Fräulein Source hatte diesen Knaben unter sehr traurigen Umständen adoptiert. Sie war damals sechsunddreißig Jahre alt, und ihre Hässlichkeit – sie war als Kind von den Knien des Kindermädchens in den Kamin gerutscht und hatte sich ihr ganzes Gesicht furchtbar verbrannt, sodass sie noch immer höchst garstig aussah – ihre Hässlichkeit hatte sie bestimmt, nicht zu heiraten, denn sie wollte nicht ihres Geldes wegen geheiratet werden.
Eine Nachbarin wurde, als sie in guter Hoffnung war, plötzlich Witwe und starb darauf im Wochenbett, nicht einen Pfennig hinterlassend. Fräulein Source nahm sich des Neugeborenen an, tat das Kind zur Amme, erzog es, schickte es in eine Pension und nahm es dann im Alter von vierzehn Jahren wieder zu sich, um in ihrem leeren Hause ein Wesen zu haben, das sie liebte, sich um sie kümmerte und ihr Alter sonnig machte. Sie hatte einen kleinen Landsitz vier Stunden von Rennes und lebte jetzt ohne Magd. Die Ausgaben hatten sich seit der Ankunft dieses Waisenknaben um mehr als das Doppelte gesteigert und ihre dreitausend Frank Rente konnten nicht hinreichen, um drei Personen zu ernähren.
Sie führte nun selbst den Haushalt, kochte, und schickte den Kleinen, den sie außerdem im Garten beschäftigte, auf Einkäufe aus. Er war sanft, furchtsam, schweigsam und zärtlich. Und sie hatte eine innige Freude, eine neue Freude daran, wenn er sie umarmte, ohne sich von ihrer Hässlichkeit abschrecken zu lassen. Er nannte sie Tante und behandelte sie wie seine Mutter.
Abends saßen sie beide am Herd und sie bereitete ihm Leckerbissen. Sie bereitete Glühwein und röstete ein paar Brotscheiben; das war ein köstlicher kleiner Schmaus vor dem Zubettgehen. Oft nahm sie ihn auch auf ihren Schoß und überhäufte ihn mit Liebkosungen, indem sie ihm zärtliche und leidenschaftliche Worte ins Ohr flüsterte. Sie nannte ihn denn wohl: »Mein Herzblatt, mein angebeteter Engel, mein himmlischer Schatz«, und er ließ sich das ruhig gefallen, indem er seinen Kopf an der Schulter der alten Jungfer barg.
Obwohl er jetzt bereits fast fünfzehn Jahre zählte, war er zart und klein geblieben, und sah etwas kränklich aus.
Zuweilen nahm ihn Fräulein Source nach der Stadt mit, um zwei Verwandte zu besuchen, ein paar Kousinen, die in einer der Vorstädte verheiratet waren. Es war dies ihre ganze Familie. Die beiden Frauen grollten ihr im Stillen noch immer, dass sie dieses Kind angenommen hatte, denn sie hofften selbst auf die Erbschaft; doch empfingen sie sie immer mit Wärme, denn sie erwarteten noch immer einen Teil davon, ein Drittel wenigstens, wenn redlich geteilt wurde.
Sie war glücklich, sehr glücklich, und jederzeit mit ihrem Kinde beschäftigt. Sie kaufte ihm Bücher, um seinen Geist zu bilden, und er begann leidenschaftlich zu lesen.
Am Abend kam er jetzt nicht mehr auf ihren Schoß, um sie zu liebkosen wie vordem, vielmehr setzte er sich schnell auf seinen kleinen Stuhl in die Ecke am Feuer und schlug ein Buch auf. Die Lampe stand am Rande des Tischchens über seinem Haupte und beschien sein lockiges Haar und ein Stück der Stirn. Er rührte sich nicht mehr, schlug die Augen nicht auf, machte keine Gebärde, sondern las, las wie geistesabwesend und ganz in das Abenteuer des Buches versunken.
Sie saß ihm gegenüber und blickte ihn starr und voll innerer Erregung an; sie wunderte sich über seine gespannte Aufmerksamkeit und war voller Eifersucht; die Tränen waren ihr nahe.
