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Meditation, Gedächtnis und das alternde Gehirn
Newberg wollte herausfinden, ob Meditation sich auf Patienten mit Gedächtnisproblemen positiv auswirkt und deren kognitive Leistungen verbessert, und wenn ja, ob diese Effekte nur vorübergehend oder von Dauer sind. Als Meditationsform für seine Studie wählte er „Kirtan Kriya“, eine Technik aus der spirituellen Tradition Nordindiens, die drei Elemente integriert: Atmung, Klang und Bewegung. Im Zentrum steht die bewusste Atemregulierung. Das zweite Element der Kirtan-Kriya-Meditation besteht darin, in stetiger Wiederholung die Klänge Sa, Ta, Na und Ma laut oder in Gedanken zu rezitieren. Diese sogenannten Mantras seien vergleichbar mit der katholischen Praxis, kurze Gebete für eine bestimmte Zeit kontinuierlich zu wiederholen. Gemäß der Kirtan-Kriya-Tradition sprechen die Meditierenden jede einzelne Silbe des Mantras Sa Ta Na Ma mit Bedacht aus, während sie mit den Spitzen von Zeige-, Mittel-, Ring- und kleinem Finger der Reihe nach die Daumenspitze derselben Hand berühren. Diese Technik sei einfach zu erlernen und zu praktizieren. Sie sei vergleichbar mit dem Gebrauch von Rosenkränzen, Gebetsschnüren und Gebetsketten, einer Technik, die im Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus Verwendung findet. „Das Experiment war so aufgebaut, dass die Testpersonen weder einen spezifischen religiösen Glauben annehmen noch länger als zwölf Minuten am Tag meditieren mussten.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 42) Die Teilnehmer dieser Studie hatten zuvor noch nie meditiert und nur acht Wochen Zeit, in denen sie täglich zwölf Minuten meditierten.
Newberg macht keine konkreten Angaben darüber, wie viele Gedächtnispatienten an dieser Studie teilnahmen, berichtet jedoch ausführlich von einem Industriemechaniker mit dem Decknamen „Gus“. Gus wollte etwas gegen sein schwerfälliges Gehirn, gegen seine Gedächtnisprobleme, unternehmen. Er hatte noch nie meditiert und interessierte sich nicht im Geringsten für Religion. Als Erstes wurde bei ihm ein Gehirnscan durchgeführt, der als Kontrolle diente, um diesen mit den Scans am Ende des achtwöchigen Meditationstrainings vergleichen zu können. Dann erklärte man Gus die Meditation im Detail und zeigte ihm ein Video von einer Person, die nach dieser Technik meditierte. Nachdem Gus das Mantra eine Weile lang geübt hatte, wurde der zweite Gehirnscan durchgeführt, der Aufschluss darüber geben sollte, wie ein untrainiertes Gehirn sich während der Meditation verhält. Dazu spritzte man Gus wenige Minuten vor Ende der Meditation eine leicht radioaktive Substanz, die sich vorübergehend im Gehirn ablagert und den zerebralen Blutfluss markiert. Nach acht Wochen täglicher Übung bat man Gus zu neuen Aufnahmen ins Labor. „Es hat mir sehr gut gefallen“, sagte er. „Es war wunderbar, und ich habe mir fest vorgenommen, weiter zu meditieren.“ Seine Reaktion war die gleiche wie die der anderen Testpersonen, die genauso wie Gus unter Gedächtnisproblemen litten (Newberg & Waldman 2010 b, 45).
