Читать книгу: «I. Die Bio-Ökonomie - Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen»

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Bioökonomie

Hans-Günter Wagner

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Hans-Günter Wagner

ISBN 978-3-8442-5283-5

Vorwort zur Ausgabe als E-Book

Sechzehn Jahre nach der gedruckten Erstausgabe in 1997 erscheint „Bioökonomie – Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen” nun auch als E-Book. In diesen mehr als eineinhalb Jahrzehnten haben die ökologischen Gefährdungen weiter zugenommen, allen voran die weltweite Erwärmung mit der Gefahr einer globalen Klimakatastrophe. Gleichzeitig haben sich die Zentren der industriellen Entwicklung verlagert. China, Indien, Brasilien und andere sogenannte Schwellenländer verzeichnen hohe ökonomische Wachstumsraten, die eine sprunghafte Zunahme der Umweltgefährdungen nach sich ziehen. Während die Globalisierung an Umfang und Tiefe gewonnen hat, verändern sich gleichzeitig die Strukturen der weltweiten Politik. Zwischenstaatliche Organisationen wie die Weltbank oder Welthandelsorganisation übernehmen Teile der Aufgaben nationaler Regierungen. Globale Konzerne haben in vielen Bereichen mehr Einfluss als ganze Staaten.

Die Weltbevölkerung ist inzwischen auf 7.1 Milliarden Menschen gewachsen, von denen noch immer 2.8 Milliarden in Armut leben. Fast die Hälfte der Menschheit muss mit weniger als 2,50 US-Dollar pro Tag auskommen, während zwanzig Prozebt der Weltbevölkerung über drei Viertel des Welteinkommens verfügen.[1] Während die Unersättlichkeit die Finanzmärkte antreibt, werden anderenorts die Menschen noch nicht einmal satt. Und all das geht zu Lasten der zerbrechlichen ökologischen Schicht, die den Lebensraum des Menschen bildet. Eine in 2012 veröffentlichte Studie von insgesamt 22 führenden Biologen, Ökologen, Geologen und Paläontologen aus drei Kontinenten geht von einem Anstieg der Weltbevölkerung auf 9,3 Milliarden bis 2050 und einer Klimaerwärmung aus, die das UN-Begrenzungsziel von zwei Grad Celsius übersteigt.[2] Als Folge droht eine weitere Verschärfung der Umweltprobleme. Die Studie 2052 des Club of Rome zeigt, dass der Verbrauch nicht-erneuerbarer Rohstoffe wie Kohle und Öl nach wie vor zunimmt.[3]

Zugleich gibt es jedoch auch zahlreiche neue und positive Entwicklungen. Wo die Gefahr ist, da wächst bekanntlich das Rettende auch. Neben (noch längst nicht ausreichenden) internationalen Vereinbarungen zum Klima- und Artenschutz gibt es inzwischen in vielen Ländern nationale Maßnahmen wie Ökosteuern und strengere Umweltauflagen, welche die Umweltzerstörung begrenzen und Nachhaltigkeit fördern sollen. So prognostiziert die neue Club-of-Rome-Studie für die Jahre nach 2025 den Rückgang des weltweiten Verbrauchs fossiler Brennstoffe.[4] Bereits seit dem Jahr 2000 sinken trotz weiteren Anstiegs die jährlichen Zuwachsraten. Nach den Richtlinien der EU soll der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch in den EU-Staaten bis 2020 auf zwanzig Prozent und bis zum Jahr 2050 auf sechzig Prozent steigen.[5] Hervorzuheben sind zudem das gestiegene Umweltbewusstsein und die wachsende Sensibilität für ökologische Gefährdungen. Wurden in den achtziger Jahren Umweltschützer und Öko-Aktivisten noch oft der Panikmache bezichtigt und als naive Romantiker diffamiert, so kann sich heute kaum ein Politiker oder Ökonom solch diffamierende Kritik leisten, wenn er noch Ernst genommen werden will. Inzwischen hat nicht nur die Umweltbildung die Einstellungen und das Verhalten einer ganzen Generation junger Menschen verändert, auch die ökologischen Diskurse haben schon lange die Wirtschaftswissenschaften erreicht und drängen auf eine Revision der tradierten Lehren und Methodologien. Zwar dominieren nach wir vor die alten, rein monetär interpretierten Kalküle, aber Fragen der Umwelt und Ökologie können nicht mehr wie früher zu Randproblemen des Wirtschaftshandels erklärt werden.