Zuweilen sagte sie zu ihm: »Du wirst dich müde machen, mein Schatz!«, denn sie hoffte, dass er die Augen aufschlagen und sie küssen würde. Aber er antwortete nicht einmal; er sah und hörte nichts und wusste von nichts andrem, als was auf den Seiten des Buches stand.
So verschlang er zwei Jahre lang ungezählte Bände. Sein Charakter veränderte sich.
In der Folge bat er Fräulein Source mehrmals um Geld, und sie gab es ihm. Da er aber immer mehr wollte, schlug sie es ihm schließlich aus, denn sie war haushälterisch und energisch und wusste am rechten Platze vernünftig zu sein.
Er setzte ihr aber so lange zu, bis sie ihm eines Abends doch noch einmal eine beträchtliche Summe gab; als er aber ein paar Tage später wiederkam und bettelte, zeigte sie sich unerbittlich und gab tatsächlich nicht mehr nach.
Da schien er seinen Entschluss zu fassen. Er wurde wieder ruhig, wie vordem, saß wieder Stunden lang unbeweglich, ohne einen Ton von sich zu geben, mit gesenkten Augen, in seine Träumereien verloren. Er sprach nicht mehr mit Fräulein Source und antwortete auf ihre Fragen kaum mit kurzen und knappen Sätzen.
Trotzdem war er aufmerksam gegen sie, voller Rücksicht, aber er küsste sie nie mehr.
Am Abend, wenn sie schweigend und unbeweglich rechts und links vom Feuer saßen, flößte er ihr jetzt manchmal Furcht ein. Sie wollte ihn aufrütteln, wollte irgendetwas sagen, um aus diesem schrecklichen Schweigen herauszukommen, das so unheimlich war, wie ein finsterer Wald. Aber er schien sie nicht zu hören, und sie bebte vor Schrecken, die arme alte Jungfer, wenn sie fünf- oder sechsmal zu ihm gesprochen hatte, ohne ein einziges Wort zu bekommen.
Was hatte er? Was ging in diesem verschlossenen Kopfe vor? Wenn sie so zwei oder drei Stunden ihm gegenüber gesessen hatte, fühlte sie den Wahnsinn nahen; sie wollte fliehen und sich ins Freie retten, um diesem ewigen stummen Beisammensein zu entgehen, sie bangte vor einer unbestimmten Gefahr, ohne doch recht zu wissen, weshalb.
Und oft weinte sie ganz allein.
Was hatte er? Sprach sie einen Wunsch aus – er führte ihn ohne Murren aus. Brauchte sie etwas aus der Stadt – sogleich ging er hin. Sie hatte sich über ihn gewiss nicht zu beklagen. Und doch…
So verging noch ein Jahr, und es schien ihr, als hätte sich in dem Geiste des geheimnisvollen Jungen eine neue Wandlung vollzogen. Sie spürte es, sie ahnte es, sie wusste nicht wie, aber sie war dessen sicher; sie wusste, dass sie sich nicht täuschte, aber sie wäre nicht imstande gewesen zu sagen, worin die unbekannten Gedanken dieses seltsamen Knaben sich geändert hatten.
Ihr schien nur, als ob er bis dahin ein zauderndes Menschenkind gewesen wäre und jetzt plötzlich einen Entschluss gefasst hätte. Dieser Gedanke kam ihr eines Abends, als sie seinem Blicke begegnete, einem eigentümlichen, starren Blicke, den sie nicht kannte.
Allmählich begann er sie alle Augenblicke so anzusehen, und sie hätte sich dann am liebsten versteckt, um diesem kalten Auge auszuweichen, das auf ihr ruhte.
Bald blickte er sie ganze Abende lang an und wandte den Blick nur ab, wenn sie es schließlich nicht mehr ertragen konnte und zu ihm sagte:
– Sieh mich doch nicht immer so an, mein Kind!
Dann senkte er den Kopf.
