Читать книгу: «Hans Fallada: Der Trinker – Band 186e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski», страница 2

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Kapitel drei

Kapitel drei

Erst, als unsere Streitereien begannen, merkte ich, wie fremd Magda und ich uns in den Jahren geworden waren, da sie ihre Hauswirtschaft besorgte und ich den Geschäften vorstand. Die ersten Male empfand ich wohl noch etwas wie Scham über unser Sichgehenlassen, und wenn ich merkte, dass ich Magda verletzt hatte, dass sie gar mit verweinten Augen umherging, schmerzte mich das fast so sehr wie sie selbst, und ich gelobte mir Besserung. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, und ich fürchte beinahe, er gewöhnt sich am raschesten, in einem Zustand von Erniedrigung zu leben. Es kam der Tag, da ich beim Anblick von Magdas verweinten Augen mir nicht mehr Besserung gelobte, sondern mit einer mit erschrockenem Staunen untermischten Befriedigung mir sagte: ‚Diesmal habe ich es dir aber ordentlich gegeben! Immer gewinnst du mit deiner raschen Zunge doch nicht die Oberhand über mich!’ Ich fand es schrecklich, dass ich so empfand, und doch fand ich es richtig, es befriedigte mich, so zu empfinden, so paradox dies auch klingen mag. Von da an war es nur ein kleiner Schritt bis dahin, wo ich sie bewusst zu verletzen suchte.

In jenem äußerst kritischen Zeitpunkt unserer Beziehungen waren die Lebensmittellieferungen für die Gefängnisverwaltung wie alle drei Jahre neu ausgeschrieben.

Wir haben in unserem Ort (gerade nicht zum Entzücken seiner Einwohner) das Zentralgefängnis der Provinz liegen, das ständig etwa fünfzehnhundert Häftlinge in seinen Mauern birgt. Seit neun Jahren hatten wir diese Lieferungen schon, Magda hatte sich seinerzeit sehr darum bemüht, sie zu erhalten. Bei den beiden späteren Vergebungen hatte sie immer nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch bei dem entscheidenden Oberinspektor der Verwaltung gemacht, und der Zuschlag war uns ohne weiteres zugefallen. Ich sah diese Lieferung für einen so selbstverständlichen Teil meines Geschäftes an, dass ich auch diesmal nicht weiter Aufhebens von der Sache machte: ich ließ das alte Angebot, dessen Preisgestaltung sich nun schon seit neun Jahren bewährt hatte, abschreiben und einreichen. Ich überlegte auch einen Besuch bei dem entscheidenden Oberinspektor, aber alles lief ja in seinen eingelaufenen Bahnen; ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, ich wusste, der Mann war mit Arbeit überlastet – kurz, ich hatte mindestens zehn gute Gründe, den Besuch zu unterlassen.


Danach traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als mich ein Schreiben der Gefängnisverwaltung mit wenigen dürren Worten dahin unterrichtete, dass mein Angebot abgelehnt und dass die Lieferungen einer anderen Firma zugeschlagen worden seien. Mein erster Gedanke war der: dass nur Magda nichts davon erfährt! Dann nahm ich meinen Hut und eilte zu dem Oberinspektor, jetzt den Besuch zu machen, der drei Wochen früher sinnvoll gewesen wäre. Ich wurde höflich, aber kühl aufgenommen. Der Oberinspektor bedauerte, dass die alte Geschäftsverbindung nun unterbrochen sei. Er habe aber gar nicht anders handeln können, da ein Teil der von mir genannten Preise längst überholt gewesen sei, mal nach der höheren, mal nach der niedrigeren Seite hin. Im Ganzen gleiche es sich wohl etwa aus, aber mein Angebot habe nun eben auf die maßgebenden Herren – ich möge seine Offenheit verzeihen – einfach einen schlechten Eindruck gemacht, als sei es meiner Firma ganz gleichgültig, ob sie den Zuschlag erhalte oder nicht. Ich erfuhr weiter, dass eine ganz junge, mit allen Mitteln aufstrebende Firma, die mir schon einige Male Ärger bereitet hatte, auch dieses Mal wieder als Sieger aus dem Rennen hervorgegangen war. Zum Schluss drückte der Oberinspektor noch in aller Höflichkeit die Hoffnung aus, in drei Jahren wieder mit meiner Firma in die alte Verbindung treten zu können, und ich war entlassen –!