Doch die ökologische Gleichgültigkeit ist längst nicht überwunden. Wie beispielsweise die erschreckende Zunahme des weltweiten Luftverkehrs, gefördert durch Billigfliegerei und prosperierenden Ferntourismus zeigt, herrscht weiterhin eine Art „zynische Vernunft” (Peter Sloterdijk), eine Vernunft, die wohl erkennt, aber dennoch nicht handelt. Die gestiegene Umweltachtsamkeit vieler Menschen wird heute von geschickten Marketing-Strategen für den Verkauf aller Arten von Bio-Mogelware missbraucht, während die herrschende Politik mit vielerlei Täuschungsmanövern und pseudo-ökologischer Schaumschlägerei versucht, faktische Umweltzerstörung als Umweltschutz zu verkaufen.

Die Bioökonomie als Schule und Methodologie einer ganzheitlichen Ökonomie, die wirtschaftliches Handeln an die Funktionen der natürlichen Systeme rückbinden will, hat sich inzwischen zu zwei konträren Paradigmen verdichtet: einem ganzheitlichen und einem reduktionistischen. Beiden ist gemeinsam, dass sie die Strukturen des Lebendigen daraufhin untersuchen, inwieweit sie als Vorlage für ökonomische Prozesse und sozioökonomische Entscheidungen dienen können, beide sind transdisziplinär angelegt und greifen für die Entwicklung ihrer Modelle auf Erkenntnisse der Thermodynamik, der Ökologie und Evolutionsbiologie zurück. Während jedoch das ganzheitliche Paradigma, wie es von Vordenkern der Bioökonomie wie Nicholas Georgescu-Roegen oder Herman E. Daly begründet wurde, werteorientiert ist und auf eine Neuausrichtung des Wirtschaftshandels setzt, bedient das reduktionistische Paradigma sich lediglich bioökonomischer Erkenntnisinstrumente, um schlicht die Effizienz von Subsystemen zu optimieren, zum Beispiel im Rahmen der „Nutztierhaltung” oder bei der Züchtung ertragreicherer Agrarpflanzen. Diese reduktionistische Orientierung findet sich insbesondere in den Empfehlungen des deutschen „Bioökonomierats”, einem neuen Gremium aus Wissenschaftlern der biotechnologischen Forschung sowie Industrievertretern, Aufsichtsratsvorsitzenden und Geschäftsführern der Energiewirtschaft, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Erklärtes Ziel ist die „Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit” und Forschungskompetenz für „biobasierte Produkte” sowie die Optimierung des Global Sourcing.[6] Während das ganzheitliche Paradigma die gesellschaftlichen Ursachen des Klimawandels untersucht und diesen bekämpfen will, suchen die reduktionistischen Bioökonomen lediglich nach „Möglichkeiten der Anpassung an den Klimawandel.”[7] Wo die einen auf eine grundsätzliche Neubestimmung der Beziehungen des Menschen mit der Natur setzen, geht es den anderen in erster Linie um ökonomische Effizienz und die Erzielung komparativer Kostenvorteile. Insofern lässt die Tätigkeit des Bioökonomierats bisher keine Anzeichen eines echten Wandels erkennen. Zumal man offensichtlich bemüht ist, alles unter die normative Messlatte des eigenen Kategorienapparates zu zwängen und divergierende Ansätze auszugrenzen. Der Begriff der Bioökonomie müsse „trennscharf” definiert werden, heißt es in der verkündeten Programmatik, um zu bestimmen, „welche Forschungsthemen und -bereiche sich ihr zuordnen lassen und welche nicht”[8] – als Grundlage der Entscheidung über die Distribution von Fördermitteln, die man offensichtlich gerne der eigenen Klientel zufließen lassen möchte.