Sobald sie ihm aber den Rücken gekehrt hatte, fühlte sie von Neuem sein Auge auf ihr ruhen. Wohin sie auch ging, überall verfolgte er sie mit seinen beharrlichen Blicken.
Manchmal, wenn sie in ihrem Gärtchen spazieren ging, erblickte sie ihn plötzlich in einem Gebüsche zusammengekauert, als ob er im Hinterhalt läge. Oder wenn sie in ihrer Haustür saß und Strümpfe ausbesserte, während er ein Gemüsebeet umgrub, blickte er sie bei der Arbeit mit heimtückischen Blicken unausgesetzt an.
Vergebens fragte sie ihn:
– Was hast du, mein Kleiner? Seit drei Jahren bist du so ganz anders geworden. Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Sage mir doch, was du hast, was du denkst, ich beschwöre dich.
Er antwortete dann immer mit demselben ruhigen, ermüdeten Tone:
– Aber ich habe nichts, Tante.
Und wenn sie in ihn drang und ihn beschwor:
– Mein Kind, antworte mir doch, antworte mir doch, wenn ich dich frage. Wenn du wüsstest, welchen Kummer du mir bereitest, du würdest mir immer antworten und würdest mich nicht immer so anblicken. Hast du irgend ein Leid? Sage’s mir, ich werde dich trösten…
Dann ging er mit müdem Wesen und murmelte:
– Ich versichere dich, ich habe nichts.
Er war nicht viel größer geworden; er hatte immer noch das Ansehen eines Kindes, wiewohl er die Züge eines Mannes trug. Sie waren hart und doch unfertig. Er schien unvollendet, schlecht geraten und gleichsam nur hingeworfen zu sein, und beunruhigend war er wie ein Geheimnis. Ein verschlossenes, undurchdringliches Wesen, in dem jeden Augenblick eine tätige und gefährliche Geistesarbeit vor sich zu gehen schien.
Fräulein Source empfand das alles sehr wohl und schlief vor Angst nicht mehr. Schreckliche Beklemmungen, entsetzliche Träume quälten sie oft. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein und verbarrikadierte ihre Tür; so ängstigte sie das Unbestimmte.
Wovor fürchtete sie sich? Sie wusste es selber nicht. Sie fürchtete sich vor allem, vor der Nacht, den Wänden, den Gestalten, die der Mond durch die geblümten weißen Vorhänge hindurchwarf, und vor allem – vor ihm!
Warum? Was hatte sie zu fürchten? Wusste sie es?
Und doch konnte sie so nicht länger leben. Sie war sicher, dass ein Unglück sie bedrohte, ein schreckliches Unglück.
Eines Morgens brach sie insgeheim auf und ging nach der Stadt zu ihren Verwandten. Sie erzählte ihnen alles mit bebender Stimme. Die beiden Frauen dachten, dass sie verrückt würde, und suchten sie zu beruhigen.
– Wenn ihr nur wüsstet, klagte sie, wie er mich von morgens bis abends anstarrt! Seine Augen verlassen mich nie. Zuweilen möchte ich am liebsten um Hilfe schreien und die Nachbarn herbeirufen, so fürchte ich mich. Aber was sollte ich ihnen sagen? Er tut mir ja nichts, als dass er mich anblickt.
– Ist er denn zuweilen brutal gegen dich? fragten die beiden Kousinen. Gibt er dir freche Antworten?
– Nein sagte sie, niemals. Er tut alles, was ich will, er arbeitet fleißig und ist die Sparsamkeit selbst, aber ich halte es vor Furcht nicht mehr aus. Er hat etwas im Kopfe, deß bin ich sicher, ganz sicher. Ich will nicht mehr so ganz allein mit ihm auf dem Lande bleiben.
Die Verwandten waren betroffen und stellten ihr vor, dass man sich wundern, dass man es nicht begreifen würde, und gaben ihr den Rat, ihre Befürchtungen und Pläne zu verschweigen, rieten ihr indessen nicht ab, nach der Stadt zu ziehen, denn sie hofften, dass dadurch die ganze Erbschaft noch an sie zurückfallen würde.