Ich wusste, ich hatte mir in dem Gefängnisbüro nichts von meiner Bestürzung, ja, meiner Verzweiflung über diesen Fehlschlag anmerken lassen; ich hatte meine Erkundigung halb mit Höflichkeit, halb mit Neugier nach dem Namen des glücklichen Gewinners frisiert. Als ich aber wieder draußen vor den schweren Eisentoren des Gefängnisses stand, als der letzte Riegel rasselnd hinter mir zugeschoben war, sah ich in den hellen Sonnenschein dieses wunderbaren Frühlingstages wie jemand, der soeben aus einem schweren Traum erwacht ist und noch nicht weiß, ob er nun wirklich wach ist oder ob er noch immer unter dem Alpdruck des Traumes seufzt. Ich seufzte noch unter ihm, umsonst hatte das eiserne Gittertor mich zur Freiheit entlassen, ich blieb gefangen in meinen Sorgen und Misserfolgen.

Es war mir jetzt unmöglich, in die Stadt und auf mein Kontor zu gehen, vor allem aber musste ich mich erst sammeln, ehe ich vor Magda trat – ich ging fort von der Stadt und den Menschen, ich ging in die Felder und Wiesen hinaus, immer weiter fort, als könnte ich mir und meinen Sorgen entlaufen. Ich habe aber an diesem Tage nichts von dem frischen Smaragdgrün der jungen Saaten gesehen, ich habe nicht das eilige Glucksen der Bäche und die Trommelwirbel der Lerchen in der blaugoldenen Luft gehört: ich war grenzenlos allein mit mir und meinem Missgeschick. Mein Herz war so übervoll davon, dass nichts anderes mehr hineinkonnte.

Ich war mir ganz klar darüber, dass dies für mein Geschäft nicht mehr ein kleiner Fehlschlag war, der mit einem achselzuckenden Bedauern hingenommen werden konnte: die Lieferung der Nahrungsmittel für fünfzehnhundert Menschen war selbst bei bescheidenem Nutzen ein so wesentlicher Teil meines Umsatzes, dass sie nicht ohne einschneidende Veränderungen meines ganzen Betriebes hingenommen werden konnte. An einen Ersatz für diesen Ausfall war bei dem Mangel ähnlicher Gelegenheiten in unserer bescheidenen Provinzstadt nicht zu denken. Äußerste Tatkraft hätte die Zahl der Einzelgeschäfte um einige Dutzend steigern können, aber ganz abgesehen davon, dass dies noch lange keinen Ersatz für den Ausfall bedeutete, fühlte ich mich gerade jetzt zu dieser äußersten Tatkraft ganz unfähig. Aus irgendwelchen Gründen war ich schon seit fast einem Jahr unfrisch. Immer mehr neigte ich dazu, den Dingen ihren Lauf zu lassen und mich nicht zu sehr zu erregen. Ich war ruhebedürftig – warum weiß ich nicht. Vielleicht wurde ich früh alt. Es war mir klar, dass ich mindestens zwei Angestellte würde entlassen müssen, aber auch das berührte mich nicht einmal so sehr, obwohl ich wusste, wie sehr darüber geschwätzt werden würde. Nicht das Geschäft bekümmerte mich im Augenblick, sondern Magda. Immer wieder war mein Hauptgedanke, meine Hauptsorge: dass bloß Magda nichts davon erfährt! Wohl sagte ich mir, dass ich auf die Dauer die Entlassung von zwei Angestellten und den Verlust der Lieferungen überhaupt nicht vor ihr verbergen konnte. Aber ich log mir vor, dass alles darauf ankomme, dass sie nicht gerade jetzt davon erführe, dass ich in einigen Wochen vielleicht doch den einen oder anderen Ersatz gefunden haben könnte. Dann hatte ich wieder einen hellen Augenblick. Ich blieb stehen, stieß mit dem Fuß energisch gegen einen Stein im Staube des Weges und sagte zu mir: ‚Da Magda doch davon erfahren wird, ist es besser, sie erfährt es durch mich als durch anderer Leute Mund, und es ist wiederum besser, sie erfährt es heute, als irgendwann. Mit jedem Tag, den du dies aufschiebst, wird das Geständnis schwerer. Schließlich habe ich kein Verbrechen begangen, sondern nur eine Nachlässigkeit.’ Ich stieß wieder mit dem Fuß gegen den Stein: ‚Ich werde Magda einfach bitten, mir wieder im Geschäft zu helfen. Das versöhnt sie mit meinem Misserfolg und bringt mir und dem Betrieb nur Nutzen. Ich bin wirklich nicht sehr frisch und kann eine Hilfskraft gut gebrauchen ...!’ Aber diese hellen Augenblicke gingen schnell vorüber. Ich hatte stets so viel auf die Achtung der Leute und vor allem auf die Magdas gegeben. Ich hatte stets peinlich darauf gesehen, dass ich als der Chef respektiert wurde. Ich konnte es auch jetzt, gerade jetzt, nicht übers Herz bringen, von dieser Würde ein Jota abzulassen und mich gerade vor Magda zu demütigen. Nein, ich war entschlossen, die Sache selbst zu meistern, komme, was wolle. Ich mochte mir auch nicht von einer Frau helfen lassen, mit der ich mich fast täglich zankte. Es war klar vorauszusehen, dass sich diese Zänkereien bis ins Kontor fortsetzen würden – sie würde dort auf ihrem Willen beharren, ich würde widersprechen, sie würde mir meine Misserfolge vorwerfen – o nein, unmöglich!

