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Menschliche Zielscheiben

Wir haben ein ganz ähnliches Muster bei Salah Abdeslam, dem Mann, der als Haupttäter der Anschläge vom März 2016 in Brüssel gilt, wie auch bei Kujtim Fejzulai, der am Allerseelentag des Jahres 2020 in Wien ein Terrormassaker in der Innenstadt verübte. Es sind durchwegs männliche Täter in jüngeren Jahren mit wenig Perspektive für das weitere Leben, aber mit Einflüsterern, die ihnen großen Lohn im Jenseits versprechen, wenn sie im Diesseits Menschen in den Tod befördern. Einen islamistischen Gottesstaat zu errichten, das bleibt ihnen in Syrien genauso verwehrt wie in Straßburg, Brüssel und Wien. Aber die geistige Basis ihres Tuns bleibt bestehen. Sie hat sich in den Köpfen vieler junger Leute eingenistet, die nach irgendeiner Art von Orientierung suchen. Und das hat jetzt auch dafür gesorgt, dass sich unsere Städte mit Grundzügen der Festungsarchitektur vertraut machen müssen.

Ein weiches Ziel zu finden, eine Möglichkeit, so viele Menschen wie möglich auf einmal möglichst verheerend zu treffen, das wurde dem 24-jährigen Anis Amri am Abend des 19. Dezember 2016 ziemlich leicht gemacht. Zuvor, am Nachmittag, hatte er in Berlin-Moabit den polnischen Fahrer eines mächtigen Saab-Scania-Sattelschleppers erschossen. Der schwere Wagen war beladen mit 25 Tonnen Baustahl aus Italien, das machte ihn zu einem umso wuchtigeren Geschoß. Und das war genau der Zweck, zu dem Anis Amri seine Beute nun einsetzen wollte. Er steuerte mitten hinein ins Zentrum des alten West-Berlin, wo die weihnachtlich dekorierten Bretterbuden standen, die inmitten des Großstadtambientes ein bisschen besinnliche Stimmung schaffen sollten. Am Fuß der Gedächtniskirche war das kleine Weihnachtsdorf aufgebaut, auf einem Platz, der, rückblickend betrachtet, das größtmögliche Sicherheitsrisiko bedeuten musste für alle, die sich dort versammelt hatten. Denn seine Architektur war zum Durchrasen geradezu prädestiniert.

Der Breitscheidplatz in Berlin war nie ein richtiger Begegnungsort im Sinne einer „piazza“, wie sie seit dem Mittelalter Europas Städte prägt. Er war immer als Zentrum eines Sterns von sechs großen Straßen angelegt, mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Zentrum. Von der Kirche steht heute nur noch die Ruine ihres Turmes mit den gut erkennbaren Bombenschäden aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein imposantes Zeichen der Erinnerung. Und daneben, die Ruine auf beiden Seiten flankierend, der Neubau aus den späten 1950erJahren von Architekt Egon Eiermann. Das Kirchenschiff als Achteck und, davon abgesetzt auf der anderen Seite der Ruine, der Turm, beides mit durchscheinendem blauem Glas als Fest des Lichts und der Lebendigkeit komponiert.

Es war viel überlegt und gestritten worden rund um die Neugestaltung des Kirchenensembles nach den Jahren von Krieg und Zerstörung. Aber die grundsätzliche Konzeption des Platzes als Straßenkreuzungspunkt und als Verteiler von Verkehr stand nie in Zweifel. Nur der Kreisverkehr, der bis in die 1950er-Jahre hinein noch rund um die Gedächtniskirche führte, wurde aufgelassen. Aber das war nicht als Maßnahme gedacht, die Stadt weniger autofreundlich zu machen, im Gegenteil. Im Denken der Planer dominierte das US-amerikanische Ideal der autogerechten Stadt, noch dazu, wo sich im geteilten Berlin nach dem Jahr 1961 der Breitscheidplatz und der nahe Kurfürstendamm rasch als Zentrum des neuen West-Berlin herausbildeten, als Schaufenster auf einer Insel des Westens im kommunistischen Osten Europas.