Sie versprachen ihr sogar, ihr beim Verkauf ihres Hauses behilflich zu sein, und wollten etwas andres in ihrer Nähe ausfindig machen.
Als Fräulein Source in ihr Heim zurückkehrte, war ihr der Kopf so wirr, dass sie beim geringsten Geräusch zusammenfuhr und ihre Hände bei der kleinsten Bewegung zu zittern begannen.
Sie ging dann noch zweimal zu ihren Verwandten, um sich mit ihnen zu besprechen, und war jetzt ganz entschlossen, nicht mehr so allein in ihrer Wohnung zu bleiben.
Endlich fand sie in der Vorstadt ein kleines Gartenhaus, das ihr zusagte, und das sie insgeheim kaufte.
Der Kontrakt wurde an einem Dienstag Morgen unterzeichnet, und Fräulein Source verbrachte den Rest des Tages mit Vorbereitungen für den Umzug.
Um acht Uhr abends stieg sie wieder in den Postwagen, der tausend Schritt vor ihrem Hause vorbeiging, und ließ an dem Punkte halten, wo der Kutscher sie gewöhnlich abzusetzen pflegte. Als sie ausstieg, rief der Mann ihr zu, indem er auf seine Pferde einhieb:
– Guten Abend, Fräulein Source, gute Nacht!
– Gute Nacht, Schwager Joseph, antwortete sie im Gehen.
Am anderen Morgen um halb acht Uhr, als der Briefträger seine Briefe nach dem Dorfe trug, bemerkte er auf dem Querweg nicht weit von der Straße eine große, noch frische Blutlache. »Halt!« sagte er sich, »hier hat einem die Nase geblutet.« Zehn Schritt weiter bemerkte er indessen ein – gleichfalls blutiges – Taschentuch und hob es auf. Es war von feinem Leinen. Als der Fußgänger sich dem Graben näherte, glaubte er einen seltsamen Gegenstand zu sehen.
Fräulein Source lag auf der Grabensohle mit durchgeschnittener Kehle im Gras.
Eine Stunde später standen die Gendarmen, der Untersuchungsrichter und viele Beamte um die Leiche herum und stellten Vermutungen an.
Die beiden Verwandten wurden als Zeugen vorgefordert und erzählten die Befürchtungen und letzten Pläne der alten Jungfer.
Der Pflegesohn wurde festgenommen. Seit dem Tode seiner Adoptiv-Mutter weinte er vom Morgen bis in die Nacht und war – wenigstens scheinbar – auf das tiefste bekümmert.
Er führte den Beweis, dass er den Abend bis elf Uhr in einem Café gewesen war. Zehn Personen hatten ihn gesehen und waren bis zu seinem Aufbruch geblieben.
Nun aber erklärte der Postkutscher, er habe die Ermordete zwischen halb zehn und zehn Uhr auf der Straße abgesetzt. Das Verbrechen konnte nur auf dem Wege von der Straße bis zum Hause und spätestens um zehn Uhr verübt worden sein.
Darauf hin wurde er freigelassen.
Ein Testament von älterem Datum, das bei einem Notar in Rennes deponiert war, machte ihn zum Universalerben, und er trat die Erbschaft an.
Die Leute der Gegend ächteten ihn lange Zeit, da sie ihn für verdächtig hielten. Sein Haus, das der Toten, galt für verfehmt. Auf der Straße wich man ihm aus.
Aber er offenbarte sich als so gutmütig, offenherzig und vertraulich, dass man ganz allmählich den schrecklichen Zweifel fallen ließ. Er war freigebig und zuvorkommend, er unterhielt sich selbst mit dem Niedrigsten, er sprach von allem und so lange man wollte.
Der Notar, Herr Rameau, war einer der ersten, der wieder für ihn eintrat; seine lächelnde Redseligkeit bestach ihn. Eines Abends, auf einem Abendessen beim Steuereinnehmer, erklärte er:
– Ein Mensch, der so ungezwungen spricht und stets guter Laune ist, kann ein solches Verbrechen nicht auf dem Gewissen haben.