Wieder stampfte ich mit dem Fuß auf, aber diesmal in den Staub des Weges. Ich sah hoch. Ich hatte keine Ahnung, wohin mich meine Füße getragen hatten, so sehr war ich in meine Sorgen versponnen gewesen. Ich stand in einem Dorf, nicht übermäßig weit von meiner Vaterstadt entfernt, einem Dorf, das wegen einiger reizender Birkenwäldchen und eines Sees ein beliebter Frühlingsausflugsort meiner Mitbürger ist. Aber an diesem Wochentag-Vormittag gab es hier noch keine Ausflügler, dafür ist man bei uns daheim zu fleißig. Ich stand gerade vor dem Gasthof, und ich spürte, dass ich Durst hatte. Ich trat in die niedrige, weite, aber dunkle Schankstube ein. Ich hatte sie immer nur erfüllt von vielen Städtern gesehen, die frühlingshaft hellen Kleider der Frauen hatten den Raum heller gemacht und ihm trotz seiner Niedrigkeit etwas Beschwingtes gegeben. Denn, wenn die Städter hier waren, hatten die Fenster offengestanden, auf den Tischen lagen dann bunte Decken, und überall gab es in hohen Vasen helle Sträuße von Birken. Jetzt war der Raum dunkel, auf den Tischen lag gelblich-bräunliches Wachstuch, es roch stickig, denn die Fenster waren fest verschlossen. Hinter der Theke stand ein junges Mädchen, dessen Haare schlecht zurechtgemacht und dessen Schürze schmutzig war, es flüsterte eifrig mit einem jungen Kerl, der nach seiner kalkbespritzten weißen Kleidung ein Maurer zu sein schien. Mein erster Impuls war der, umzukehren. Aber mein Durst und noch mehr das Gefühl, sofort wieder meinen Sorgen ausgeliefert zu sein, ließen mich stattdessen an die Theke treten.

„Geben Sie mir was zu trinken, irgendwas, das den Durst löscht“, sagte ich.

Ohne aufzusehen ließ das Mädchen Bier in ein Glas laufen, ich sah zu, wie der Schaum über den Rand troff. Das Mädchen schloss den Bierhahn, wartete einen Augenblick, bis der Schaum sich gesetzt hatte, und ließ noch einen Schuss Bier nachlaufen. Dann schob sie mir, wiederum ohne ein Wort, das Glas über den stumpfen Zink zu. Es machte sich wieder an sein Flüstern mit dem Maurerburschen, bisher hatte es mich noch nicht mit einem Blick angesehen.

Ich hob das Glas zum Munde und trank es bedächtig. Schluck für Schluck, ohne einmal abzusetzen, leer. Es schmeckte frisch, prickelnd und leicht bitter, und indem es meinen Mund passierte, schien es in ihm etwas von einer Helle und Leichtigkeit zu hinterlassen, die vorher nicht in ihm gewesen war.