Der Breitscheidplatz wurde nach und nach umgestaltet und zu einem Platz gemacht, zu dem man möglichst schnell zu- und von dem man auch schnell wieder wegfahren konnte. Die Stadtplanung machte „Spangen“ und „Achsen“ zu ihrem neuen Dogma. Es ging vor allem darum, wie man am Rand des Platzes möglichst schnell seinen Weg entlangsausen und wieder in eine andere, noch schnellere Fahrbahn einbiegen konnte, gerne auch in einen Tunnel, wie er bis in die 2000er-Jahre hinein in Richtung Osten vom Platz wieder wegführte.

Und so begab es sich, dass das Weihnachtsdorf vom Dezember 2016 mitten in einem Straßengeflecht zu liegen kam, das optimal auf einen Zweck ausgelegt war: auf rasches Beschleunigen in Richtung seines zentralen Punktes, und dann auf ebenso rasches Davonfahren. Nichts anderes tat Anis Amri an diesem Abend gegen 20 Uhr mit seinem LKW und seiner 25 Tonnen schweren Fracht. Die Gäste auf dem Weihnachtsmarkt, vor den Ständen mit Glitzerschmuck und den Buden mit Bratwurst und Glühwein, sie standen, von Anis Amri im Führerhaus aus gesehen, wie der rote Punkt im Zentrum einer Zielscheibe. Und die Berliner Stadtplanung hatte Anis Amri beim Zielen geholfen. Auf einer Verkehrsachse, der Hardenbergstraße, beschleunigte er voll und hielt Kurs – mitten hinein in die Gasse zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts, mitten hinein in eine Menge von Menschen, die sich dort auf einer Insel der Ruhe gewähnt hatten. Und auf einer anderen Verkehrsachse, der Budapester Straße, wollte er wieder davonbrausen. Nicht die Stadtplanung hinderte ihn daran, sondern das automatische Notbremssystem seines Lastwagens, das den Wagen mitten auf der Budapester Straße zum Stehen brachte. Für elf Personen endete die Fahrt tödlich.

Anis Amri schaffte es noch so weit in die Achse der Budapester Straße hinein, dass er inmitten der allgemeinen Verwirrung zu Fuß die Flucht ergreifen konnte. Erst vier Tage später wurde er in Italien erschossen. Er hatte bei einer Routinekontrolle das Feuer auf Polizisten eröffnet – mit derselben Waffe, mit der er am Beginn seiner Mordserie den polnischen LKW-Fahrer in Berlin tödlich getroffen hatte.

Schon lange hatten die Behörden Anis Amri im Visier gehabt. Er galt als verdächtig, aber doch als eher kleiner Fisch im großen Teich der islamistischen Netzwerke im Untergrund. Noch dazu hatte er seit seiner Ankunft in Europa ständig die Identitäten gewechselt. Fünf Jahre vor der Tat hatte er Tunesien verlassen und Italien erreicht, auf einem Flüchtlingsschiff, das ihn auf die Insel Lampedusa brachte. Immer wieder fiel er als Kleinkrimineller auf. Das altbekannte Muster zeigte sich auch hier. Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, ihm rechtzeitig auf die Spur zu kommen, aber das Puzzle hatte zu viele Teile. Es mangelte an Zeit, Geld und Personal, um die Teile richtig zusammenzufügen, und es fehlte manchmal auch das persönliche Geschick bei der Beurteilung der Lage.

Aber noch etwas führte dazu, dass Anis Amri seine Tat so ungehindert und mit einem so verheerenden Ergebnis realisieren konnte: eine Stadtplanung, die jahrzehntelang ganz andere Ziele verfolgt hatte als jenes, auf mögliche terroristische Bedrohungen zu achten. Erst seit kurzer Zeit wird verstärkt darüber nachgedacht, dass Menschen in der Stadt lebende Zielscheiben darstellen können, und dass es auch Aufgabe der Stadtplanung und der Architektur ist, sie durch bauliche Maßnahmen nach Möglichkeit zu schützen.