Gleich vielen anderen Begriffen verkehren sich auch bei der alternativen Ökonomie die Intentionen ins Gegenteil, sobald wohlklingende Bezeichnungen erst einmal funktionalisiert und in den Dienst herrschender Systeminteressen gestellt werden. War zum Beispiel das nachhaltige Wirtschaften stets das Gegenmodell zur Wachstumswirtschaft, so haben einige Mainstream-Ökonomen längt auch diesen Begriff usurpiert und ein begriffliches Passepartout wie das nachhaltige Wachstum kreiert. Hinzu kommen Verschiebungen im Gegenstandsbereich. Neben den paradigmatischen Differenzen wird Bioökonomie mittlerweile von einigen Fachwissenschaftlern nur noch für einen eingeschränkten Objektbereich verwendet. Während die bioökonomische Forschung sich ürsprünglich auf die ganze Bandbreite ökonomischer Aktivitäten bezieht, wird er heute von einigen nur für biologisch definierte Bereiche wie die Tier- und Pflanzenzucht verwendet. Andere Wissenschaftler beziehen die Bioökonomen vornehmlich auf Körperressourcen, Gegenstand ihrer bioökonomischen Forschung sind die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung des Körpers, zum Beispiel Probleme des Zugriffs und der Verwendung von Körpermaterialien. Außer methodologischen Differenzen existieren somit auch Unterschiede mit wissenschaftlichen Gegenstandsbereich.

Für die E-Book-Ausgabe wurden an einigen Stellen neue Entwicklungen berücksichtigt, so die ersten praktischen Erfahrungen mit Verschmutzungszertifikaten, die seinerzeit lediglich als Konzepte vorlagen. Auf viele neue und relevante Ideen, wie beispielsweise Ervin Lazlos Quantensprung im globalen Bewusstsein konnte nicht mehr ausführlicher eingegangen werden. Laszlos Theorie basiert auf einer Analyse der biologischen Grundlagen der Steuerungsmechanismen sozialer Systeme vom nomadischen Verwandschaftssystem über die Dorfkultur der Agrargesellschaft bis zum Imperialsystem der Neuzeit und der sich bildenden Staatenförderation in der globalen Informationsgesellschaft. Der Herrschaft der neuen Suprasysteme stellt er eine globale Ethik verantwortlichen Handelns entgegen. Die Ehrfurcht vor natürlichen Systemen und ihrer Funktionsweisen bildet dabei den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Solche Denkweisen bilden den paradigmatischen Rahmen einer Bioökonomie, die auf ein neues Wirtschaftshandeln setzt, dass die Natur nicht als ausbeutbares Objekt oder bloße Ressourcenlagerstätte betrachtet, sondern in ihr ein koproduzierendes Subjekt sieht.

Viele Menschen folgen heute bereits diesem neuen Paradigma und richten ihr Leben an neuen, nachhaltigen Verhaltensimperativen aus. Inzwischen populäre Handlungsmodelle, wie beispielsweise ecological footprinting, persönliche CO2-Bilanzen oder Fair Trade, belegen diesen Wandel ebenso, wie die Verbreitung von urban gardening oder die Rückkehr zu anderen Formen naturnahen Lebens. Allerdings konnten diese neuen Entwicklungen nur am Rande gewürdigt werden, da dies sonst den Rahmen der vorhandenen Arbeit gesprengt hätte. Darüber hinaus wurden für die E-Book-Ausgabe die Schaubilder überarbeitet, einige Daten aktualisiert sowie eine Reihe redaktioneller Verbesserungen vorgenommen.

Vorwort zur Erstausgabe von 1997

Die herrschende Ökonomie trennt aus der vielgestaltigen Wirklichkeit mit chirurgischer Präzision einen Gewebeschnitt heraus, etikettiert diesen als Wirtschaft und analysiert ihn sodann als Handlungskosmos mit eigener mathematisch beschreibbarer Gesetzmäßigkeit. Dabei gerät jedoch zumeist außer Acht, dass ökonomische Probleme im Kern Probleme des Denkens und der menschlichen Interaktion sowie des Umgangs mit Mitwelten, Mitgeschöpfen und Naturstoffen sind. Im wirtschaftlichen Diskurs der Gesellschaft wird die ökonomische Sphäre nur in einseitiger und spezifischer Weise thematisiert. Da ist von Standortfaktoren und Wettbewerbsfähigkeit, von Globalisierung und Modernisierung die Rede, da werden Arbeitskräftemobilität, Abbau der Handelsschranken und die Erschließung neuer Märkte eingefordert. Als vernünftig gilt, was die Wettbewerbsfähigkeit steigert, die Standortattraktivität erhöht, Löhne verbilligt sowie Kosten und Sozialaufwendungen senkt, technologische Spitzenleistungen erbringt und neue Märkte erobert.