‚Geben Sie mir noch einmal von dem’, wollte ich sagen, besann mich aber anders. Ich hatte vor dem jungen Menschen ein helles, kurzes, gedrungenes Glas stehen sehen, das man bei uns eine „Stange“ nennt und in dem gewöhnlich Korn ausgeschenkt wird.

„Ich möchte auch solch eine Stange“, sagte ich plötzlich. Wie ich, der ich mein Lebtag keinen Schnaps getrunken, der ich immer eine tiefe Abneigung gegen den Geruch von Schnaps gehabt habe, dazu kam, weiß ich nicht zu sagen. In jenen Tagen änderten sich alle Gewohnheiten meines Lebens, geheimnisvollen Einflüssen war ich ausgeliefert, und genommen war mir die Kraft, ihnen zu widerstehen.

Zum ersten Male sah mich jetzt das Mädchen an. Langsam hob sie die etwas körnigen Lider und blickte mich mit hellen, wissenden Augen an.

„Mit Schnaps?“ fragte es.

„Mit Schnaps“, sagte ich. Das Mädchen griff nach einer Flasche, und ich überlegte mir, ob mich je in meinem Leben ein weibliches Wesen schon einmal so schamlos wissend angeschaut hätte. Dieser Blick schien bis auf den Grund meines Mannestums dringen zu wollen, als möchte er erfahren, was ich als Mann gelte; ich empfand ihn wie etwas Körperliches, etwas schmerzlich süß Beleidigendes, als sei ich nackt ausgezogen worden vor diesen Augen.

Das Glas war gefüllt, es wurde zu mir über den Zink geschoben, die Lider hatten sich wieder gesenkt, das Mädchen wandte sich an den Burschen; mein Urteil war gesprochen. Ich hob das Glas, zögerte – und schüttete den Inhalt in einem plötzlichen Entschluss in die Mundhöhle. Es brannte atemraubend, dann verschluckte ich mich, zwang die Flüssigkeit aber doch die Kehle hinunter. Ich fühlte sie brennend und beizend hinunterrinnen – und in meinem Magen entstand ein plötzliches Gefühl von Wärme, einer wohltuenden, heiteren Wärme. Dann musste ich mich am ganzen Leibe schütteln. Der Maurer sagte halblaut: „Die sich so schütteln, das sind die Schlimmsten“, und das Mädchen lachte kurz. Ich legte eine Mark auf den Zink und verließ ohne ein weiteres Wort die Gaststätte.

Der Frühlingstag empfing mich mit sonniger Wärme und leichtem, seidenfeinem Wind, aber als ein Verwandelter kehrte ich in ihn zurück. Aus der Wärme in meinem Magen war eine Helligkeit in meinen Kopf emporgestiegen, mein Herz pochte frei und stark. Jetzt sah ich das Smaragdgrün der jungen Saaten, jetzt hörte ich die Lerchenwirbel im Blau. Meine Sorgen waren von mir abgefallen. ‚Es wird sich alles schon einmal regeln’, sagte ich mir heiter und schlug den Weg heimwärts ein. ‚Warum sich jetzt schon darüber plagen?’ Ehe ich in die Stadt kam, kehrte ich noch in zwei weiteren Gasthäusern ein und trank in jedem noch solch ein Stängchen, um die rasch verfliegende Wirkung wiederzuholen und zu verstärken. Mit einem leichten, aber nicht unangenehmen Benommenheitsgefühl langte ich zu Hause gerade zur rechten Zeit für das Mittagessen an.

