der Suche nach religiöser Authentizität bereits als Ausweis für die Wahrheit des je für sich Gefundenen genügen?
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