Dieser Sprachlogik der ökonomischen Ratio tönt jedoch – wenn auch nicht immer klar vernehmbar – die Stimme des Anderen, des Nicht-Thematisierten entgegen: die Stimme der Natur und der im Namen des Profits geschundenen Moral, der armen Länder des Südens und der sozialen Verlierer. Aber weltweite Verarmung und soziales Elend, zerstörte Natur und leidende Kreaturen sind an sich keine zugelassenen Akteure im ökonomischen Sprachspiel. So sehr sie auch umgreifende Rationalität verkörpern, in der Ökonomie zählen sie doch nur insoweit, als sie in die Sprache von Preisen und Kosten übersetzt werden können. Es ist gerade die Negation der umgreifenden Rationalität des Ganzen, auf die sich die Partialrationalität der Ökonomie gründet.

In der vorliegenden Arbeit wird versucht, an die Stelle des herrschenden Reduktionismus Elemente von Ganzheitlichkeit zu setzen und die ökonomischen Probleme in ihrer Einbindung in ökologische Umwelten und soziale Lebensstrukturen zu untersuchen. Anhand der Herausbildung historischer Wirtschaftsweisen wird gezeigt, wie eine neue Sicht des Menschen und der Natur, die an die Weisheit vergangener naturnaher Lebensweisen anknüpft, den Orientierungsrahmen einer auf Harmonie, Dauer und Stabilität gegründeten Wirtschaftsweise bildet. Am Beispiel der Ökosystemtheorie lässt sich demonstrieren, auf welche Weise ökonomisches Handeln wieder an die Kreislaufstrukturen der Naturprozesse rückgekoppelt werden kann. Das Bild der Nachhaltigkeit skizziert den Typus einer Wirtschaftsweise, die auf vielfältige symbiotische Beziehungen zwischen Mensch und Mitwelt gründet. Die Menschheit ist nur ein Spross am großen Baum des Lebens und kann ihre vollen Lebensmöglichkeiten letztlich nicht über die Herrschaft und Ausbeutung anderer Wesen, sondern nur im Einfügen in die große Kette des Seins verwirklichen. Die Bioökonomie setzt gegen die Reduktion aller Qualitäten auf Geld, Preise, Gewinne und Kosten das wirtschaftliche Denken wieder in Bezug zu seinem Ausgangspunkt: der Umformung von Naturgütern und der sozialen Interaktion von Menschen in der gesellschaftlichen Produktion. Während in der Mainstream-Ökonomie die Natur nur als Ressourcen- und Vorratslagerstätte, Abfalldeponie und Erholungsraum für gestresste Städter auftaucht, sieht das neue bioökonomische Paradigma in der Natur vor allem die ursprüngliche Wertpotentialität, die Schöpferin und Bewahrerin der gesellschaftlichen Reproduktion, deren lebensspendende Funktionen durch ökonomisches Handeln nicht zerstört werden dürfen.

Eine solche Form des Wirtschaftens muss kein frommer Wunschtraum sein. Von Ökosteuern über Dezentralisierungsstrategien, von der Umweltanalyse im Betrieb und der Öko-Bilanzierung, von ökologischen Markenzeichen und anerkannten Gütesiegeln bis hin zur Umkehrung der Beweislast im Umweltrecht spannt sich der Bogen konkreter und operationalisierbarer, ökologisch-ökonomischer Handlungsinstrumente, die betrieblich und gesellschaftlich umsetzbar sind. Aber letztlich können diese Instrumente nur greifen, wenn sie von einem neuen Denken und einem neuen Lebensgefühl getragen werden. An die Stelle des biblisch legitimierten und durch den Industralismus zum grausamen Gipfel getriebenen menschlichen Herrschaftsanspruchs über die Natur muss die Erkenntnis der biosphärischen Gleichheit aller Wesen treten. Wenn nicht mehr Gier, Prestigesucht und Eitelkeit die vornehmlichen Triebkräfte unseres Handelns sind, dann können Einfachheit, Genügsamkeit und Kooperation zu den Gestaltungsfermenten einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Wirtschaftsweise werden.

Das vorliegende Buch will einen Beitrag zu diesem paradigmatischen Wandel leisten. Viele Menschen haben in der einen oder anderen Form zu seiner Entstehung beigetragen. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Besonderen Dank aussprechen möchte ich meiner Frau Dagmar Wagner für ihre Ermutigung.

