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Rein statistisch gesehen bedeutet schon die Verringerung der Säuglingssterblichkeit eine höhere Lebenserwartung für alle übrigen Menschen eines Jahrganges. Weniger Säuglinge bedeutet auch weniger sterbende Säuglinge. Damit wieder höhere Lebenserwartung. Die durchschnittliche Lebenserwartung hängt also auch von den angewandten Statistikmethoden ab.

Auch die Behauptung, dass Bildung bessere Gesundheit und höhere Lebenserwartung bedeutet, darf hinterfragt werden. So leben Universitätsprofessoren statistisch gesehen länger als Friseure. Das hängt aber nicht mit einem verbesserten Zugang der Professoren zum Gesundheitssystem zusammen, sondern einzig und allein mit der Tatsache, dass Universitätsprofessoren in der Statistik noch nicht mit zwanzig Jahren sterben können. Weil noch niemand mit zwanzig Jahren eine Professur innehat. Die Ausbildung zum Friseur ist in der Regel mit neunzehn Jahren abgeschlossen. Das bedeutet, dass ein tödlicher Verkehrsunfall eines zwanzigjährigen Friseurs in die Sterbetafel der Friseure miteinfließt. Im Gegensatz zur Sterbetafel der Professoren, die erst viel später im Leben sterben können. Die steigende Lebenserwartung ist also zumindest auch ein Verdienst der Mathematiker.

Wer bei einer Krankenkasse 2018 in der telefonischen Warteschleife minutenlang den monoton wiederholten Satz: »Wir vorsorgen Sie.« zu hören bekommt, hört nicht einen grammatikalischen Irrtum. Er wird Zeuge eines weiteren Systemfehlers. Vorsorge bedeutet nicht nur Gesundheit, sondern auch Krankheit.

Durchwegs ernstzunehmende Studien3 belegen, dass vorgesorgte und nicht vorgesorgte Individuen statistisch gesehen am gleichen Tag sterben. Neben der rechtzeitigen Entdeckung schwerwiegender Krankheiten werden bei Vorsorgeuntersuchungen auch eine Unzahl von Nebenbefunden und Zufallsdiagnosen aufgedeckt, die dem Patienten niemals im Leben Schaden zugefügt oder gar das Leben verkürzt hätten.

Der Beruf des Hausarztes ist inzwischen derart unattraktiv geworden, dass Ärztekammern, Landes- und Bundespolitiker nicht müde werden, vor einem Aussterben der Hausärzte zu warnen. Im gleichen Atemzug drehen sie aber die bürokratischen und wirtschaftlichen Daumenschrauben immer enger und enger.

Ich hege schon lange einen Verdacht.

Hausärzte erfreuen sich bei Umfragen in der Bevölkerung regelmäßig hoher Beliebtheitswerte. Nichts wäre für Beamte, Bürokraten und Politiker schöner, als ähnlich hohe Beliebtheitswerte zu erzielen. Dazu muss man aber zuerst die Hausärzte loswerden und durch selbst kontrollierte Institutionen mit angestellten Ärzten ersetzen. Die neu erfundenen PHCs (Primary-Health-Care-Versorgungszentren) stellen nichts anderes dar. Das 1978 in Kasachstan von der WHO aus der Taufe gehobene Versorgungskonzept einer wohnortnahen Basisversorgung (primary health care) stellt nichts anderes als die Beschreibung eines gut funktionierenden Hausarztmodells dar. Dass sich die Politik ausgerechnet vierzig Jahre später an dieses Konzept erinnert, hat einen guten Grund. Gesundheitsökonomen und Politiker versprechen der Bevölkerung die Neuerfindung des Rades und sichern sich ganz nebenbei den ersehnten Beliebtheitsbonus. Wenn die Medien positiv über den Obmann einer Krankenkasse berichten, weil er die finanziellen Mittel für ein PHC bereitgestellt hat, fällt ein wenig von dem Licht, das bislang die Hausärzte als Vermittler von Gesundheit und Wohlbefinden erscheinen ließ, auch auf ihn. Das gilt auch für Bürgermeister, Gesundheitsstadträte und Funktionäre der Sozialversicherungen und Ärztekammern.

Nach dem Grundsatz »divide et impera«, »teile und herrsche«, wird ein jahrzehntelang gut funktionierendes kostengünstiges System einer wohnortnahen Basisversorgung systematisch zerschlagen. Und durch ein ähnliches System ersetzt.

