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Seidenhandel

Für die nächsten Jahre habe ich keine Nachrichten und kann wiederum bloss Vermutungen anstellen. Geht man davon aus, dass es sich eher um eine arrangierte Vermählung handelte, so werden beide Seiten Vorteile gesehen haben. Für Mathieu Marchal, der nun doch schon sechzig Jahre alt war, wird mit dem kaufmännisch geschulten Schwiegersohn die Sicherung des Fortbestands seiner Firma im Vordergrund gestanden haben, bis sein eigener Sohn bereit sein würde, die Geschäftsleitung anzutreten. Für Saurenhaus war die Einheirat in ein florierendes Geschäft wohl attraktiv. Nimmt man das an, so werden Paul und Max zu Beginn der 1920er-Jahre in der Firma «M. Marchal, Agenturen, Handel mit Rohseide und Seidenabfällen» mitgearbeitet haben. Sie werden in den 1930er-Jahren die Akteure jenes Schattenduells sein, in dem der Papierkorb eine zentrale Rolle spielen wird. Aber wie ist es zu dieser Auseinandersetzung gekommen? Welche Bedeutung hatte sie für die beiden?

Um diese Fragen zu beantworten, muss ich mehr von der Firma, von der Arbeitsweise beim Seidenabfallhandel und von den Akteuren erzählen.

Paul, der wohl gerne eine militärische Karriere bei der Kavallerie angetreten hätte, sah sich durch einen Unfall 1923 während des Abverdienens als Unteroffizier aus seinem Traum herausgerissen. Nun arbeitete er sich gewissenhaft in die Materie des väterlichen Geschäfts ein. Er muss damals für Besuche der Handelspartner in Europa weit herumgekommen sein. Die einzelnen Destinationen sind jedoch nicht mehr zu ermitteln. Mélisey in den Vogesen, mit seiner Seidenspinnerei, gehörte jedenfalls wieder dazu. Dorthin machte sich der Kavallerist hoch zu Pferd von Basel aus auf, in einem unvergesslichen Tagesritt, der von fünf Uhr früh bis um Mitternacht dauerte.41 Die Sorgfalt, die beim Umgang mit den unterschiedlichen Seidenabfallformen nötig war, lag ihm. Er erwies sich bei der Qualitätsbeurteilung der angebotenen Waren als talentiert und entwickelte ein Flair für die wechselnden Geschäftslagen. Worum handelte es sich genau bei den sogenannten Seidenabfällen?

Am Anfang steht eine bedauernswerte Künstlerin: die bis zu neun Zentimeter lange, bleiche Raupe des Maulbeerfalters. Wenn sie sich an Maulbeerblättern vollgefressen hat, wickelt sie sich in drei Tagen kunstvoll in einen Kokon ein, wobei sie einen feinen Faden von drei Kilometern Länge erzeugt. Ist die Spinndrüse leer, verwandelt sie sich in eine kleine Puppe und besiegelt ihr Schicksal. Die meisten Puppen werden mit heisser Luft abgetötet, damit das Kunstwerk intakt bleibt. Einen kleinen Teil lässt man überleben. Die Schmetterlinge werden ausschlüpfen und dabei leider ihren Kokon beschädigen. Sie werden sich paaren und ihre Eier massenweise und sorgsam an Maulbeerblättern fixieren. Aus hundert Gramm Eiern schlüpfen dann ungefähr 140 000 Raupen. Sie fressen sich einen Monat lang durch vier Tonnen frische Maulbeerblätter, bis zu ihrer Verpuppung. Darüber hinaus sind sie äusserst empfindlich gegenüber klimatischen Einflüssen. Temperaturwechsel und Veränderungen der Luftfeuchtigkeit können verheerende Wirkungen haben. Geht alles gut, dann lassen sich mit den Kunstwerken dieser 140 000 Raupen ungefähr 150 Kilogramm Seide gewinnen. Gehandelt wird aber in Tonnen. Kurz gesagt: Die Kokons sind ein schwer zu gewinnendes, äusserst wertvolles Gut. Sie waren das Gold Asiens.