Den Anwesenden hatte dieses Argument Eindruck gemacht, sie dachten nach und entsannen sich in der Tat ihrer langen Unterhaltungen mit diesem Menschen, der sie fast wider Willen in der Plauderecke festhielt, um ihnen seinen Gedanken mitzuteilen, der sie zwang, bei ihm einzukehren, wenn sie an seinem Garten vorübergingen, dem die schönen Redensarten leichter flossen, als selbst dem Gendarmerie-Leutnant, und dessen Lustigkeit so ansteckend war, dass man trotz des Widerwillens, den er einflößte, in seiner Gesellschaft immer herzlich lachen musste.
Seitdem öffneten sich ihm alle Türen.
Jetzt ist er der Bürgermeister des Städtchens.
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Die Kassiererin gab auf sein 5-Francs-Stück das Geld heraus und Georges Duroy verließ das Lokal. Stattlich gewachsen, richtete er sich auf mit der Haltung eines ehemaligen Unteroffiziers und drehte schneidig-militärisch seinen Schnurrbart zwischen den Fingern. Er warf auf die übriggebliebenen Gäste einen schnellen, flüchtigen Blick; einen jener Blicke des schönen Burschen, die unfehlbar treffen, wie der Raubvogel seine Beute.
Die Frauen blickten ihm neugierig nach: es waren drei kleine Nähmädchen, eine Musiklehrerin unbestimmten Alters, schlecht gekämmt, nachlässig gekleidet mit einem alten, verstaubten Hut und einem Kleid, das niemals sitzen wollte. Dazu zwei bürgerliche Frauen mit ihren Männern, Stammgäste des kleinen Lokals mit »festen Preisen«.
Auf der Straße blieb er einen Augenblick stehen und überlegte, was er unternehmen sollte. Es war der 28. Juni — in der Tasche blieben ihm 3 Francs 40 Centimes für den Rest des Monats übrig. Dafür konnte er sich zwei Mittagessen leisten, dann allerdings kein Frühstück, oder umgekehrt. Er überlegte sich, dass ein Frühstück nur 22 Sous, ein Mittagessen dagegen 30 kostete. Begnügte er sich bloß mit dem Frühstück, so würden ihm 1 Francs 20 Centimes verbleiben, das bedeutete zweimal Würstchen mit Brot und zwei Glas Bier auf dem Boulevard. Dies war sein kostspieliges Vergnügen, das er sich abends gönnte.
Daraufhin ging er die Rue Notre-Dame de Lorette hinunter.
So schritt er dahin, wie zurzeit, als er die Husarenuniform trug, in strammer Haltung mit etwas gespreizten Beinen, wie ein Reiter, der eben vom Pferde gestiegen ist. Ohne auf jemand Rücksicht zu nehmen, ging er seinen Weg durch die Straßenmenge. Er stieß die Passanten und wollte niemandem ausweichen. Seinen alten Zylinderhut rückte er etwas auf das eine Ohr, und laut klangen seine Schritte auf dem Pflaster. Verächtlich und herausfordernd betrachtete er die Menschen, die Häuser, die ganze Stadt: er — der schicke, schneidige Soldat, der zufällig Zivilist war.
Sein fertiggekaufter Anzug kostete nur 60 Francs, trotzdem trug er eine gewisse betont knallige Eleganz zur Schau; etwas ordinär, dafür echt und eindrucksvoll. Groß und schön gewachsen, hatte er dunkelblondes, rötliches, von Natur krauses Haar, das in der Mitte gescheitelt war; mit einem kecken Schnurrbart, der sich auf seiner Oberlippe kräuselte, und hellen, blauen Augen mit kleinen Pupillen, sah er dem Mordskerl aus einem Hintertreppenroman ähnlich.
Es war ein heißer Sommertag. Kein frischer Luftzug regte sich in Paris. Die Stadt glühte wie ein Kessel und erstickte in der schwülen Nacht. Die Straßenkanäle hauchten üblen Duft aus ihren Granitrachen, und aus den Küchen und Kellerräumen drangen ekle Gerüche von Spülwasser und alten Speiseresten auf die Straße.