Hat die regelmäßige tägliche Meditation innerhalb von acht Wochen die Gehirnfunktionen von Gus verändert? Newberg sagt Ja und betont, dass im Vergleich zum ersten Hirnscan der zweite, welcher im Ruhezustand durchgeführt wurde, eine erhebliche Intensivierung der neuronalen Aktivität im Präfrontalkortex von Gus zeigte. Diese Hirnregion helfe uns unter anderem dabei, klare Gedanken zu fassen und uns auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Eine erhöhte Aktivität war auch im vorderen cingulären Kortex festzustellen, der für die emotionale Regulierung, für Lernprozesse und für das Erinnerungsvermögen wichtig sei. Diese Hirnstruktur spiele zudem eine zentrale Rolle sowohl bei der Minderung von Angst und Reizbarkeit als auch bei der Förderung des sozialen Bewusstseins. Sie sei allerdings auch sehr anfällig für Altersschäden. Die Aktivierung des präfrontalen und des vorderen cingulären Kortex verbessere nicht nur das Gedächtnis und die Kognition, sondern wirke auch der Depression, die häufig ein Symptom altersbedingter Erkrankungen ist, entgegen. Bei Alzheimer- und Parkinson-Patienten habe man im vorderen cingulären Kortex eine verminderte Aktivität festgestellt. „Daraus schließen wir, dass man mit Hilfe dieser Meditationsübungen in der Lage sein sollte, die von diesen Krankheiten verursachten Abnutzungsprozesse zu verlangsamen. Des Weiteren hat man feststellen können, dass die Alzheimer-Krankheit bei Menschen, die regelmäßig persönliche religiöse Rituale ausüben oder auf einer höheren spirituellen Ebene schwingen, langsamer fortschreitet.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 47)
Die Kirtan-Kriya-Meditation aktiviere einen bestimmten Schaltkreis, der ansonsten im Alter abnimmt. Dieser setze sich aus dem Präfrontalkortex, dem cingulären Kortex, den Basalganglien und dem Thalamus zusammen. Demnach werden wir während der Meditation konzentrierter und wachsamer (Präfrontalkortex), gesellschaftsbewusster (cingulärer Kortex), wir können unsere Körperbewegungen und Emotionen besser kontrollieren (Basalganglien) und dies beeinflusse auch unsere Wahrnehmung der Außenwelt (Thalamus) durch die Sinne (vgl. Newberg & Waldman 2010 b, 49).
Am Ende des Meditationstrainings wurde Gus gebeten, im Labor zu meditieren. Man injizierte ihm erneut einen Tracer, um eine weitere Aufnahme von seinem Gehirn machen zu können. Man wollte testen, ob er jetzt während der Meditation anders reagierte als zu Beginn des Trainingsprogramms. „Wir konnten gegen Ende der zwölfminütigen Meditation tatsächlich reduzierte Aktivitäten im Parietallappen feststellen, das heißt in dem Teil der Großhirnrinde, in dem unser Selbstgefühl entsteht.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 50) Gus wies ferner ein höheres Aktivitätsniveau in den Basalganglien auf. Diese seien einerseits an der Steuerung der Willkürmotorik, der Körperhaltung und der sequenziellen Bewegungen, andererseits an der Erinnerungsgestaltung, Verhaltenskontrolle und kognitiven Flexibilität beteiligt. Bei den Gedächtnispatienten habe man außerdem im Kleinhirn (cerebellum), das an der Ausführung bewusster Körperbewegungen mitwirkt, gesteigerte Aktivitäten feststellen können.
Bei allen Teilnehmern wurde vor Beginn und nach Abschluss des Meditationstrainings der sogenannte „Pfadfinder-“ oder „Trail-Making-Test“ durchgeführt. Dieser Test ist eine Variante des „Zahlen-Verbindungs-Tests“ und erfordert neben visueller Wahrnehmungsorganisation auch die visuell-motorische Koordination und visuell-räumliche Fertigkeiten. Die Ergebnisse zeigten, dass die Teilnehmer ihr Erinnerungs- und Konzentrationsvermögen im Durchschnitt um zehn bis zwanzig Prozent verbessern konnten. Damit, so Newberg, sei endlich bewiesen, dass die Funktionen des Gehirns in weniger als zwei Monaten grundlegend verändert werden können. Zudem werde dadurch bestätigt, dass jeder Mensch die Kraft besitze, sein Gehirn bewusst zu verändern und dessen Funktionen viel schneller zu verbessern, als es die Wissenschaft bisher für möglich gehalten habe.