* * *

Kapitel vier

Kapitel vier

Ich war mir klar darüber, dass ich vor meiner Frau nun nicht nur den Fehlschlag in den Lebensmittellieferungen, sondern auch mein Trinken verheimlichen musste. Aber ich fühlte mich im Augenblick der ganzen Welt so überlegen, dass ich überzeugt war, dies würde mir nicht die geringste Schwierigkeit machen. Ich verweilte länger als sonst im Badezimmer und wusch mich nicht nur besonders sorgfältig, sondern putzte mir auch lange und gründlich die Zähne, um jeden Alkoholgeruch zu vertreiben. Ich wusste noch nicht, welche Haltung ich Magda gegenüber einnehmen sollte, aber ein dunkles Gefühl warnte mich davor, zu gesprächig zu sein – wofür ich eine starke Neigung verspürte –, besser würde vielleicht eine ruhige Pose gehaltenen Ernstes sein. Die Suppe war schon aufgefüllt, und Magda erwartete mich bereits, als ich eintrat. Ich gab ihr flüchtig die Hand und machte ein paar Bemerkungen über das herrliche Frühlingswetter. Sie stimmte mir zu und erzählte einiges von den jetzt dringenden Bestellarbeiten im Garten, auch bat sie mich, ihr heute Abend eine bestimmte Gemüsesämerei, deren Fehlen sie eben erst bemerkt habe, aus der Stadt mitzubringen. Ich sagte ihr prompteste Erledigung zu, und so kamen wir ohne jede Fährnis über die Suppe. Ich merkte wohl, dass mich Magda ab und zu prüfend, beinahe mit stummer Frage, von der Seite ansah, aber in dem Gefühl, dass mir unmöglich etwas angemerkt werden konnte und dass alles vorzüglich ging, beachtete ich diese Blicke nicht. Übrigens erinnere ich mich, dass ich an diesem Mittag die Suppe mit besonderem Appetit aß.

Else räumte die Teller ab und flüsterte dabei meiner Frau irgendeine Küchenfrage zu, durch die Magda veranlasst wurde, aufzustehen und mit Else in die Küche zu gehen, wohl um irgendetwas abzuschmecken oder zu tranchieren. Ich blieb allein im Speisezimmer, auf den Fleischgang wartend. Ich dachte an nichts Besonderes, ich war von einer heiteren Zufriedenheit erfüllt, das Leben gefiel mir. Keine Ahnung hatte ich von dem, was ich nun sofort tun würde. Plötzlich – mir selbst überraschend – stand ich auf, schlich eilig auf den Zehenspitzen zur Anrichte, öffnete die untere Tür und richtig – da stand noch die Rotweinflasche, die wir an jenem verhängnisvollen Novemberabend, als unsere Streitereien begannen, angetrunken hatten! Ich hob sie gegen das Licht: sie war, wie ich es nicht anders erwartet hatte, noch halb gefüllt. Ich hatte keine Zeit zu verlieren, jeden Augenblick konnte Magda zurückkommen. Mit den Nägeln zog ich den ziemlich weit in den Hals getriebenen Korken heraus, setzte die Flasche an den Mund und trank, trank aus der Flasche wie ein alter Säufer! (Aber was sollte ich tun? Für die Benutzung eines Glases war keine Zeit, ganz abgesehen davon, dass ein benutztes Glas eine verräterische Spur gewesen wäre.) Ich nahm drei, vier sehr kräftige Schlucke, hielt die Flasche wieder gegen das Licht und sah, dass in ihr nur ein schäbiger Rest war. Ich trank auch ihn aus, verkorkte die Flasche wieder, schloss die Anrichtentür ab und schlich an meinen Platz zurück. In mir wogte es, mein Magen, gereizt durch die plötzliche starke Alkoholzufuhr, machte einige krampfhafte Bewegungen, vor meinen Augen lag feuriger Nebel, und Stirn und Hände waren schweißnass. Ich hatte gewaltig zu tun, bis zur Rückkehr Magdas einigermaßen wieder meiner Herr zu werden. Dann saß ich mit einem Gefühl angenehmer Hingegebenheit an meinen Rausch zu Tisch, und nur die Notwendigkeit, wenigstens pro forma etwas zu essen, machte mir Schwierigkeiten. Mein Magen schien ein sehr zerbrechliches Ding, dabei jederzeit bereit, sich zu empören; jeden einzelnen Bissen musste ich ihm mit äußerster Vorsicht zuführen und bedauerte dabei, durch diese aus äußeren Rücksichten gebotene Nahrungszufuhr den still wirkenwollenden Rausch zu stören. Daran, dass es vielleicht gut wäre, ein paar Worte mit Magda zu wechseln, dachte ich überhaupt nicht. Dafür beschäftigte mich ein anderes Problem, das mir plötzlich schwere Sorgen bereitete. Wohl stand die Rotweinflasche wieder verkorkt in der Anrichte, aber bei der Genauigkeit, mit der Magda ihren Haushalt führte, musste sie binnen kurzem ihre Leere merken. Unmöglich konnte ich das zulassen, ich musste rechtzeitig dagegen Vorkehrungen treffen. Aber wie unglaublich schwierig das war! Die beste Lösung würde sein, gleich heute Nachmittag eine andere Flasche Rotwein zu kaufen, etwa die Hälfte fortzuschütten und sie an die Stelle der ausgetrunkenen zu stellen. Aber wann sollte ich das tun, wie kam ich an das Büfett, da ich doch den Nachmittag über im Geschäft sein musste, und da Magda und ich den Abend stets gemeinsam verbrachten, sie mit einer Handarbeit, ich mit meinen Zeitungen beschäftigt – wann? Und wo blieb ich mit der leeren Flasche? Würde ich denn überhaupt einen Wein gleicher Marke zu kaufen bekommen? Erinnerte sich Magda der Sorte, der Art des Etiketts? Am besten würde es sein, etwa um Mitternacht heimlich aufzustehen, das Etikett der alten Flasche vorsichtig abzulösen und auf die volle aufzukleben! Aber wenn mich Magda dabei überraschte! Und hatten wir überhaupt Leim im Hause? Ich würde in meiner Aktentasche welchen aus dem Büro einschmuggeln müssen! Je länger ich darüber nachdachte, umso komplizierter wurde die ganze Angelegenheit, eigentlich war sie schon ganz unlösbar. Es war eine sehr einfache Sache gewesen, die Flasche leerzutrinken, aber ich hätte vorher daran denken sollen, wie schwierig es sein würde, den Zustand wie vorher herzustellen. Wenn ich die Flasche einfach zerbräche und vorgäbe, ich hätte sie beim Suchen nach irgendwas umgestoßen? Aber es war kein Wein mehr in ihr, der hätte ausfließen können! Oder konnte ich es wagen, sie einfach halb mit Wasser zu füllen und die eigentliche Nachfüllung auf einen späteren Tag verschieben?