Unter den Haustoren saßen die »concierges« (Hauswarte) in Hemdsärmeln rittlings auf ihren Strohsesseln und rauchten die Pfeife. Träge schlichen die Menschen dahin, mit entblößtem Kopf, den Hut in der Hand tragend.
Als Georges Duroy den Boulevard erreichte, blieb er stehen, unschlüssig, was er nun tun sollte. Er hatte Lust, in die Champs Elysée und die Avenue du Bois de Boulogne zu gehen, um unter den Bäumen etwas frische Luft zu schöpfen.
Aber ein anderes Verlangen regte sich in ihm, und zwar nach einem Liebesabenteuer. Wie ihm so ein Abenteuer in den Weg laufen sollte, davon hatte er keine Ahnung, aber seit drei Monaten wartete er darauf jeden Tag und jeden Abend. Dank seiner schönen, stattlichen Erscheinung hatte er wohl hier und da ein bisschen Liebe kosten dürfen; genügen tat ihm das nicht, er hoffte immer auf mehr und auf Besseres.
Mit heißem Blut aber leerer Tasche erregten ihn die Dirnen, die ihm an den Straßenecken zumurmelten: »Komm mit, feiner Junge«, doch er getraute sich nicht, ihnen zu folgen, denn bezahlen konnte er sie nicht, und dann träumte er auch von anderem, von etwas vornehmerer Liebe und minder gemeinen Küssen.
Trotzdem liebte er die Orte, wo es von jenen öffentlichen Mädchen wimmelte; er suchte gern ihre Ballokale, ihre Cafés, ihre Straßen auf. Er liebte, sie anzusprechen, sie zu duzen, ihre aufdringlichen Parfüms einzuatmen und ihre Nähe zu fühlen. Sie waren doch schließlich Frauen; Frauen, die zur Liebe bestimmt waren. Verachten tat er sie nicht, so wie jeder Mann sie verachtete, der im Schoß der Familie aufgewachsen ist.
Er lenkte seine Schritte nach der Madeleinekirche und folgte dem Menschenstrom, der sich, von der Hitze bedrückt, schwerfällig dahinwälzte.
Die Cafés waren überfüllt, dichtgedrängt saßen die Menschen am Bürgersteig, im grellen, blendenden Licht der erleuchteten Fenster. Vor ihnen auf kleinen runden oder viereckigen Tischen standen Gläser mit roten, gelben, grünen und in allen Farben schillernden Flüssigkeiten, und in den Karaffen sah man große, durchsichtige Eisstücke glänzen, die das schöne, klare Wasser kühlten.
Duroys Schritte wurden langsamer, und das Verlangen nach einem erfrischenden Getränk trocknete ihm die Kehle. Ihn packte ein glühender Durst, ein Durst eines heißen Sommerabends; er dachte immerfort an das köstliche Gefühl, wenn ihm etwas Kaltes durch die Kehle rinnt. Wenn er sich aber heute auch nur zwei Glas Bier gestattete, dann war es morgen mit seinem kargen Abendbrot vorbei, und die Stunden des Hungers am Monatsende waren ihm nur zu wohl bekannt.
Er sagte sich: »Bis zehn Uhr muss ich aushalten, und dann trinke ich einen Bock à l’Americain. Donnerwetter, habe ich jetzt einen Durst!« Und er blickte all diese Menschen an, die an den Tischen saßen, tranken und ihren Durst löschen konnten, so viel sie wollten. Und während er äußerlich keck und zuversichtlich an den Cafés vorüberging, taxierte er mit raschem Blick nach dem Aussehen und der Kleidung eines jeden Gastes, wie viel Geld er wohl mit sich trug. Eine Wut ergriff ihn gegen diese ruhig dasitzenden Leute. Wenn man ihre Taschen durchsuchte, so würde man Gold, Silber und Kleingeld finden. Durchschnittlich musste jeder wohl zwei Zwanzigfrancsstücke bei sich haben, etwa hundert Menschen saßen in jedem Café, und hundertmal zweimal zwanzig macht viertausend Francs. »Schweinehunde!« murmelte er vor sich hin und ging mit wiegenden Schritten weiter. Hätte er nur einen an irgendeiner dunklen Straßenecke fassen können, würde er ihm weiß Gott ohne Bedenken den Hals umgedreht haben, wie er es mit den Dorfhühnern an den Tagen der großen Manöver tat.