Bei der Deutung der Resultate seiner Studie betont Newberg besonders die Kraft der selektiven Aufmerksamkeit. Gus sei ein perfektes Beispiel für die erstaunliche Fähigkeit des Gehirns, sich selbst zu heilen und zu verändern. Das Gehirn sei in der Lage, genau jene Regionen zu verändern, die uns einzigartig und menschlich machen, jene des Stirnhirns. Dort liege auch der Schlüssel zur Verwirklichung unserer Träume. Durch tägliches Meditieren sind wir imstande, unsere Aufmerksamkeit derart zu stärken, dass wir uns auf nahezu jedes angestrebte Ziel konzentrieren und zugleich unsere Gedächtnisfunktionen verbessern können.
Die Konzentration der Aufmerksamkeit begünstige die Bildung neuer Schaltkreise im Gehirn. Sind diese erst einmal fest etabliert, dann aktivieren sie ganz automatisch die Regionen, die für die motivierenden Aktivitäten zuständig sind. Wie stark diese Schaltkreise werden, hänge davon ab, wie oft man sie aktiviert. Der Psychologe Donald Hebb formulierte die bekannte Lernregel „cells that fire together, wire together“, die besagt, dass die Verbindung zwischen zwei Neuronen gefestigt wird, wenn beide gemeinsam feuern.
„Gus hat also sein Ziel erreicht und sein Erinnerungsvermögen verbessert. Andere Testpersonen haben mit ähnlichen Meditationstechniken allerdings noch ganz andere Ziele erreichen können. Manche haben für sich einen dauerhaften Zustand der Ruhe und des Friedens gefunden, während wieder andere bei der Arbeit produktiver geworden sind. Ausschlaggebend dabei ist, dass man seinem Ziel in der Meditation intensiv und beständig nachgeht. Dann fängt das Gehirn nämlich an, diese Zielvorstellung als ein handfestes Objekt der Außenwelt zu betrachten, und es erhöht die Aktivitäten im Thalamus, der bei der Entstehung der Realität mitwirkt. Das zuvor nur gedachte Konzept nimmt immer wirklichere und greifbarere Formen an, woraufhin andere Teile des Gehirns dazu angeregt werden, mit bedachten Handlungen in die Welt einzugreifen.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 58)
Newberg unterstreicht, wie entscheidend der Glaube an die Erfüllung der eigenen Ziele ist. Dabei handle es sich nicht um Magie, sondern um die elementare Fähigkeit des Gehirns, die Ziele zu erreichen, die wir uns in den Kopf gesetzt haben. Das treffe auch auf das Verfolgen religiöser Ziele zu:
„Wer ein spirituelles Ziel vor Augen hat, der steigert auch aus neurologischer Sicht den Glauben, dass man geistige Wirklichkeiten erleben kann. Ebenso ist es möglich, dass Abraham, Moses, Mohammed, Jesus und Buddha ihre geistige Erleuchtung erreicht haben, weil sie sich jahrelang nahezu ausschließlich mit intensiver Meditation und Gebeten befasst haben. Gleichermaßen können auch Patienten, die wie Gus unter Gedächtnisproblemen leiden, ihr Erinnerungsvermögen mit täglichen Meditationen verbessern.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 59)
Seine Gedächtnisstudie habe die Hypothese bestätigt, dass die positiven Eigenschaften des Gebetes und der Meditation vor allem auf die Atemtechnik, die Entspannung und die Konzentration auf den Gegenstand der Meditation, und weniger auf eine bestimmte Theologie, zurückzuführen sind. Es genüge, das Ritual auszuführen, ohne dabei an Gott zu denken. Keiner der Teilnehmer der Gedächtnisstudie habe von irgendwelchen spirituellen Erfahrungen berichtet und niemand habe das Wort Gott auch nur erwähnt. Newberg behauptet, man könne nahezu jede religiöse Ideologie von einer spirituellen Übung auf eine andere übertragen und trotzdem den gleichen neurologischen Nutzen daraus ziehen. Er betont, dass seine Untersuchung an acht buddhistischen Meditierern und drei Nonnen beim Gebet gezeigt habe, dass die neurologischen Veränderungen in beiden Gruppen fast identisch waren, obwohl sie jeweils ganz andere Glaubensvorstellungen hatten. Bei allen war eine verminderte Aktivität im Scheitellappenbereich zu beobachten, die zum Gefühl der Zeit- und Raumlosigkeit führte. In seiner Studie an zwölf Langzeitmeditierern habe er entdeckt, dass diese im Ruhezustand eine höhere neuronale Aktivität in den Scheitellappen aufwiesen als die Nichtmeditierer. Außerdem habe er festgestellt, dass bei ihnen im Ruhezustand eine Hälfte des Thalamus aktiver war als die andere. Normalerweise sind die Aktivitäten in beiden Thalamushälften gleich. Newberg deutet diesen Befund folgendermaßen:
„Je mehr man sich auf Gott konzentriert, desto realistischer fühlt sich Gott an, aber diese Realität ist keineswegs symmetrisch. Stattdessen wird diese Realität asymmetrisch wahrgenommen, das heißt, sie unterscheidet sich von dem normalen Weltbild eines Menschen. Bei fortgeschrittenen Meditierenden wird der normale Bewusstseinszustand durch die asymmetrische Realität ersetzt, sodass Gott, Ruhe und Einheit nicht mehr nur Gedanken sind, sondern zu spürbaren Erfahrungen werden, die genauso echt sind wie das Buch, das Sie in Händen halten.