Anti-Terror-Architektur

Seither wird in Europa vieles mit anderen Augen gesehen. Auf einem der vielen Hügel, die das Fundament der Stadtlandschaft von Brüssel bilden, steht das PHS-Gebäude, benannt nach dem früheren belgischen Ministerpräsidenten und engagierten Europapolitiker Paul-Henri Spaak. Es ist nicht besonders alt. Im Jahr 1993 wurde mit seinem Bau begonnen, zwei Jahre später war es fertig. Ein Konferenzzentrum werde der große Komplex werden, zu dem das Gebäude gehört. So hatte es Belgiens Regierung einst behauptet. Aber in Wirklichkeit war der Stadtteil auf dem Hügel in Brüssel immer dazu ausersehen, das Europäische Parlament zu beherbergen, das eigentlich seinen Sitz in Straßburg in Frankreich hat. Und so hat jetzt auch Brüssel einen Plenarsaal für mehr als 700 EU-Abgeordnete, dazu ein Pressezentrum, Hunderte Büros und einen riesigen Empfangssalon, in den der Präsident des Europäischen Parlaments gelegentlich seine Gäste bittet, die dort durch riesige Fensterflächen Ausschau halten können, weit hinaus über die Dächer von Brüssel.

Groß war in EU-Kreisen die Aufregung, als vor einiger Zeit bekannt wurde, dass das Gebäude, angelegt wie eine Kathedrale der Demokratie aus Glas, Stahl und Stein, nach etwas mehr als 25 Jahren Nutzungsdauer abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden muss. Das Rohrleitungssystem für das Wasser sei völlig verrottet, die Erdbebensicherheit nicht mehr den heutigen Vorschriften entsprechend – das alles wurde als Grund für das teure Projekt genannt.

„Ich kann Ihnen sagen, um was es da in Wirklichkeit geht“, flüstert mir eine sehr hochrangige Person zu, die in das Projekt an maßgeblicher Stelle involviert ist. „Es gibt da bestimmte Stellen in diesem Gebäude …“ OK, an diesem Punkt zitiere ich nicht wörtlich, was mir diese Person gesagt hat. Sie will es auch nirgendwo öffentlich so genau erörtert haben. Aber es gibt Punkte am PHS-Gebäude, an denen eine geringe Gewalteinwirkung genügen könnte, um den ganzen Bau sofort wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen zu lassen. Mit einer Opferzahl, die sich auf mehr als tausend Personen belaufen könnte. „Wäre es nicht möglich, den alten Bau zu verstärken und die kritischen Stellen zu entschärfen?“, wende ich ein. „Das wäre möglich“, sagt meine Kontaktperson. „Aber es wäre teurer, als das Ganze noch einmal – und so terrorsicher wie möglich – neu zu bauen.“

Einstweilen behilft man sich mit riesigen Blumenkästen aus Stahl, die die Zufahrtstraßen zum so leicht zu gefährdenden Gebäude blockieren. Neu sind auch die kleinen Wärterhäuschen neben den Blumenkästen, in denen ein Wachposten alle kritisch beäugt, die zu Fuß um diese Barrieren herumgehen.

Der Druck, unter dem Gesichtspunkt möglicher Bedrohungen vor vielen Jahren Gebautes neu zu überdenken, begegnet einem in Brüssel auf Schritt und Tritt. Beim Hauptquartier der EU-Kommission, dem Berlaymont-Gebäude, wurde vor Kurzem nach langer Bauzeit in der Nähe des Haupteinganges ein nicht besonders auffälliger Pavillon aus Stahl und Glas fertiggestellt. Ein „Willkommenszentrum“, wie es offiziell heißt. Aber der wahre Zweck dieses Gebäudes ist ein anderer. Hier sollen in Zukunft die Sicherheitskontrollen stattfinden, für die bisher im Berlaymont selbst eine Schleuse gedient hat – an einem Punkt, der sich schon ziemlich nahe am „VIP-Corner“ befindet, wo Staatsgäste aus aller Welt das Haus betreten. Sollte also in Zukunft etwa jemand mit einer Bombe Zugang zum Berlaymont suchen, so sollte er – den Postulaten der neuen Sicherheitsarchitektur zufolge – schon im „Willkommenszentrum“ aufgehalten werden. Und sollte er die Bombe zünden können, so würde nur dieses kleine Gebäude in die Luft fliegen und nicht das Berlaymont selbst, wo zu normalen Zeiten Tausende EU-Beamte ihren Dienst versehen.