Es ging immer wirrer in meinem Kopf zu, nicht nur das Essen, auch Magda hatte ich ganz und gar über meinen Gedanken vergessen. So schrak ich völlig zusammen, als sie mich mit echter Besorgnis in der Stimme fragte: „Was ist mir dir, Erwin? Bist du krank? Hast du Fieber – du siehst so rot aus?“

Ich griff gierig nach diesem Rettungsanker und sagte ruhig: „Ja, ich glaube wirklich, ich bin nicht ganz in Ordnung. Ich glaube, ich lege mich am besten einen Augenblick hin. Ich habe – ich habe solchen Blutandrang im Kopf ...“

„Ja, Erwin, das tu. Lege dich gleich ins Bett. Soll ich Doktor Mansfeld anrufen?“

„Ach, Unsinn!“ rief ich ärgerlich. „Ich will mich nur eine Viertelstunde auf das Sofa legen, ich werde gleich wieder in Ordnung sein. Ich muss dann auch sofort ins Geschäft.“

Sie geleitete mich wie einen Schwerkranken zum Sofa, half mir, mich hinzulegen, und legte eine Decke über mich. „Hast du Ärger im Geschäft gehabt?“ fragte sie ängstlich. „Sage mir doch, was dich bedrückt, Erwin. Du bist ganz verändert!“

„Nichts, nichts“, sagte ich, plötzlich ärgerlich. „Ich weiß nicht, was du willst. Ein bisschen Schwindel oder Blutandrang – und gleich soll etwas mit dem Geschäft sein! Prima geht es mit dem Geschäft, einfach prima!“

Sie seufzte leise.

„Also dann schlaf gut, Erwin!“ sagte sie. „Soll ich dich wecken?“

„Nein, nein, nicht nötig. Ich wache von selbst auf – in einer Viertelstunde oder so ...“

Damit war ich endlich allein; ich legte den Kopf zurück, und der Alkohol floss nun in ungehemmter freier Welle ganz durch mich hindurch, mit einer samtenen Schwinge bedeckte er alle meine Sorgen und Kümmernisse, selbst den kleinen, ganz frischen Ärger, dass ich Magda so unnötig einen ‚prima’ Gang der Geschäfte vorgelogen hatte, schwemmte er fort. Ich schlief ... Ich schlief! –? Nein, ich war ausgelöscht. Ich war nicht mehr...

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