Der Thalamus unterscheidet nicht zwischen inneren und äußeren Realitäten, daher kann jede Vorstellung realitätsnahe Formen annehmen, wenn man sie sich nur lange genug vor Augen führt. Der eigene Glaube wird zur neurologischen Realität und das Gehirn reagiert dementsprechend. Wenn jemand über andere Glaubens- oder Zielvorstellungen meditiert, nimmt diese andere Wahrheit realitätsgetreue Formen an.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 91)
Drogen und religiöse Erfahrungen
Lassen sich religiöse Erfahrungen mithilfe von Drogen hervorrufen? Halluzinogene Pflanzen wie der Peyote-Kaktus und das Lianengewächs Ayahuasca wurden verwendet, um mit spirituellen Wesen und Kräften zu kommunizieren. Meskalin des Peyote-Kaktus, das Dimethyltryptamin der Ayahuasca-Pflanze und LSD stimulieren zahlreiche Zentren des Gehirns und führen zu Vorstellungen und sinnlichen Wahrnehmungen, denen häufig ein religiöser Charakter zugesprochen wird. Newberg unterstreicht, dass sich Experten aus Psychologie und Religion darin einig sind, dass spirituelle Erfahrungen, die durch Drogen hervorgerufen wurden, keine spirituelle Grundlage schaffen, nach der man sein Leben ausrichten könnte. Während die Meditation die Aktivitäten im Stirnhirn sanft anrege und jene in den emotionalen Zentren reduziere, erzeugen psychedelische Drogen im gesamten Gehirn überschüssige Reize, die den Symptomen akuter psychotischer Episoden ähneln. Es sei viel schwieriger, Erfahrungen, die durch Drogen bewirkt wurden, praktisch und sinnvoll zu integrieren.