Bei allem, was gebaut wird, auch an mögliche Gefahren für die Sicherheit zu denken, das legt die EU-Kommission neuerdings allen Verantwortlichen besonders ans Herz. „Es geht um ‚security by design‘“, sagt mir Ylva Johansson, die EU-Innenkommissarin, an einem kalten Dezembertag vor dem Berlaymont-Gebäude. Alle Bauten, alle Verkehrswege, alle Teile der städtischen Infrastruktur sollten auf ihre Sicherheitstauglichkeit überprüft werden. Und da gehe es zunächst einmal um die wichtigsten Nervenzentren einer Stadt von heute, wie etwa Wasserwerke, Stromverteiler oder Einkaufsstraßen. Als besonders gefährdet stuft die EU-Kommissarin in ihren Empfehlungen aber auch Gotteshäuser ein – Kirchen, Moscheen, Synagogen. „Schauen Sie sich das Beispiel von Halle an“, meint Ylva Johansson. Im Oktober des Jahres 2019 hatte ein Rechtsextremist versucht, in die Synagoge der Stadt Halle im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt einzudringen und dort ein Massaker zu verüben. „Was damals sehr viele Menschen geschützt hat, das waren eine verstärkte Eingangstür und eine Klingel mit Sprechanlage. Das meinen wir, wenn wir von eingebauter Sicherheit reden“, sagt die EU-Kommissarin. Es war dem Täter damals nicht gelungen, in die Synagoge einzudringen. Frustriert begann er, vor dem Gebäude um sich zu schießen. Auch dort traf er zwei Menschen tödlich. Daran zeigt sich auch ein gewisser Zwiespalt, wenn es um die mitgedachte und mitgebaute Sicherheit geht. Es kann oft gar nicht darum gehen, zu verhindern, dass Menschen zu Schaden kommen. Wer zu einer Tat entschlossen ist, findet immer ein Ziel. Es geht aber zumindest darum, die Auswirkungen einer Tat, wenn sie schon geschieht, so gering wie nur möglich zu halten.

Unscheinbare Bollwerke

Das ist der Zweck, weswegen jetzt überall in Europa neue Barrieren entstehen, an Verkehrswegen, vor wichtigen Plätzen, vor potenziell gefährdeten Gebäuden. Das gibt immer wieder auch Anlass zu Reibereien. Wie etwa das Bundeskanzleramt auf dem Ballhausplatz in Wien vor einem heranrasenden Fahrzeug geschützt werden könnte, darüber wurde jahrelang beraten. Und das, was am Ende dort entstand, hat mit dem, was ursprünglich beabsichtigt war, äußerst wenig zu tun. Metallsäulen, Granitblöcke, das wurde zunächst erwogen und für zu teuer befunden, dann machte man sich an den Bau einer 80 Zentimeter hohen Mauer aus Stahlbeton. Das wiederum nahm die „Kronen Zeitung“ zum Anlass für eine Kampagne gegen den, wie es hieß, teuren und unansehnlichen Mauerbau. Worauf am Ende wieder die Metallsäulen zum Zug kamen und alles, inklusive des Rückbaues der schon begonnenen Mauer, noch einmal um ein gutes Stück teurer wurde.

Billiger sind temporäre Maßnahmen, und besonders raffiniert sind sie dort einzusetzen, wo man ihnen den Zweck nicht gleich ansieht. Auf dem Wiener Maria-Theresien-Platz, zwischen dem Kunsthistorischen und dem Naturhistorischen Museum, standen vom Weihnachtsmarkt des Jahres 2017 an riesige Geschenkpakete, bunt verpackt und mit hübschen Schleifen versehen. Hätte man die bunte Verpackung ein Stück weit in die Höhe gehoben, wären darunter massive Betonblöcke zu erkennen gewesen, aufgestellt als Aufprallhindernis für Heranrasende, als Provisorium für die Dauer der intensiven Gefährdung, also für die Zeit des Marktgeschehens.

Der Wiener Architekt und Autor Theo Deutinger kann aus dem Kopf Dutzende Beispiele wie dieses nennen, Beispiele für temporäre oder dauerhafte Schutzmaßnahmen gegen Gewalttaten, bei denen Autos als Waffe eingesetzt werden. In seinem Buch „Handbook of Tyranny“ hat er die Formen analysiert, mit denen sich das Verhältnis von Macht und Gefahr in der Architektur manifestiert. Da spannt sich der Bogen von der Anlage eines Schlachthofes über die Konstruktion von Grenzmauern bis hin zu den Wegen, die ein motorisierter Terrortäter in einer Stadt nehmen kann, und was sich ihm dabei entgegenstellen ließe. „Schauen Sie sich einmal das neue Stadion von Arsenal in London an“, sagt Theo Deutinger, im ORF-Radio nach Beispielen für die neue Anti-Terror-Architektur befragt. „Da steht vorne in zweieinhalb Meter hohen Betonbuchstaben das Wort ‚Arsenal‘ zu lesen, und man könnte glauben, das sei einfach nur als Logo, als Blickfang, so aufgestellt.“ In Wirklichkeit sind diese Buchstaben eine Barriere, die verhindern soll, dass motorisierte Täter den Vorplatz des Stadions stürmen.