Er dachte an seine zwei Dienstjahre in Afrika und an die Art und Weise, wie man in den kleinen Vorposten im Süden den Arabern das Geld abnahm. Ein grausames, zufriedenes Lächeln glitt über seine Lippen, als er eines Streiches gedachte, der drei Männern vom Stamme der Uled-Alan das Leben kostete und ihm und seinen Kameraden zwanzig Hühner, zwei Schafe und Gold einbrachte und heiteren Gesprächsstoff für sechs Monate.
Die Schuldigen waren nie entdeckt worden, man hatte sie auch freilich nie gesucht, da der Araber sozusagen als natürliche Beute der Soldaten galt.
In Paris war das anders. Hier konnte man nicht mit dem Säbel an der Seite und dem Revolver in der Faust, fern vom wachsamen Auge der bürgerlichen Gerichtsbarkeit, in voller Freiheit herumplündern.
Wahrhaftig, er dachte mit Wehmut an diese zwei Jahre in der Wüste zurück. Wie schade, dass er nicht da unten geblieben war! Er hatte sich Besseres erhofft, als er heimkehrte. Und nun … Ach ja, jetzt hatte er, was er wollte!
Er schnalzte mit der Zunge, als wollte er konstatieren, wie völlig ausgedörrt sein Mund schon wäre.
Langsam und müde schob sich die Menge an ihm vorüber, und er dachte immer noch: »Dieses Pack! All diese Idioten haben Geld in der Westentasche!« Er rempelte die Menschen an und pfiff dazu eine lustige Melodie. Männer, die er geschubst hatte, drehten sich schimpfend um, und die Frauen riefen entrüstet: »Ungezogener Lümmel!« Er ging am Vaudeville vorbei und blieb vor dem Café Americain stehen. Er fragte sich, ob er nicht doch ein Glas Bier trinken sollte, so quälte ihn der Durst. Ehe er sich entschloss, sah er auf die beleuchtete Uhr mitten auf dem Fahrdamm. Es war ein Viertel nach neun. Er kannte sich zu genau: sobald das Glas Bier vor ihm stünde, würde er es mit einem Zug hinunterschlucken. Was sollte er dann bis elf Uhr anfangen?
Er überlegte: »Ich gehe noch bis zur Madeleine und kehre dann langsam zurück.«
Als er an die Ecke des Place de l’Opera kam, begegnete er einem dicken jungen Manne, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt erschien.
Er folgte ihm und suchte sich zu erinnern, während er halblaut vor sich hinsprach: »Zum Teufel, wo kenne ich diesen Kerl her?«
Er ging und grübelte, ohne dass es ihm einfiel; dann plötzlich erschien ihm derselbe Mensch durch einen eigentümlichen Vorgang des Gedächtnisses weniger dick, jünger, in Husarenuniform. »Halt, Forestier!« rief er laut, beschleunigte seine Schritte und klopfte dem vor ihm Gehenden auf die Schulter. Dieser wandte sich um, blickte ihn an und sagte:
»Was wünschen Sie, mein Herr?«
Duroy lachte: »Erkennst du mich nicht?«
»Nein.«
»George Duroy von den 6. Husaren.«
Forestier streckte ihm beide Hände entgegen: »Du bist es, Alter! Wie geht es dir?«
»Ausgezeichnet. Und dir?«
»Mir geht es nicht allzu gut. Denke dir, meine Brust ist wie aus Papiermaché. Sechs Monate im Jahr quält mich ein Husten, die Folge einer Bronchitis, die ich mir in Bougival geholt habe kurz nach meiner Rückkehr nach Paris. Es sind jetzt schon vier Jahre her.«
»So, du siehst aber ganz gesund aus.«
Forestier nahm seinen alten Kameraden am Arm und erzählte ihm von seiner Krankheit, von den Ärzten, die er konsultiert hatte, deren Meinungen und Ratschlägen und der Schwierigkeit, in seiner Stellung ihren Verordnungen zu folgen. Er sollte den Winter im Süden zubringen, aber wie konnte er das? Er war verheiratet, Journalist, und hatte eine gute Stellung. »Ich redigiere den politischen Teil in La Vie Française, ich schreibe die Senatsberichte für den ›Salut‹, und im ›Planete‹ erscheinen hin und wieder literarische Feuilletons von mir. Ich habe meinen Weg gemacht.«
Duroy war überrascht und sah ihn erstaunt an. Forestier hatte sich sehr verändert, er war reifer geworden. Sein Gebaren, seine Haltung zeigten den gesetzten, selbstsicheren Mann und sein Bäuchlein wusste von guten Diners zu erzählen. Früher war er mager, klein und schlank, ein ausgelassener Lebemann und streitsüchtiger Radaumacher, stets angeheitert. Die drei Jahre in Paris hatten aus ihm einen ganz anderen, einen beliebten und ernsthaften Menschen gemacht, der schon einige weiße Haare an den Schläfen hatte, obgleich er nicht mehr als siebenundzwanzig Jahre zählte.