Newberg bezieht sich auf eine Untersuchung an der medizinischen Fakultät der Johns-Hopkins-Universität, die in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregte. In dieser Studie verabreichte man 36 Teilnehmern, die zuvor noch nie psychedelische Drogen genommen hatten, zu verschiedenen Zeitpunkten zwei unterschiedliche Drogen: Psilocybin (einen Wirkstoff, der in sogenannten Zauberpilzen vorkommt) oder Ritalin, ein verschreibungspflichtiges Stimulans. Keiner der Probanden wusste, welche Droge ihm verabreicht wurde. Personen, die Psilocybin bekommen hatten, berichteten von einem Gefühl der Einheit und Heiligkeit, von intuitiver Erkenntnis und Unaussprechlichkeit. Zwei Monate später brachten sie diese Erfahrung noch immer mit intensivierten Gefühlen von Altruismus, Positivität und Konstruktivität in Verbindung. Die meisten von ihnen zählten diese Erfahrung zu den Top-Ten-Erlebnissen ihres Lebens, ein Drittel nannte sie ihre spirituell wohl bedeutsamste Erfahrung überhaupt. Bei einigen Teilnehmern, denen Ritalin verabreicht worden war, traten verstärkt Angstzustände auf, und etwa zehn Prozent von ihnen weigerten sich, eine derartige Erfahrung nochmal über sich ergehen zu lassen. Vereinzelt gab es unter ihnen auch Berichte von mystischen Erfahrungen. Newberg folgert: „Wir wissen noch nicht genau, wie und warum bestimmte Drogen unsere spirituellen und religiösen Glaubensvorstellungen beeinflussen, aber eines steht fest: Meditation ist sicherer.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 96)
Aus seinen Untersuchungen zieht Newberg den Schluss, dass unterschiedliche Meditationsübungen und Gebete einzelne Teile des Gehirns auf verschiedene Art und Weise beeinflussen. Da jeder Mensch eine andere Vorstellung von Gott besitze, könne man davon ausgehen, dass es Hunderte von verschiedenartigen neurologischen „Fingerabdrücken“ gibt. Es existiere weder ein „Ort Gottes“ im Gehirn noch lassen sich religiöse Glaubensvorstellungen nach einer einfachen Formel kategorisieren. Seine Forschungsergebnisse deuten darauf hin, „dass spirituelle Praktiken die kognitiven, emotionalen und erfahrungsbetonten Prozesse des Gehirns auf unendlich viele Arten beeinflussen können und dass jede einzelne Erfahrung zu einer unterschiedlichen Gotteserfahrung führt“ (Newberg & Waldman 2010 b, 99).
Alle Formen der Meditation und des Gebetes scheinen sich positiv auf die Hirnfunktionen sowie auf den physischen und psychischen Gesundheitszustand auszuwirken. Je länger und je häufiger man meditiere, desto stärker verändern sich die Hirnfunktionen. Nach nur einer oder zwei Sitzungen verändern sie sich wenig bis gar nicht. Nach nur acht Wochen täglicher Meditation zeigen sich bereits Anzeichen von kleinen, aber bedeutsamen Veränderungen. Wer täglich dreißig Minuten lang meditiere, und das viele Jahre lang, bei dem treten nicht nur während der Meditation, sondern auch im Ruhezustand die größten Unterschiede in der neuronalen Aktivität auf. Aus neurologischer Sicht sei dies erstaunlich und widerlege die verbreitete Annahme, man könne unbewusste Bereiche des Gehirns nicht bewusst beeinflussen. „Je mehr wir uns also mit spirituellen Praktiken beschäftigen, desto mehr Kontrolle gewinnen wir über unseren Körper, unseren Geist und unser Schicksal.“ (Newberg & Waldman 2010 b, 104)
Diskussion der Experimente Newbergs
Was haben die Untersuchungen von Newberg de facto an Daten zu Tage gefördert und wie aussagekräftig sind diese? Die Aufnahmen der regionalen zerebralen Durchblutung bei den acht buddhistischen Meditierern und den drei Nonnen korrelieren nach der Interpretation Newbergs mit den Spitzenmomenten ihrer Meditation und ihres Gebetes. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Alle Teilnehmer dieser Studie hatte man gebeten, an der Schnur zu ziehen, wenn sie den Eindruck hatten, sich dem Höhepunkt der Meditation zu nähern. Anschließend erfolgte die Injektion des Markierungsstoffes, und erst eine halbe Stunde später wurden die Gehirnaufnahmen gemacht. Das ist zu spät, um genau jenes zerebrale Durchblutungsmuster zu erfassen, das mit dem Erleben des Meditationshöhepunktes einherging. Wir wissen nicht, ob der Höhepunkt der Meditation und des Gebetes bei den Teilnehmern unvermindert in derselben Intensität fortdauerte oder ob sie sich zur Zeit der Aufnahmen nicht längst in einem anderen mentalen Zustand befanden. Von einer sauberen Korrelation zwischen den Spitzenmomenten der Meditation und den entsprechenden neuronalen Aktivitätsmustern kann keine Rede sein. Abgesehen davon erlaubt die sehr niedrige Zahl der Untersuchten keine weitreichenden Verallgemeinerungen und Schlussfolgerungen.