Deshalb wird alles vom Kokon verwertet. Schon das wirre Seidennetz, mit dem die Raupe den Kokon an die Zweige heftet und das nach dem Abnehmen des Kokons mit Blatt- und Zweigstücken durchsetzt zurückbleibt, wird als Flockseide gehandelt. Hat man den Kokon abgelöst, wird er mit Bürsten von den äusseren groben Windungen befreit, bis nur noch der abhaspelbare Teil des Kokons da ist. Auch dieser Abfall wird in wirren Knäueln oder Bündeln als sogenannte Frisons gehandelt und zu Schappeseide verarbeitet. Der verbleibende Kokon wird in einer Seifenlösung gekocht, zur Entfernung des Seidenleims. Nun kann der Raupenfaden aus dem Kokon abgehaspelt werden. Dabei werden mehrere der ausserordentlich feinen Fäden, der sogenannten Baves, zu einem durch das natürliche Sericin zusammengehaltenen Grègefaden zusammengeführt. Aus den drei Kilometer langen Baves werden so Fäden von jeweils 300 Metern Länge gewonnen, die homogen und regelmässig sein müssen. Das ist das Wertvollste des Kokons: die Grège- oder Hauptseide, die Peignés, die in wunderbar gelblich oder weiss glänzenden, zusammengeknoteten Strängen gehandelt werden. Schliesslich wird die Innenschicht des Kokons, welche die Puppe umschlossen hat, in warmem Wasser eingeweicht, von der Puppe gelöst, getrocknet und als Pelettes verkauft. Auch die Kokons selbst können geliefert werden, wobei auf ihr Gewicht, 1,5 bis 2,5 Gramm, je schwerer desto besser, geachtet wird. Zerrissene, schadhafte oder stark befleckte und schmutzige Kokons, die nicht abgehaspelt werden können, oder Bassinés, das sind Kokons, deren Abhaspeln abgebrochen werden musste, sind von geringerem Wert und werden, so wie sie sind, verkauft. Schliesslich werden auch alle Abfälle aus der Spulerei, wie verknotete und unregelmässige Fäden und Fadengewirre, als Bourre gehandelt. In der Praxis allerdings wird Bourre mit Flockseide, Frisons, Pelettes und schadhaften Kokons vermengt. Man spricht dann einfach von Déchêts. Alle diese Abfälle werden in den Schappespinnereien wieder gekocht und gekämmt und zur viel verwendeten Schappeseide gesponnen. Damit ist die Ausbeute noch immer nicht zu Ende: Aus den Rückständen des Kämmens für die Schappeseide wird die minderwertige Bouretteseide gewonnen, die nur noch zu einem Vliesstoff kardiert werden kann. Und schliesslich werden die Rückstände des Kardierens als Blousse wieder in Umlauf gebracht.42

All dies und noch mehr musste Paul kennen und Erfahrungen sammeln, um die Qualität der angebotenen Ware korrekt beurteilen zu können. Die Qualitätsprüfung war ein wichtiger Teil der Arbeit im Kontor einer Seidenfernhandelsfirma. Es war eine stille und pingelige Arbeit. Waren die Kokons zu leicht, zu stark beschädigt, der Anteil schwarzer oder verschmutzter Kokons zu gross, oder waren Flockseide und Frisons zu sehr mit Fremdkörpern durchsetzt, verlor die Ware an Wert. Ebenso war die Mischung der Bourre zu prüfen, sie konnte akzeptabel oder zu minderwertig sein. Ein Strang der angebotenen Peignés musste aufgelöst werden, um zu prüfen, ob die Länge der Faser korrekt, ob die Zugbelastbarkeit normgerecht war. Sicherheit gewann man hier nur durch Erfahrung, denn die Beurteilung, ob die Qualität dem Preisangebot entsprach, und der Vergleich mit der Ware eines anderen Anbieters waren eine Ermessensfrage. Aber Paul liebte die Arbeit mit diesem Material, den seidenglänzenden Peignés und den Déchêts, die voller Überraschungen sein konnten.

Der Ort des Geschehens, die Wallstrasse in Basel um 1920: Vom Eckhaus Nummer 11 hinten auf der rechten Strassenseite ist nur der Schatten vor der Kapelle der Methodisten zu sehen.

So füllte sich im Kontor immer wieder ein Tisch mit kleinen Päckchen mit der Aufschrift «Muster ohne Wert», die ein Muster der angebotenen Ware enthielten, etwa einen Strang Peignés, zwanzig Kokons und so fort. Sie kamen von Anbietern aus aller Welt und wurden eine Zeit lang als Vergleichsmaterial aufbewahrt oder gegebenenfalls an die Kundenspinnereien weiterversandt. Dies war übrigens das Einzige, was der Kaufmann von seiner Ware sah. Die eigentliche Sendung, grosse, manchmal stickig riechende Ballen aus dicker Jute, in welche die Seidenabfälle eingenäht waren, lagerten jeweils im Zollfreilager am Wolfsbahnhof.