Die enge Bindung zwischen Patienten und Hausarzt, wie sie im derzeitigen Modell besteht, wäre damit Geschichte. Erste Erfahrungsberichte mit neu etablierten PHCs bestätigen auch, dass Patienten die enge und konstante Betreuung aus dem Hausarztmodell vermissen.

Nach fast vierzig Jahren Tätigkeit im Gesundheitssystem erhärtet sich mein Eindruck, dass alle teilnehmenden Institutionen, Verbände und Berufsgruppen wirtschaftlich selbstständige und selbstbewusste Ärzte nur noch als lästige Konkurrenten wahrnehmen. Der Neid auf Ansehen, Position sowie ein gutes und sicheres Einkommen ist so alt wie die Menschheit selbst. Schon lange fragen sich zum Beispiel die Apotheker, warum sie nach einem Hochschulstudium zu Verkäufern von fertig abgepackten Medikamenten degradiert werden. Folgerichtig haben sie damit begonnen, den Patienten vereinzelt Blutdruck, Blutzucker oder verschiedene Harnwerte zu messen und bei Abweichungen von der Norm Behandlungsvorschläge auszusprechen. Noch in Zusammenarbeit mit den Ärzten. Ich erlebe aber immer öfter, dass Patienten einzelne medizinische Anliegen zur Gänze in der Apotheke abwickeln. Warum sollte man als Pharmazeut nicht ein größeres Stück vom Kuchen bekommen?

Das gilt auch für Politiker, wenn sie neben dem Gemeindearzt Strukturen wie die »gesunde Gemeinde« erfinden, oder ein Spital vergrößern, obwohl internationale Studien Österreich eine Überkapazität an viel zu teuren Spitalsbetten bescheinigen. Die Profilierungsgier im Gesundheitssystem gilt auch für medizinisch nicht ausgebildete Laien, die im Rahmen von Wochenendworkshops Gesundheitstipps geben. Um prognostizierte zehn bis elf Prozent des BIP 2019.

Im Jahr 1987, dem Zeitpunkt meiner Niederlassung als Landarzt, haben die Gesundheitsausgaben in Österreich – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – 7,1 Prozent betragen.

Was bedeutet das?

Eine ökonomische Faustregel besagt: Mit zwanzig Prozent der Ressourcen sind achtzig Prozent der gesteckten Ziele erreichbar. Für die restlichen zwanzig Prozent müssen achtzig Prozent der Mittel aufgewendet werden. Völlige und lebenslange Gesundheit bleibt leider Utopie. Wie lange kann es sich eine Gesellschaft unter diesem Aspekt leisten, horrende Geldsummen für ein Ziel auszugeben, dem man sich nur annähern, das man aber nie erreichen kann? Es ist krank, wenn ein Gesundheitssystem immer mehr Geld ausgibt, um immer mehr kranke Menschen zu produzieren.

Nur um sich selbst damit zu rechtfertigen.

Der österreichische »Kompetenzdschungel Gesundheitssystem« mit seinen unzähligen Institutionen, Finanztöpfen und Querfinanzierungen ist selbst für Insider schwer zu durchschauen. Jeder Versuch einer Reform des Systems scheitert am Widerstand mindestens einer Gruppe. Jedes Land will seine Krankenanstalten behalten, jede Krankenkasse ihre Autonomie, der Bund die Kontrolle, die Ärztekammern die alleinige Vertretung der Ärzteschaft und die Gebietskrankenkassen ihre finanziellen Zuflüsse.

Es bräuchte schon einen Alexander den Großen, um diesen Knoten mit dem Schwert zu durchschlagen.

Rettung
Jeder will ein Stück vom Kuchen, selbst wenn das Patientenwohl darunter leiden muss

Als älterer Hausarzt kommt mir das langjährige Wissen um die Lebensumstände meiner Patienten in der täglichen Arbeit zugute. Viele Fragen müssen nicht mehr gestellt werden, weil die Antworten durch die jahrelange Betreuung bekannt sind. Die gleiche Erfahrung schärft den Blick auf die Veränderungen in den einzelnen Teilbereichen des Gesundheitssystems. Die Rettungsdienste haben sich in den letzten Jahrzehnten erstaunlich emanzipiert und erfreuen sich bester finanzieller Gesundheit.

Irgendwann im Laufe des Jahres 2017 wird einer meiner Patienten im Rahmen einer Übergangspflege in einem Landespflegeheim aufgenommen, weil die pflegenden Angehörigen schon längst einen Urlaub benötigen.