Newbergs Annahme, das veränderte Selbsterleben während der Meditation sei neurobiologisch auf die verminderte neuronale Aktivität in den Orientierungsarealen der Scheitellappen zurückzuführen, ist umstritten. Am Identitätserleben ist außer den Orientierungsarealen wohl noch eine ganze Reihe weiterer Hirnstrukturen beteiligt – vor allem unterhalb der Großhirnrinde liegende Strukturen, die mit Emotionen zu tun haben, und solche, die für die Selbsterhaltung des Organismus bzw. für die Aufrechterhaltung des innerorganismischen Gleichgewichts sorgen. Newberg selbst äußert in einer Fußnote die Vermutung, dass zum Selbsterleben subkortikale Felder, die mit der grundlegenden Selbsterhaltung zu tun haben, erforderlich sind (vgl. Newberg et al. 2003 a, 241). Der Neurologe Antonio Damasio unterstreicht, dass das Gefühl des Selbst auf neuronalen Mustern beruht, die von Augenblick zu Augenblick den physischen Zustand des gesamten Organismus in seinen vielen Bereichen erfassen. Er betont die zentrale Bedeutung des Körpers und der Emotionen für das Bewusstsein und das Selbst. Körperzustände bilden demnach den Urgrund unseres Lebensgefühls. Die tieferen Wurzeln des Selbst, auch des biografischen Selbst, das Identität und Person einschließt, gründen nach Damasio in jenen Gehirnmechanismen, die ununterbrochen und unbewusst für die Stabilität der Körperzustände sorgen, die zum Überleben notwendig sind. Diese befinden sich in subkortikalen Bereichen, im Hirnstamm, im Mittelhirn und Zwischenhirn (vgl. Damasio 1999).
Newbergs Buchtitel Wie Gott dein Gehirn verändert (How God Changes Your Brain) suggeriert, dass Gott in das elektrochemische Geschehen des Gehirns eingreift und dort seine „Fingerabdrücke“ hinterlässt. Nach der Lektüre gewinnt man jedoch den Eindruck, der Titel des Buches müsste lauten: Wie du dein Gehirn veränderst. Nicht Gott verändert unser Gehirn, so Newberg, sondern wir können es mithilfe verschiedener Meditationsmethoden bewusst verändern. Wir können diese Methoden erfolgreich anwenden, ohne dabei den religiösen Hintergrund, dem sie entstammen, berücksichtigen zu müssen. Jede religiöse Ideologie lasse sich beliebig von einer Übung auf die andere übertragen, und trotzdem bleibe der neurologische Nutzen der gleiche. Es sei nicht von Belang, wie wir an Gott glauben; diese Methoden und Praktiken funktionieren auch dann, wenn wir gar nicht an ihn glauben.
Newberg empfiehlt uns zur Gesunderhaltung des Gehirns und zur Verbesserung unseres körperlichen, geistigen und spirituellen Zustandes ein Trainingsprogramm, das aus acht Methoden besteht. Der Rangfolge ihrer Wirksamkeit entsprechend sind dies: Glaube, Gespräche mit anderen, Aerobic, Meditieren, Gähnen, Bewusst entspannen, Geistig fit bleiben und Lächeln. Bei der Auswahl dieser acht besten Methoden habe er sich vor allem an neurowissenschaftlich belegte Ergebnisse gehalten. Keine dieser Methoden beruhe auf religiösen Glaubensrichtungen, aber wir können sie alle leicht in die spirituelle Tradition unserer Wahl einbinden (vgl. Newberg & Waldman 2010 b, Kap. 8).
Newbergs psycho-spiritueller Machbarkeits-Optimismus ist trotz der äußerst bescheidenen empirischen Faktenlage erstaunlich ungebrochen. Seine Aussage, jede Vorstellung könne realitätsnahe Formen annehmen, wenn man sie sich nur lange genug vor Augen führt, sowie die Behauptung: „Der eigene Glaube wird zur neurologischen Realität und das Gehirn reagiert dementsprechend“ (Newberg & Waldman 2010 b, 91) lassen sich wohl auch auf seine Deutungen der Hirnaufnahmen und auf die weitreichenden Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, anwenden.