Die Firma M. Marchal betrieb also Zwischenhandel von Rohseide und Seidenabfällen zwischen Anbietern vor allem in China, Japan, Indien und vereinzelt Italien und den Kundenspinnereien in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, auch in Grossbritannien und Belgien. Die Qualitätsfrage war aber längst nicht der einzige Faktor, den es zu berücksichtigen galt.

Deshalb wohl führte Paul über Jahre hinweg Buch – ähnlich wie er früher die Kriegshandlungen aufgezeichnet hatte: Er notierte in einem Wachsheft Tag für Tag oder in grösseren Intervallen in kleiner, sorgfältiger Schrift alle Verkaufsangebote japanischer oder chinesischer Anbieter an ihn und die Konkurrenz in Europa und deren Reaktion. Das dicke Wachsheft war wohl die Grundlage für seine Entscheidungen. Geordnet nach Kategorien wie «Offres en Blousses», «Offres en Bourettes», «Peignés Japon», «Déchêts Canton» oder «Déchêts de Shanghai» notierte er den Anbieter, die Qualität und die Quantität des Angebots, den jeweils möglichen Einschiffungstermin, den Preis und vermerkte die Abschlüsse, sofern er Kenntnis davon hatte. Auf diese Weise konnte er Trends wie sich abzeichnende Überangebote oder Lieferlücken in einer Kategorie ausmachen und durch die Vergleichsmöglichkeit die Kaufangebote sicherer beurteilen. Ausserdem war er so in der Lage, aufgrund seiner Kenntnisse der Schiffsbewegungen Angebote mit der Garantie einer raschen Verschiffung attraktiver zu gestalten.

Die Kunden meldeten den Zwischenhändlern etwa, wenn ihr Bouretteslager zur Neige ging, wie viele Tonnen Bourettes sie kaufen wollten, und boten den Preis, den sie zu zahlen bereit waren. Diese Angebote waren zeitlich meist limitiert, um das Risiko negativer Kursschwankungen zu minimieren. Die konkurrierenden Zwischenhändler verhandelten also in einem gewissen Zeitraum mit beiden Seiten die Preise möglichst so aus, dass sie besser waren als die der Konkurrenz und dennoch einen gewissen Gewinn für sie abwarfen. So liess sich beispielsweise, wenn die Nachfrage dringend war, ein günstigeres Angebot der Konkurrenz mit der Garantie einer früheren Verschiffung und Lieferung ausmanövrieren. Und hier kamen nun die fleissig erworbenen Kenntnisse und der Instinkt Pauls zum Tragen. Das Geschäft lief gut, auch wenn es bisweilen einen Ausreisser wegen überraschender Kursschwankungen geben konnte. Was Paul damals mit Fleiss und Ausdauer erarbeitete, ist heute im Internet rasch auffindbar. Und den Schiffsverkehr kann heute jedermann beinahe in Echtzeit verfolgen. Damals war das aber schon eine besondere Leistung.

Welche Aufgaben Max Saurenhaus in der Firma übernahm, lässt sich nur vermuten. Am ehesten wird er die Pflege der deutschen Kundschaft übernommen haben. Die pingelige Arbeit mit den vielfältigen Seidenabfällen mag ihm weniger gelegen haben. Aber er hielt die Nase in den Wind. Der wehte von Norden her und raunte: «Kunstseide.» Dieser neuen Form von Glanzstoff wird er vielleicht schon bei seiner Geschäftstätigkeit in Köln-Mülheim begegnet sein. In Würzburg war Ende des 19. Jahrhunderts die Pauly-Seide entwickelt worden. In Jülich wurde nochmals eine andere «Kunstseide» produziert, die Acetatseide. Bei Aachen fabrizierten bereits die Vereinigten Glanzstoff-Fabriken Filamentgarne industriell. Sie hatten die Vistrafasern erfunden, die aus Flachs gewonnen wurden. In Premnitz stellte die Köln-Rottweil AG 1919 gerade von der Pulverfabrikation auf Vistrafasern um und begann 1920, diese Faser industriell zu produzieren. Vistra war «das weisse Gold Deutschlands».43 Das alles war für Max so viel einfacher und sauberer als die vielfältigen und schmutzigen Abfälle aus dem fernen Osten. Vielleicht hatte er auch schon erfahren, dass sich die für nicht färbbar gehaltene Acetatseide neuerdings auch beliebig färben liess, dank Bernhard Clavel und seiner Erfindung eines Färbeverfahrens 1920 in Basel. Zudem wurde die Acetatseide ab 1921 vielerorts und nicht mehr nur in Deutschland massenweise produziert.44 Sie war im Kommen. Das war ein völlig neues Gebiet, und Saurenhaus wandte sich diesem zu. Vor allem wird ihn auch dazu bewogen haben, dass er die Handelsbeziehungen auf Deutschland konzentrieren konnte. Das scheint zu Spannungen über die Ausrichtung der Firma geführt zu haben.