I. Die Außenwelt der Innenwelt: Naturzerstörung und die Ökologie der inneren Räume

Vielfältig sind die Leiden des Menschen in der modernen industriellen Lebenswelt. Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen geht mit ökonomischer Ausbeutung, Entfremdung im Arbeitsprozess und Anonymisierung in den sozialen Verhältnissen einher. Weltweit herrschen Krieg und Gewalt, gibt es starke Tendenzen zur Brutalisierung der Lebensverhältnisse und der gesellschaftlichen Sanktion offenkundigen Unrechts. Viele Versprechungen der kulturrevolutionären Bewegung der sechziger und siebziger Jahre sind unerfüllt geblieben oder sogar in ihr Gegenteil umgeschlagen. Fast scheint es, als ließen Naturzerstörung und gesellschaftliche Kälte keinen Raum mehr für das Bestreben nach utopisch egalitärer Lebensverwirklichung. Erstickt so der Traum eines anderen Lebens in Harmonie mit der Natur und allen Wesen in den Systemrationalitäten von Geld und Macht? Die Symbole der Auflehnung gegen die tradierte Ordnung wurden kommerzialisiert und haben sich in monetäre Zeichen im Dienste der industriell-kapitalistischen Systemrationalität verwandelt. Das libidinöse Feuer sexueller Revolution hat nicht zum Flächenbrand einander liebender Herzen, sondern zur Werbung und Medien unappetitlich durchdringenden Pornographisierung der Gesellschaft geführt. Körper und Sinne deformieren im Dschungel virtueller Scheinwelten, bis den Menschen die eigene Erfahrung selbst fremd wird. Natur wird vollends zum anderen, zum Außen des eigenen Selbst, gleich der eigenen Körper- und Sinnlichkeit, die zum bloßen Rädchen im Getriebe industriell-kapitalistischer Systemzwänge mutiert.

Richten wir den Blick von den zahlreichen Deformationen der modernen Lebenswelt vor allem auf jene katastrophalen Fehlentwicklungen, die den Bestand der Gattung und das biosphärische Lebensgleichgewicht am Offensichtlichsten bedrohen. Vielleicht wird so deutlich, dass die Art und Weise, wie wir mit dem ökologischen Lebensumwelten umgehen, nur der nach außen gewendete Ausdruck einer psycho-sozialen Konstitution ist, die ganz auf den Machtwillen eines sich dauerhaft dünkenden Selbst gründet. All unser Handeln geht von diesem Bild eines Selbst aus. Doch ist dieses Selbst nicht mehr als eine bloße Imagination? Beschreibt das Bild einer flüchtigen und fragilen Blase, die jeden Moment platzen und wieder in das Reich des Formlosen eintreten kann, nicht viel treffender die temporäre und vergängliche Struktur unseres In-der-Welt-Seins. Der Blick auf die grundlegende existentielle Situation des Menschen ist für viele mit tiefstem Unbehagen verbunden. Aber es gibt ja bekanntlich angenehme Zerstreuung und wohltuende Ablenkung. War für den frühen Menschen der gefüllte Magen das wichtigste Mittel Thanatos zu bannen, so hat die industrielle Lebenskultur eine erstaunlich breite Palette höchst differenzierter Zerstreuungen zu bieten. Außerdem gibt es die moderne Technik und Medizin, den Stahlbetonbau und die Humangenetik, Fliegentod und die Lebensmittelchemie, die alle den Körper mit einem sichern Gefüge von Kasematten und vorgelagerten Schutzräumen umgeben und so das Gefühl von Stabilität und Sicherheit in einer Welt elementarer existentieller Unsicherheit kreieren. Das auf Dominanz über die Natur gerichtete Herrschaftswissen und die vor allem nach außen zielende Technikentwicklung werden so zu mächtigen Instrumenten, die menschliche Gattung aus der Mannigfaltigkeit der anderen Lebensformen in spezifischer Weise herauszuheben. Vernunft wird zum Instrument der Begierde und zum Regulator des Erwerbs orientierten Anteils unserer Natur, anstelle derjenigen Kraft, die unseren Aktivitäten Richtung und Orientierung gibt. Dem Einsichtigen konnte jedoch von Anfang an nicht verborgen bleiben, dass dieser Weg das existentielle Dilemma nicht lösen kann. Und wie die kulturellen Hervorbringungen gleich nächtlichen Träumen entstehen und schwinden und wir noch dabei sind, die Scherben und Fragmente dieser fragilen Konstrukte vergangener Epochen zu sichern und zu katalogisieren, taucht vor dem reflektierenden Auge bereits das Damoklesschwert der Selbstvernichtung auf, geschwungen von dem jüngsten Pfröpfling nach außen gerichteter existentieller Daseinsbewältigung: der industriellen Lebenskultur. Wo vergangene Kulturen allenfalls ihre eigene Existenz bedrohen konnten, bringt der Industrialismus einen neuartigen Kulminationspunkt existenzieller Gefährdung: die potentielle Auslöschung der gesamten Gattung und die dauerhafte Beschädigung des globalen Gleichgewichts.