Und als in Wien, in der engen Neubaugasse, an einer neuartigen Begegnungszone gearbeitet wurde, mit vielen Rechten für Fußgänger und wenig Autoverkehr, war „security by design“ auch dort ein Thema. So laden etwa sehr stark gebaute Sitzbänke mit einem Betonsockel zum Verweilen ein. Theo Deutinger weiß, dass da nicht so sehr die Menschenfreundlichkeit dahintersteckt, sondern der neue Zwang zum Absichern: „Das sieht aus wie eine normale Parkbank, aber diese Bank hat ein irrsinnig starkes Fundament und ist als Maßnahme gegen Ramm-Attacken konstruiert.“ Der Architekt sieht Vorkehrungen ähnlicher Art, wohin er auch blickt im städtischen Raum. Etwa auf dem Heldenplatz in Wien, wo die Büros des Parlaments in Containern untergebracht sind, bis die Renovierung des Hauptgebäudes abgeschlossen ist. Mit flachen Betonblöcken drumherum, und mit darüber waagrecht gespannten Drähten, an denen sich grüne Bepflanzung in die Höhe rankt: „Das ist auch ein Rammschutz, der dazu dienen soll, dass niemand mit dem Auto in diese Container hineinfahren kann“, weiß Theo Deutinger.

Und auf dem Berliner Breitscheidplatz, ziemlich genau mitten auf der Fahrtstrecke, die Anis Amri im Dezember 2016 genommen hat, soll, aktuellen Planungen zufolge, in Zukunft der Schriftzug „BERLIN“ in großen Buchstaben aus Stahlbeton den direkten Weg auf den Platz verstellen. Moderne Städte haben keine Mauern mehr. Aber sie müssen sich jetzt laufend neue Wege überlegen, um Angreifern etwas entgegenzustellen.

January 6: Angriff auf die Demokratie
Hannelore Veit

Es ist der 6. Januar 2021. Und es ist einer jener Augenblicke, an die man sich auch Jahre später noch erinnern wird. Ich telefoniere gerade mit einer amerikanischen Freundin, plötzlich ist ihre Aufmerksamkeit weg, „something is going on“, sagt sie, mehr zu sich selbst als zu mir. Im Hintergrund höre ich den Fernseher laufen, „Dreh CNN auf“, fordert sie mich auf, „das musst du sehen“, und beendet das Telefongespräch.

Fassungslos beobachte dann auch ich, was da in der Stadt, die bis vor Kurzem mein Zuhause war, passiert: Wie immer bei weltbewegenden Ereignissen hat CNN in Europa inzwischen das reguläre Programm gekippt und die Sendungen von CNN in den USA übernommen, ein rein für amerikanische Zuseher ausgelegtes Programm. Es gibt aber an diesem Dreikönigstag nur eine News-Story: Eine immer aggressiver werdende Menge bewegt sich auf der Mall in Washington auf das Kapitol zu. Dieser 6. Januar wird als einer der dunkelsten Tage der amerikanischen Demokratie in die Geschichte eingehen.

CNN hat in den letzten Jahren ganz klar Position als Anti-Trump-Sender bezogen und ist auch diesmal erwartungsgemäß auf Anti-Trump-Kurs. Donald Trump ist schnell als der Anstifter des Mobs ausgemacht. Doch CNN ist diesmal kein Vorwurf zu machen, die ganze Welt kann live mitverfolgen, was da passiert.