Ein noch erhaltener Brief von Mathieu Marchal aus Lugano vom 23. Oktober 1926 an seinen Sohn gibt einen Einblick: Der Vater besuchte damals die Partnerspinnerei Torricelli in Merone und konnte gleich eine grosse Menge Seidenabfälle aus Canton verkaufen. Paul habe jetzt, so schrieb er weiter, genug für die Peignés gearbeitet. Der Preis liesse sich kaum weiter senken, denn die Schappe verkaufe sich, besonders in Lyon, «assez facilement», und für Cordonnet, feines Garn, würden sich Bedürfnisse abzeichnen. Warten wir zu, riet er seinem Sohn. «Im November werden wir sehen, was man unternehmen kann, je nach Markt.» Torricelli habe eben einen Kauf von 16 000 Kilogramm mit der Konkurrenz abgeschlossen, «ce que je n’aurais pas fait». Dieser Brief zeigt den Kaufmann, der abwägt, auf bessere Gelegenheit wartet und aufgrund seiner Erfahrung klar beurteilen kann, ob Torricellis Kauf richtig war. Aus dem Brief lässt sich auch ersehen, dass Max Saurenhaus die deutsche Kundschaft bearbeitete; genannt werden die Kunden Dietsch und Steffen. «Max m’a dit», dass deren ausstehende Rechnungen nun endlich bezahlt würden.

Aber es zeigte sich auch, dass Spannungen bestanden. Paul hatte irgendwelche Besorgnisse über Saurenhaus’ Verhalten geäussert. Der Vater antwortete ihm nun: «J’ai pris note de ce que tu me dis à propos de M … Il faut le laisser faire, il finira bien par se persuader, qu’il n’est pas sur le bon chemin. Comme principe nous devons conserver la devise: ‹L’union fait la force›.» Was war wohl gemeint mit diesem offenbar falschen Weg, auf dem sich Max befand? Handelte es sich um eine von Saurenhaus angestrebte Diversifizierung auf die deutsche Kunstseide hin? Oder ging es um Politisches? Der Vater stand den Vorgängen ebenfalls kritisch gegenüber, war aber davon überzeugt, dass Saurenhaus auf den guten Weg zurückfinden werde. Am 14. März 1928 erteilte er jedenfalls beiden die Einzelprokura.45

In der Zwischenzeit hatte Paul 1927 geheiratet, und zwar entgegen der Tradition der Familie. Die allein von ihm Auserwählte gehörte zur Basler Gesellschaft und war Protestantin. Die Tochter des Fotografen Jacques Weiss-Meister hätte ihm Wege in andere Gesellschaftskreise eröffnen können. Doch da zu jener Zeit Mischehen zwischen den Konfessionen unmöglich waren, musste Erica Weiss zum Katholizismus konvertieren. Sie folgte ihrer Liebe und zog ins «innere Exil» der katholischen Diaspora. Am Hochzeitstag war auch die ganze Verwandtschaft Meister aus dem Emmental zugegen. Selbst ein Berner Grossrat war gekommen. Aber diese Familienbeziehungen wurden späterhin vor allem aus konfessionellen Gründen kaum mehr gepflegt. Paul blieb gesellschaftlich ein Aussenseiter, und als es darauf ankam, war er allein.

Eine neue Generation: Erica und Paul 1927 im Oberengadin.