Er ist 82 Jahre alt. Nach einem Schlaganfall vergesslich, leicht dement, aber in keiner Weise aggressiv oder fordernd. Mir gegenüber klingt das aus dem Mund der Angehörigen so: »Herr Doktor, wir möchten unbedingt auf Urlaub fahren. Wir sind schon völlig fertig mit den Nerven. Jeden Tag ist mit dem Papa was Neues. Können wir ihn nicht zwei Wochen lang irgendwohin schicken? Vielleicht in ein Spital? Damit er einmal richtig durchgecheckt wird.«

Ich erkläre dem überforderten Ehepaar, dass dem Vater medizinisch nichts fehlt. Der Blutdruck ist gut eingestellt, die Laborwerte sind in Ordnung, er muss nicht durchgecheckt werden. »Richtig durchgecheckt« in seinem Alter schon gar nicht. Immer öfter glauben Angehörige, dass die Elterngeneration bis zum letzten Lebenstag voll fit sein müsste. Die Werbung suggeriert ein zunehmend unwirkliches Bild vom Alter. Ich lehne die Idee mit dem Spital klar ab, eröffne aber die Möglichkeit einer Übergangspflege. Weil es keine Alternativen gibt, wird dieser Vorschlag angenommen.

»Papa, du wirst sehen, das wird dir gefallen. Das ist wie ein Urlaub für dich. Da lernst du einmal andere Leute kennen.«

Aber der alte Mann will keinen Urlaub. Wovon auch. Und sein Bedürfnis nach neuen Bekanntschaften hält sich in Grenzen.

Schließlich übersiedelt er widerwillig in sein Urlaubsdomizil. Alte Menschen übersiedeln nicht gerne. Sie lieben es, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben.

Er tut es nur seiner Tochter zuliebe, vertraut er mir an. Wegen dem angespannten Verhältnis zum Schwiegersohn. Die Ehe der beiden leidet unter seiner Pflege.

Um 2.15 Uhr in der zweiten Nacht im Heim nimmt das Unheil seinen Lauf, beim Versuch, wie zu Hause ohne Hilfe vom Bett aufzustehen, sich wie gewohnt der Wand entlang zu tasten und das WC zu erreichen.

Später rekonstruiert er mit mir den Vorgang so: »Ich war so verwirrt, ich hab ja gar nicht gewusst, dass ich im Pflegeheim bin und habe geglaubt, dass ich immer noch zu Hause bin.«

Er stolpert und stürzt.

Etliche Male versucht er, sich aus eigener Kraft aufzurichten. Er möchte niemandem zur Last fallen. Aber er kann den rechten Fuß nicht belasten. Jeder Versuch wird mit einem heftigen Stechen im Unterschenkel bestraft. Nach ein paar Anläufen gibt er auf. Bleibt am Boden liegen. Nichts geschieht. Der Schmerz wird stärker, weil das Adrenalin im Blut langsam weniger wird.

Die Zeit vergeht, die Schmerzen werden unerträglich. Verzweifelt beginnt er irgendwann, um Hilfe zu rufen.

Aber der Personalstand des Pflegeheimes ist knapp. Seit geraumer Zeit gibt es nur noch einen Nachtdienst.

»Ich glaube, ich hab ewig gerufen, bis endlich eine Schwester gekommen ist.« Dann muss er noch einmal versuchen, aufzustehen. Aber es gelingt nicht. Auch nicht mit der Hilfe der Nachtschwester.

Wie es in der Dienstanweisung vorgesehen ist, ruft diese schließlich das Rote Kreuz an. Genauer: die Rettungsleitstelle.

Nach einem längeren Telefonat, in dem der Name, die Versicherungsnummer, das Geburtsdatum, der derzeitige Wohnort, die vermutete Krankheit und etliche weitere Details des Missgeschicks des 82-jährigen Patienten mitgeteilt werden, verspricht der wortkarge Disponent am Telefon eine rasche Lösung.

Da die örtliche Rettung mit einem nächtlichen Autounfall im Bezirk beschäftigt ist, wird ein mit zwei Mann besetzter Sanitätskraftwagen aus einer zwanzig Kilometer entfernten Dienststelle mit dem Einsatz beauftragt.

Tatsächlich erscheinen zwei verschlafene Sanitäter 37 Minuten nach dem Notruf im Pflegeheim.

»Die zwei Burschen vom Roten Kreuz waren ja lieb, aber sie haben geglaubt, dass sie mein verletztes Bein unbedingt schienen müssen und dann hat es mir noch mehr wehgetan.«

Im Tragsessel bringen die zwei Sanitäter den verletzten Mann vom zweiten Stock zum Haupteingang. Sie müssen über die Treppen gehen, denn der Lift ist außer Betrieb. »Glauben Sie mir, jede Stufe hab ich im Haxen gespürt.«

Sie laden ihn in den Rettungswagen.