Der Noch-Präsident – in zwei Wochen wird seine Amtszeit ablaufen – hat zum Sturm auf das Kapitol aufgefordert. In einer Rede vor dem Weißen Haus hat er die Stimmung aufgeheizt. „Stop the Steal”, „stoppt den Diebstahl“. „Wir haben die Wahl gewonnen, wir haben sie mit einem Erdrutschsieg gewonnen. Wir ziehen zum Kapitol, ich bin dabei … Wenn wir nicht kämpfen wie der Teufel, haben wir bald kein Land mehr“, ruft er seinen Anhängern zu. Trump weiß genau, wie er die Menge mitreißen kann, in seinen Wahlkampfauftritten in den letzten fünf Jahren hat er das perfektioniert. Die meisten seiner Anhänger glauben tatsächlich, die Wahl sei von den Demokraten gestohlen worden. Ich bin überzeugt, dass stimmt, was enge Mitarbeiter Trumps behaupten: Donald Trump selbst glaubt, er habe die Wahl gewonnen. Er hat den Boden für diese Lüge schon lange vor der Wahl bereitet: Er könne die Wahl nur durch Wahlbetrug verlieren, hatte er im Sommer verkündet. Krankhafte Lügner, das weiß die Psychologie, glauben oft selbst an ihre Lügengebäude.

Rädelsführer in der Menge greifen Trumps Ruf auf, haben offenbar nur darauf gewartet. „Nehmen wir das Kapitol ein“, ruft einer, immer wieder wird der Satz von anderen wiederholt. „Wir marschieren zum Kapitol, das ist die Richtung“, ein Mann mit roter Trump-Kappe formt die Hände zum Megaphon und deutet in Richtung Kapitol. Dort ist ein demokratischer Prozess im Gange, den sie verhindern wollen: Der Kongress ist an diesem Tag zusammengekommen, um das Ergebnis der Präsidentenwahl vom 3. November zu bestätigen.

Auf den etwas mehr als zwei Kilometern hinauf zum Kapitol steht den Trump-Fanatikern nichts im Weg. Fahnenschwingend ziehen sie die Mall entlang, mit Stars-and-Stripes-Flaggen, blauen „Keep America Great“-Fahnen, und dazwischen immer wieder die Konföderiertenflagge. Es ist die Flagge der im Bürgerkrieg unterlegenen Südstaaten, jene Flagge, die White Supremacists – Rechtsextreme, die an die Vorherrschaft der Weißen glauben – so gerne hissen. Die paar Absperrungen, die das Kapitol umgeben, sind schnell überrannt. Viel zu wenige Sicherheitskräfte schützen das Gebäude, den Sitz des Kongresses, dieses Wahrzeichen der amerikanischen Demokratie. Die Kapitol-Polizei ist hoffnungslos überfordert. Sie fordert, wie wir aus späteren Berichten wissen, Unterstützung an, die aber nicht, oder viel zu spät, kommt. Die Meute stürmt ins Kapitol.

Was sich abgespielt hat, das belegen 15.000 Stunden Videos, aufgezeichnet von Fernsehkameras, von Sicherheitskameras, von Facebook-Livestreams und von den Tätern selbst. Mit Baseball- und Lacrosseschlägern gehen Trump-Anhänger auf Sicherheitskräfte los, Feuerlöscher werden als Waffen benutzt, sogar ein Skateboard dient als Waffe. Fenster werden eingeschlagen, Türen eingetreten.

Der Präsident schweigt. Warum ruft er seine Anhänger nicht zurück, fragen sich die Kommentatoren der Fernsehsender, frage auch ich mich, die ich diese unvorstellbaren Szenen von Österreich aus mitverfolge. Mehr als drei Stunden dauert es, bis Donald Trump die Meute auffordert, keine Gewalt anzuwenden. Trump ist in seiner ersten Reaktion immer noch aufseiten seiner Anhänger: „Ich weiß, es schmerzt“, meldet er sich zu Wort, „es tut euch weh. Die Wahl ist uns gestohlen worden … Aber geht jetzt nach Hause.“

Die Meute ist längst im Kapitol, hat Büros von Kongressabgeordneten besetzt. Abgeordnete des Repräsentantenhauses und Senatoren fliehen oder verschanzen sich in Büros. Grinsend lümmelt ein weißhaariger Mann im blauen Holzfällerhemd auf dem Sessel im Büro der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ein Bein auf ihrem Schreibtisch, einen 970.000-Volt-Elektroschocker an seiner Hüfte. Das Foto von Richard Barnett ist um die Welt gegangen. Genauso wie das des „Schamanen“ im Sitzungssaal des Senats: Mit Kriegsbemalung, nacktem Oberkörper, Büffelhörnern und Kojotenschweif steht er da.

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191 стр. 2 иллюстрации
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9783218012966
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