Mathieu Marchal war nun alt geworden und müde, und so ging er daran, die Firma für die Zukunft neu zu ordnen. Am 20. Mai 1931 vermeldet das Kantonsblatt Basel-Stadt, dass die Firma «M. Marchal, Agenturen, Handel mit Rohseide und Seidenabfällen» infolge Verzichts des Inhabers erloschen sei. Aktiven und Passiven würden an die Firma «M. Marchal, Aktiengesellschaft» in Basel übergehen. Unter der Firma M. Marchal Aktiengesellschaft (M. Marchal, Société anonyme) habe sich aufgrund der Statuten vom 19. Mai 1931 eine Aktiengesellschaft auf unbestimmte Dauer gebildet, zur Weiterführung des unter der Firma M. Marchal betriebenen «Handels und der Kommission in Seidenabfällen, Rohstoffen und Fabrikaten der Textilbranche, insbesondere der Schappe-Rohseiden- und Kunstseidenindustrie». Es folgen finanzielle Angaben über die Abfindung des vorherigen Inhabers und das verbleibende Aktienkapital von 250 000 Franken, eingeteilt in 250 Namenaktien von 1000 Franken. Der Verwaltungsrat bestehe aus einem bis drei Mitgliedern. «Einziges Mitglied ist Paul Marchal, Kaufmann, von und in Basel. Zu Direktoren sind ernannt worden Mathieu Marchal, Kaufmann, belgischer Staatsangehöriger, und Max Saurenhaus, Kaufmann, deutscher Staatsangehöriger, beide in Basel. Alle führen Einzelunterschrift.» Das Geschäftslokal bleibe weiterhin an der Wallstrasse 11.46

Das Arbeitsfeld der Firma war also ausgeweitet worden, auch auf Erzeugnisse der Kunstseidenindustrie. Das wurde mit dem «insbesondere» sogar betont. Und Direktor war nun Max Saurenhaus, der elf Jahre älter war als Paul Marchal. Als Verwaltungsrat hatte Paul wohl eine Mitverantwortung und ein entscheidendes Wort mitzureden, aber die Geschäftsführung der Firma lag nicht bei ihm. Auch wenn dies bloss die vorgegebene rechtliche Form war und in der Praxis wohl anders gehandhabt worden sein dürfte, erstaunlich ist es schon. Hatte Max Druck aufgesetzt? Hatte Mathieu Marchal die Neuausrichtung, für die Max stand, akzeptiert? Hatte er an eine Übergangslösung ge dacht, bis er selbst als Direktor ausscheiden würde? Vertraute er doch dem entfernt verwandten Rheinländer und Schwiegersohn? Oder blieb Paul für ihn einfach noch immer der Jüngste, der «Kleine»?

Als Kodirektor gedachte Mathieu Marchal wohl, noch eine Zeit lang mit dem Gewicht seiner Erfahrung in die gewünschte Richtung wirken zu können. Er erkrankte und starb nicht ganz zwei Monate später, am 5. Juli 1931.

Schattenduell im Kontor

Der Kontor einer Fernhandelsfirma war nicht gross. Es reichten ein oder zwei Zimmer in einem Privathaus: eines für die Kaufleute und eines für die Schreibkraft und den Buchhalter. Im Kontor «M. Marchal» an der Wallstrasse 11 sassen sich also Paul und Max an ihren Pulten gegenüber, wie üblich. Aber der Patron und Mediator war entschwunden. Die Unterschrift des Direktors Mathieu Marchal war am 8. Oktober 1931 erloschen.47

Wie lebte es sich nun weiter? Paul wird intensiv die asiatischen Geschäftsbeziehungen gepflegt haben, Max die Verbindung zu Deutschland und das Ressort Kunstseide. So kam man gut aneinander vorbei. Briefe und vor allem die immer heiss erwarteten Telegramme aus Japan und China wird man am Postfach in der nahe gelegenen Bahnhofpost abgeholt haben. Diese Telegramme enthielten reihenweise Buchstaben in Fünfergruppen, die selbst keinen Sinn ergaben. Je nach Absender wird Paul zu den dicken Codebüchern gegriffen haben, zum «Code A B C, 5th Edition» oder zum «Bentley-Code». Die Bücher waren ähnlich wie Wörterbücher gegliedert: Die erste Hälfte bot in der linken Spalte unzählige fixe Buchstabenkombinationen an, denen in der rechten Spalte jeweils der Textbaustein eines Geschäftsbriefs entsprach. In der zweiten Hälfte wurden in gleicher Weise Textbausteine alphabetisch aufgelistet und die entsprechende Kombination in der zweiten Spalte angeboten. Hatte Paul sich notiert, was er antworten wollte, suchte er in der zweiten Bandhälfte die Kombinationen aus, die seinen Text am ehesten wiedergaben, und schrieb diese auf. Auch diese exakte Arbeit gefiel ihm. Dann gings zum Telegrafenamt, um das Telegramm aufzugeben. So konnte man sehr rasch möglichst viel mit möglichst geringen Kosten mitteilen. Telegramme wurden nämlich nach Wörtern – hier also nach Fünferblöcken – bezahlt. Da wäre ein nichtchiffrierter Geschäftsbrief sehr teuer geworden. Auch Briefe wurden entworfen und provisorische Berechnungen flüchtig hingeschmiert. Bei dieser Tätigkeit entstanden bei Paul wie bei Max viele Abschriften, Entwürfe und Notizen – und wieder Abschriften und Entwürfe und Notizen. Dieses ganze Papier flog nach Gebrauch in elegantem Bogen in den grossen, weidengeflochtenen Papierkorb. Der stand an der Seite zwischen den beiden Pulten und wurde alle zwei Wochen beim Reinemachen geleert.