Sprechen wir über Wirtschaft und Ökologie, so sprechen wir immer zugleich über die Art und Weise unseres In-der Welt-Seins, über unsere existentielle Situation. Den Begriffen der Ökologie und Ökonomie kommt so neben ihren spezifischen Bedeutungsgehalten immer zugleich die Funktion von Metaphern zur Charakterisierung von Inhalten zu, die mit eben diesen Begriffen nur annäherungsweise ausgedrückt werden können. Die Reflexion über die Begriffe der Diagnose kann uns vielleicht helfen, auch eine mögliche Sprachform für die Therapie zu finden. Wenn wir über Schadstoffe, Recycling, Kontraproduktivität oder ökologisches Gleichgewicht sprechen, so geht es dabei niemals nur um das Außen menschlicher Naturbestimmung, sondern immer auch um Formen der Versprachlichung innerer Erfahrung. Wenn wir also im Folgenden die äußeren Aspekte der Krise von Mensch und Umwelt thematisieren, darf dieses Innen nicht aus dem Blick zu geraten.

Die verheerenden Umweltzerstörungen zeigen es immer deutlicher: die Dynamik industriellen Wirtschaftens steht im Gegensatz zu den Steuerungsprinzipien der Natur. Während in Natursystemen die grundlegende Tendenz in Richtung Stabilität und Gleichgewicht geht, ist die industrielle Lebensweise durch eine selbstzerstörerische und unregulierte Wachstumsdynamik bestimmt. Ivan Illich[9] hat den Begriff der Kontraproduktivität geprägt, um ein verbreitetes Phänomen industrieller Wachstumswirtschaften zu beschreiben: Ab einer bestimmten Schwelle beginnen die Einrichtungen dieser Gesellschaften mehr Schaden zu stiften als Nutzen abzuwerfen. Dadurch entfernen sie sich immer weiter von den Zielen, für die sie ursprünglich entwickelt wurden. Das moderne Verkehrswesen, das Gesundheitswesen und die Erziehungseinrichtungen sind Beispiele für solche kontraproduktiven Systeme. Trotz immens steigender Aufwendungen bringen sie immer weniger Nutzen. Das Verkehrssystem zum Beispiel ermöglicht es kaum noch schneller voranzukommen. Seine kontraproduktiven Folgen sind die Zerstörung natürlicher Lebensräume durch Betonschneisen und - allein in Europa - jährlich Hunderttausend Verkehrstote und Millionen Verletzte, ganz zu schweigen von der allergrößten Gefährdung: der Vergiftung der Atmosphäre durch Autoabgase. In der EU summieren sich die externen Kosten des Straßenverkehrs auf 650 Mrd. Euro pro Jahr, das sind 7% des europäischen BIP.[10] Diese externen Kosten beziehen sich vor allem auf Umweltverschmutzung, Lärm und Unfälle, die von der Allgemeinheit bezahlt werden. Würden nach einer vom Europäischen Parlament durchgeführten Studie diese Ausgaben alle umgelegt, so müsste jeder Bürger pro Jahr 750 Euro zuschießen[11].