Forestier fragte: »Wo gehst, du hin?«
Duroy antwortete: »Nirgends. Ich mache einen Spaziergang, bevor ich nach Hause gehe.«
»Weißt du was, willst du mich vielleicht nach der Vie Française begleiten? Ich habe noch ein paar Korrekturen zu erledigen. Dann wollen wir zusammen ein Glas Bier trinken?«
»Sehr gern.«
Und Arm in Arm gingen sie weiter mit der leichten Vertraulichkeit, die zwischen Schulkameraden und Waffengefährten herrscht.
»Was machst du in Paris?« fragte Forestier.
Duroy zuckte die Achseln: »Kurz gesagt, ich krepiere vor Hunger. Als meine Dienstzeit vorbei war, wollte ich hierher kommen, um … um mein Glück zu machen, oder vielmehr, um in Paris leben zu können. Seit sechs Monaten bin ich bei der Verwaltung der Nordbahn angestellt. Ich verdiene fünfzehnhundert Francs im Jahr, keinen Centime mehr.«
Forestier murmelte: »Zum Teufel, das ist nicht viel!«
»Das glaube ich. Aber was soll ich sonst anfangen? Ich bin allein, ich kenne niemanden und habe keine Protektion. An gutem Willen fehlt es mir schon nicht, aber die Mittel?«
Sein Freund betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen, wie ein praktischer Mensch, der einen Gegenstand abschätzt; dann versetzte er in überzeugtem Ton:
»Sieh mal, mein Junge, hier hängt alles von deinem Auftreten ab. Ein findiger Kopf bringt es hier leichter bis zum Minister als bis zum Bürochef. Man muss sich aufdrängen und nicht schüchtern bitten. Aber wie, zum Henker, kommt es, dass du nichts Besseres gefunden hast als eine Stelle bei der Nordbahn?«
»Ich habe überall gesucht«, erwiderte Duroy, »und nichts gefunden. Augenblicklich habe ich zwar etwas in Aussicht, man bietet mir eine Stelle als Stallmeister in der Reitbahn von Pellerin an. Da bekomme ich mindestens dreitausend Francs.«
Forestier blieb plötzlich stehen:
»Tu das nicht. Das ist dumm, wo du doch zehntausend Francs verdienen könntest. Du verschließt dir mit einem Schlage die Zukunft. In deiner Schreibstube bist du wenigstens versteckt, niemand kennt dich, und wenn du dich stark genug fühlst, kannst du eines schönen Tages auch von dort aus Karriere machen. Aber wenn du Stallmeister bist, dann ist alles aus. Du kannst geradesogut Oberkellner in einem Restaurant werden, wo ganz Paris verkehrt. Wenn du erst einmal Leuten der Gesellschaft oder ihren Söhnen Reitunterricht gegeben hast, dann könnten sie sich nicht mehr daran gewöhnen, dich als ihresgleichen zu betrachten.«