In der Mitte zwischen den Pulten befand sich auch etwas anderes: eine grosse Schachtel «Corona»-Zigarren, aus der sich die Herren nach Belieben bedienten. Im Duft der Zigarren werden Paul und Max gewiss auch viel miteinander gesprochen haben: übers Geschäft und verschiedene Angebote und Preise. Auch über anderes, etwa über den vergangenen Sonntag oder Familiengeschichten, worüber man eben so sprach, wenn man ein Büro teilte. Aber wie vertrauensvoll mochten diese Gespräche gewesen sein? Blieb im Hintergrund nicht jene Spannung, die schon 1926 an den Tag getreten war?

Max begab sich immer wieder auf Geschäftsreise nach Deutschland. Zu Beginn der 1930er-Jahre muss er begonnen haben, bei dieser Gelegenheit einen kleinen Koffer mitzuführen. Im Badischen Bahnhof, auf deutschem Territorium also, muss er sich in einen Raum begeben haben. Diesen verliess er ohne Koffer, aber eingekleidet in die braune Parteiuniform der NSDAP. Die Geschäftsreise konnte bisweilen bis nach Berlin führen, wo Max auch anderen Geschäften nachging. Wann wohl hat Paul diese Machenschaften bemerkt?

Im Lauf des Jahres 1933 muss sich Max’ Verhalten zusehends verändert haben. In Deutschland war Hitler an die Macht gekommen. Max wurde immer fiebriger und merkwürdig aktiv. Er wird wohl auch als Direktor herrischer aufgetreten sein. Die nationalsozialistische Bewegung hatte ihn voll ergriffen. Er zweifelte nicht daran, dass hier die Zukunft lag. Weil er davon überzeugt war, dass die Sache des Nationalsozialismus siegen und Deutschland den Lauf der Dinge endgültig in die Hand nehmen würde, bemühte er sich nicht mehr, seine politische Einstellung zu verbergen. Er war von der Sache völlig in Beschlag genommen und dachte an nichts anderes mehr. Und so begann er, auch im Kontor für die Partei zu arbeiten. Paul muss das, zunehmend alarmiert, verfolgt haben. Max, in seiner Siegesgewissheit, bemühte sich nicht mehr um Geheimhaltung. Seine Entwürfe zerriss er lässig, bevor er sie in den Papierkorb warf, und liess auch gelegentlich etwas auf seinem Schreibtisch liegen. Ja, vielleicht bereitete es ihm sogar Vergnügen, Paul, dessen franzosenfreundliche Einstellung er kannte, zu reizen.

Und Paul, was konnte er dagegen tun? Max offen zur Rede stellen, ihn gar aus dem Geschäft werfen, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Max war der Direktor seiner Familienfirma. Seine viel älteren Schwestern und andere Verwandte waren mit Aktien beteiligt. Nie könnte er, der Jüngste, bei einer Generalversammlung gegen sie aufkommen. Eine offene Konfrontation würde die Firma nicht überstehen. Aber Paul wollte wenigstens in Erfahrung bringen, was sich da bei Max tat.