Was für einzelne Einrichtungen gilt, lässt sich auch in der Wirtschaft als Ganzes beobachten. Unsere industriell geprägte Lebensweise selbst ist kontraproduktiv. Um die schädlichen Folgen des Wachstums abzufangen, wurden in der Bundesrepublik nach der offiziellen Statistik jährlich zuletzt 1,4% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgegeben.[12] Nach Berechnungen von C. Leipert (Wissenschaftsladen Berlin) ist die tatsächliche Rate jedoch viel höher und lag zur Zeit seiner Berechnung bei über 10%, wenn alle Maßnahmen des Umweltschutzes und für erhöhte Gesundheitsausgaben infolge neuer Umweltgefahren eingerechnet werden. 1970 wurden erst ca. 5% des BIP für solche Zwecke verwendet.[13] Viele der Schäden, die das weltweite Industriesystem verursacht, können zudem überhaupt nicht in Geld ausgedrückt werden und machen sich vielfach erst im Verlauf von Jahrzehnten bemerkbar. Der steigende Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre, von dem der weltweite Temperaturanstieg ausgeht, das Ozonloch, die 9.3 Mio. Hektar Wald, die pro Jahr auf der Erde vernichtet werden, wie auch die Ausrottung zahlloser Pflanzen- und Tierarten - offenbaren alle die verheerenden, kontraproduktiven Folgen unserer industriellen Lebenskultur, deren überwiegender Teil in keiner Kostenrechnung erscheint und überhaupt nicht in Mark und Pfennig ermittelt werden kann. Täglich rotten wir vielleicht zehn, nach anderen Schätzungen sogar fünfzig Tier- und Pflanzenarten aus. Der Biologe Edward O. Wilson schätzt das Artensterben auf 30.000 Spezies pro Jahr.[14] Nach der Studie Gobal 2000 werden Hundertausende von Arten - vielleicht 20% aller Arten auf der Erde - unwiederbringlich - verlorengehen. Dazu kommt die schleichende Vergiftung der Atmosphäre. Pro Sekunde blasen wir rund 800 Tonnen Treibhausgase in die Luft.[15] Allein zwischen den Jahren 2006 und 2010 sind die Treibhausgasemissionen in den 40 erfassten Industriestaaten um 2,3% gestiegen.[16]

Kaum in Zahlen ausdrückbar sind die lokalen Umweltkatastrophen, vor allen in den Ländern der Dritten Welt. So ist in Mexiko City oder in Wuhan (China) die Luft so schlecht, dass kaum mehr ein Kind ohne eine chronische Lungenkrankheit groß wird.[17] Die Kontraproduktivität industrieller Wachstumswirtschaften manifestiert sich nicht nur in der zunehmenden Vergiftung der natürlichen Lebensumwelt, sondern drückt sich - was die Verfügbarkeit von Energie betrifft - auch in steigenden Kosten der Energiegewinnung und -verarbeitung aus. Aufgrund der zunehmenden Knappheit vieler Ressourcen muss immer tiefer gegraben und müssen immer entfernter liegende Lagerstätten ausgebeutet werden, das heißt die Energieerschließungs- und -verarbeitungskosten steigen, während real immer weniger Energie verfügbar ist.[18]

Auch die weltweite Ungleichverteilung an Energie, Eigentum und Lebenschancen zeigt die kontraproduktive Tendenz unseres way of life. Zwar weichen die Berechnungen im Einzelnen voneinander ab, die meisten kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass sich heute 40% der Weltbevölkerung mit nur 3% des globalen Wohlstandes begnügen müssen. Stellt man sich die Erde mit ihren 7 Mrd. Bewohnern als ein Dorf mit nur 100 Familien vor, so verbrauchen 7 Familien 80% der gesamten Energie und besitzen 60% des Dorfes. 60 Familien müssten sich auf einem Zehntel der Dorffläche zusammendrängen und 20 Familien hätten ein hundertmal höheres Bruttoinlandsprodukt als die übrigen.[19] Ähnliches gilt auch für das Maß der verursachten Umweltzerstörung. Ein Amerikaner verbrennt im Durchschnitt 5 Tonnen fossiler Brennstoffe pro Jahr (ein Deutscher zum Vergleich 2,9 Tonnen) und belastet das ökologische System 35-mal stärker als ein Inder und 280-mal stärker als ein Haitianer. Während weltweit Millionen von Menschen unterernährt sind, wurden in manchen Jahren von der Europäischen Gemeinschaft Millionen von Euro für die Vernichtung von überschüssigem Obst und Gemüse ausgegeben, pro Einwohner werden 179 kg vernichtet, mit steigender Tendenz.[20]