An einem Freitag, Max hatte sich für ein längeres Wochenende verabschiedet, durchstöberte Paul die Mappen, in denen Max seine Korrespondenzen abzulegen pflegte. Sie waren angeschrieben mit «Gütermann», «Steffen», «Köln-Rottweil» et cetera. Und da war eine ohne Anschrift. Paul klappte sie auf, und sein Herz begann zu pochen: Da war ein Brief von niemand anderem als dem bekannten und verhassten Wilhelm Gustloff, datiert vom 7. Oktober 1933. Paul setzte sich hin und las. Aus dem recht persönlich gehaltenen Inhalt konnte er entnehmen, dass Max schon längere Zeit mit diesem in Kontakt stand. Offenbar hatte er Gustloff ermunternde Worte geschrieben, für die sich Gustloff bedankte. Sie hätten ihm in seinem Herzeleid wegen Parteigenosse Gilfert wieder Mut gemacht. Paul, der ein regelmässiger Leser der NZZ war, wird wohl dort von der Affäre Gilfert erfahren haben. Dieser hatte als Landespropagandaleiter und Herausgeber der neu geschaffenen Wochenzeitung Der Reichsdeutsche seit dem 1. Mai die Gleichschaltung der deutschen Vereine propagiert und sich in Zürich unvorsichtig exponiert. Er war wegen landesschädlicher Aktivitäten angezeigt worden, und die Kriminalpolizei hatte sich für ihn zu interessieren begonnen. Da hatte sich Gilfert nach Deutschland abgesetzt und von dort Gustloff berichtet, dass er als Schriftleiter zur Tageszeitung Der Führer in Karlsruhe berufen worden sei. Gustloff hatte seinen wichtigsten Gefährten verloren.48 Aber, so las Paul weiter, Gustloff hoffte auf den kommenden Botschafter. Es war ihm zuwider, den ganzen Brief abzuschreiben. Er fasste das Wesentliche zusammen.

Das zweite Blatt enthielt den Entwurf eines Briefs an das Aussenpolitische Amt der NSDAP in Berlin, den Max – so notierte es Paul – am 10. Oktober abgeschickt hatte. Je mehr er las, desto mehr wurde ihm bewusst: Da wurde den eidgenössischen Behörden eine Falle gestellt! Höchst alarmiert schrieb Paul den Brief wortgetreu ab, soweit er die hingeworfenen Schriftzeichen lesen konnte. Wo er unsicher war, setzte er in Klammern ein Fragezeichen. Auch die Streichungen erschienen ihm wichtig, und so gab er diese ebenfalls wieder:

«Saurenhaus an Aussenpolitisches Amt der N.S.D.A.P. Berlin

Betr.: Abteilung Organisation

Zunächst erlaube ich mir Herrn Schumann und Herrn Zelger (?) meinen verbindlichsten Dank für die freundliche Aufnahme während meines Aufenthaltes in Berlin auszusprechen.

In Ergänzung meiner mündlichen Ausführungen möchte ich mir nochmals gestatten darauf hinzuweisen, dass es für uns Auslandsdeutsche, der wir der Nat. soz. deutschen Arbeiter Partei angehören, eine ausserordentliche Beruhigung sein würde, wenn der Landesgruppenführer der Schweiz der N.S.D.A.P., Pg. Gustloff, durch Übertragung des Konsulates in Davos (ev. auch nur als Honorarkonsul) eine amtliche Stellung erhalten würde.

Wir Auslandsdeutsche in der Schweiz sind fast ausschliesslich [in] festem Beruf oder als Angestellter tätig. Täglich erleben wir wegen der Tatsache, dass wir der N.S.D.A.P. angehören, grosse Unannehmlichkeiten wie Zurücksetzungen, Angriffe etc.

Bei meiner Rückkehr finde ich wieder einen typischen Artikel der Nationalzeitung Basel, die Zeitung mit der grössten Auflage in der Schweiz, und der so recht zeigt, in welchen unangenehmen Situationen wir Auslandsdeutsche Nationalsozialisten in der Schweiz stehen (?). Ich möchte Sie auf den Artikel «Achtung vor der Grenze» hinweisen. Der Artikelschreiber J. B. Ruch, Ragaz, hat in einer anderen Zeitung schon einmal ausgeführt, dass die amtliche Vertretung Deutschlands Besonders beachtenswert ist der letzte Abschnitt des Artikels. Der Verfasser (ein bekannter Schweizer Journalist) dieses Artikels hat die gleiche Forderung, nämlich Ausweisung der Stützpunktleiter sowie Amtswalter, ebenso in einem früheren Zeitungsartikel erhoben und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass im Gegensatz zu der Parteiorganisation die amtlichen Vertretungen Deutschlands in der Schweiz nicht als nationalsozialistisch zu betrachten sind. Sie sehen in All diesen Ursachen Machenschaften könnte durch Ernennung des Ptg. Gustloff zum Konsul in Davos die Spitze abgebrochen werden. Wenn die Schweiz Pg.

Gustloff das Exequator gibt und sie wird es geben, sind derartige Angriffe, die durchaus nicht vereinzelt dastehen, nicht mehr möglich.»