Umweltkatastrophen - von der Giftgaskatastrophe im indischen Bhopal, über Tschernobyl, den verheerenden Schäden des Golfkrieges bis zum Robbensterben - kommen und gehen, ohne dass es zu einem wirklich einschneidenden Wandel kommt. Die Debatte um Wachstumsbegrenzungen wird oft noch der Unwissenschaftlichkeit bezichtigt[21] oder als düsterer Pessimismus diffamiert. Ja, kaum als sie begonnen hatte, wurde sie bereits für obsolet erklärt.[22] Auch die vielen kleinen Umweltschutzmaßnahmen hinsichtlich einzelner Gefährdungsbereiche können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die innere Dynamik der industriellen Wachstumswirtschaft die Menschheit weiter auf einem harten Kollisionskurs gegen die natürliche Umwelt steuert.

Seit mit der ersten Studie des Club of Rome zu Beginn der siebziger Jahre die Umweltkrise in das öffentliche Bewusstsein getreten ist, haben sich inzwischen sowohl der Gegenstand als auch die strategische Orientierung der Umweltdiskussion gewandelt. Durch die öffentliche Wahrnehmung der voranschreitenden Umweltzerstörung verlagerten sich die Diskussionen von den Problemen der Energie- und Rohstoffknappheit hin zu den verheerenden ökologischen Vernichtungen unserer natürlichen Mitwelt durch das Industriesystems. Dementsprechend geht es im Bereich der Prophylaxe und Therapie heute oft mehr um Probleme der Emissionsvermeidung und Schadstoffkontrolle als um Fragen der Rohstoff- und Energieverknappung, die noch im Mittelpunkt der Umweltdiskussionen der siebziger Jahre standen. Man kann also sagen, dass es in der Diskussion eine Verschiebung des Gegenstandes vom Knappheits- zum Verschmutzungsproblem hin gegeben hat. Dennoch wäre es falsch, Entwarnung an der Knappheitsfront zu melden. Die meisten der Prognosen, die behaupten, dass Engpässe an Rohstoffen und Energie in naher Zukunft nicht zu erwarten seien[23], gehen lediglich von den verfügbaren Bruttoenergien aus und stellen nicht hinreichend die Tatsache in Rechnung, dass durch die Ausbeutung immer entfernter liegender und schwerer zugänglicher Lagerstätten zusätzliche Energiekosten anfallen.[24] Steigende Energieerschließungskosten manifestieren sich häufig in zunehmenden Umweltschäden.

Weil die Aufnahmekapazität der Umwelt für Schadstoffe begrenzt ist, sind viele Umweltschädigungen irreparabel. Jede Zerstörung der Natursysteme schlägt auf die menschliche Lebenssphäre zurück, weil der Reichtum der Natur die Grundlage jeglicher Produktion und jeglichen Konsums - heute und in der Zukunft - bildet. Die sogenannte Übernutzung der Ökoreserven und der Verbrauch erschöpflicher Rohstoff- und Energievorräte verursacht steigende Kosten, die in der Regel jedoch nicht von den jeweiligen Verursachern, sondern von der Allgemeinheit getragen werden müssen. So zum Beispiel die negativen Folgekosten des Straßenverkehrs, die sich u.a. aus den Folgekosten von Straßenverkehrsunfällen und bereinigten Verkehrswegeausgaben ergeben. Was im Bruttoinlandsprodukt als Wachstum erscheint, sind zu einem nicht unerheblichen Teil Kosten der Regulierung von Umweltschäden. Viele ökonomische Berechnungsverfahren stellen die tatsächlichen Verhältnisse völlig auf den Kopf, indem sie solche „Negativkosten” als Wertsteigerungen verbuchen. Folglich tauchen sie im BIP mit positiven Vorzeichen auf und indizieren somit Wachstumszuwächse, wo in Wirklichkeit Schädigung und Zerstörung vorliegen. Die Erfolge vieler ökologisch sinnvoller Einzelmaßnahmen werden zudem durch sprunghaft steigende ökologische Gefährdungen in anderen Bereichen wieder mehr als ausgeglichen. Schon 1992/93 stellte der Bericht des Umweltbundesamtes Daten zur Umwelt fest, dass der zurückgehende Ausstoß von Stickoxiden bei PKW aufgrund der Verwendung von Katalysatoren durch den immens steigenden Straßengüterverkehr bereits zu dieser Zeit glatt überrollt wurde.[25]

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