Das Exequatur: Die Schweiz würde also Gustloff im Amt eines Deutschen Konsuls zulassen. Das war die Falle! Und Max schien überzeugt zu sein, er unterstrich es ja, dass die schweizerischen Behörden hineintappen würden! Paul musste etwas dagegen unternehmen, und zwar rasch! Es gab noch weitere Schriftstücke. Aber Paul war durch diesen Brief so aufgewühlt, dass er sofort nach Hause wollte. Er versorgte die Papiere wieder in der Mappe und legte diese sorgfältig in den Stapel auf der rechten Pultseite zurück.

Tief besorgt radelte Paul nach Hause. Man musste Bundesbern unbedingt warnen. Aber wie? Er konnte sich mit niemandem besprechen. Freunde, mit denen er hätte «Pferde stehlen» können, hatte er keine. Und mit dem Berner Grossrat Werner Meister, einem Cousin seiner Frau, immerhin einem Politiker, der ihm hätte raten können, war er zu wenig vertraut. Auf jeden Fall wollte er seine junge Familie da raushalten. Nachts fand er wenig Schlaf und wälzte Gedanken. Aber als er erwachte, hatte er einen Plan. Am Nachmittag fuhr er mit dem Fahrrad wieder ins Büro. Er wollte die Bundesbehörden warnen. Doch musste er vermeiden, dass man die Spur zu Saurenhaus aufnehmen konnte. Das hätte nicht nur dem Ruf der Firma geschadet. Er wollte auch sich selbst und seine Familie schützen. Bei der brodelnden Stimmung in Basel, dem impertinenten Auftreten der Nazis und den Zwischenfällen an der Grenze musste man auf alles gefasst sein. Niemand konnte abschätzen, wie stark die Partei tatsächlich war. Paul musste vorsichtig sein und vermeiden, dass die Polizei in der Wallstrasse aufkreuzte. Max hätte rasch herausgefunden, dass er es gewesen war, der ihn verraten hatte. Wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde? Paul war vorsichtig und musste damit rechnen, dass Max sich – wer weiss – einmal revanchieren könnte. Er beschloss, Bundesbern mit einem kurzen und allgemein gehaltenen Bericht zu informieren. Und es sollte irgendwie offiziell aussehen, er wollte es daher nicht von Hand, sondern mit der Schreibmaschine tun. Die stand im Kontor, wo an diesem Samstag, es war der 14. Oktober, niemand war. Als Adressat wählte er das für die Aussenbeziehungen zuständige Departement aus. Wenn Max schon mit dem Aussenpolitischen Amt in Berlin korrespondierte, so konnte auch er ganz oben einsteigen. Im Politischen Departement würde man die Bedeutung seiner «Mitteilung» am ehesten erkennen und daraus Konsequenzen ziehen können. So schloss er den Brief: «In Ihrer Hand liegt es, die deutschen Herren in die gebührenden Schranken zu weisen» (B1). Wie im Geschäft üblich, legte er noch ein Kohlepapier und ein gelbes Blatt ein, bevor er tippte. Das Original brachte er zur Post, das Doppel behielt er. Den Brief unterschrieb er natürlich nicht. Nun war er beruhigt. Er hatte jedenfalls seine Pflicht getan. Mit sich zufrieden, pedalte er über das Birsigviadukt nach Hause. Rechts nahte das im Bau befindliche Hallenbad Rialto, das schon über das Niveau des Viadukts hinauszuwachsen begann. Es sollte ein ultramodernes Gebäude werden, und Paul betrachtete es skeptisch. Aber nach Westen hin, über dem Basler Zoo, dem «Zolli», leuchtete ihm der herbstliche Abendhimmel entgegen, die letzten blendenden Sonnenstrahlen. Als er nun auf dem Steinenring weiterfuhr, auf die dunkel in den leuchtenden Abendhimmel ragende Pauluskirche zu, wusste er, dass linker Hand, bevor die Arnold-Böcklin-Strasse zu ihrem eleganten Schwung hin zum Bundesplatz ansetzte, das Deutsche Konsulat war. Die Eingangsseite lag bereits in tiefem Schatten. Er konnte im Dunkeln die schlaffe Hakenkreuzfahne kaum erkennen. Aber er wusste, dass sie dort hing. Diesmal fuhr er hochgemut vorbei: «Die sollen ja nicht meinen!» Es war ein für die Jahreszeit milder Samstagabend. Die Welt war wieder in Ordnung.

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