Über dem Portal des Pflegeheims kann man auf einem blauen Schild mit weißem Rand die Adresse lesen. Hofmeisterstraße 70B. Dann fahren sie los. Fast 1,5 Kilometer. Nur, um in das unmittelbar nebenan gelegene Krankenhaus zu gelangen. Allerdings mit eigener Adresse. Nämlich Hofmeisterstraße 70.

Dazwischen liegen zwei Stoppschilder und etliche Einbahnen. Ein paar Erschütterungen, die den Schmerz im Bein intensivieren.

In der Notfallaufnahme angelangt, wird der Patient ausgeladen.

Wieder Schmerzen.

Wieder das Aufnahmeritual. Name und Versicherungsnummer. Wohnort. Unfallhergang. Die Sanitäter helfen dabei. Der Patient sagt nur: »Es tut mir so leid, aber ich kann mich nicht genau erinnern.« Dann das Röntgen. Ein glatter Wadenbeinbruch. Um 3.20 Uhr nachts. Und schließlich ein Gips.

Und zuletzt die gleiche Reise wieder zurück. 1,5 Kilometer in den Urlaub.

Dabei hätte alles ganz anders kommen können. Mit deutlich weniger Aufwand, weniger Schmerzen, schneller und effizienter.

Aber wie?

Die Antwort klingt wie die Auflösung eines Rätsels.

Würde es einen offensichtlichen Weg, einen geheimen Gang geben, die Sanitäter hätten ihn doch genommen? Ich behaupte, dass die Lösung des Rätsels in einem solchen einfachen Gang liegt.

Das österreichische Gesundheitssystem ist im Übrigen voll von solchen Gängen, wenn man sie nur suchen und erkennen würde.

In unserem Fall liegt dieser Gang im zweiten Obergeschoss des Pflegeheims, ist ungefähr sechzig Meter lang und verbindet das Pflegeheim mit dem Krankenhaus. Für das Personal, für das Essen und die Wäsche. Ganz offiziell ist er für jeden, der ihn benützen will, Tag und Nacht zugänglich.

Was fehlt, ist ein hauseigener Hilfspfleger in der Nacht, der den verletzten Patienten vom Pflegeheim in das Spital oder wenigstens zurück geschoben hätte. Auf einer fahrbaren Liege, oder einem Rollstuhl. Zu einem Bruchteil der angefallenen Kosten.

Das wäre schneller und schonender gewesen, für den Patienten und die übrigen Beteiligten.

Und die Sanitäter?

Die wissen natürlich vom Verbindungsgang. Aber Sanitäter haben einen klaren Auftrag. Vom Disponenten, von der Leitstelle. Vom System. Dieser Auftrag lautet, den Patienten auf jeden Fall ins Auto zu verfrachten und ein Stück weit zu fahren. Ein Rettungseinsatz wird von der Krankenkasse erst dann vergütet, wenn der Patient im Rettungswagen von irgendwo nach irgendwohin gefahren worden ist.

Auch wenn das bedeutet, von Hausnummer 70 nach 70B zu fahren.

Für den Transport eines Patienten innerhalb des Hauses gibt es kein Geld. Für intelligente zweckorientierte Lösungen keinen finanziellen Anreiz. Immer wieder höre ich von Zivildienern, wie einfach sie vor Ort mit etwas Hausverstand die Probleme von Patienten lösen könnten.

Daran hat aber niemand Interesse.

Interesse besteht vielmehr daran, auch ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Dieser Kuchen heißt: »Für die Gesundheit darf uns nichts zu teuer sein.«

Teure Übermedikation
Wie wir mit immer mehr Tabletten versuchen, gesund zu werden, obwohl zu viel davon außer Kosten so gut wie nichts bringt

Es gibt zwei wesentliche Assoziationen mit dem Wort Medizin: Medikamente und Operationen. Während Operationen Wirkung und Nebenwirkung nur am betroffenen Patienten entfalten, betreffen die Nebenwirkungen von Medikamenten nicht nur das einzelne Individuum.

Die ökologische Entsorgung nicht eingenommener Tabletten stellt die Abfallwirtschaft vor enorme Herausforderungen und die Verseuchung des Grundwassers mit ausgeschiedenen Medikamentenrückständen und Hormonen wird ein immer dringlicheres Problem unserer Gesellschaft. Wer genügend Leitungswasser zu sich nimmt, hat, ohne es zu wissen, einen erstaunlichen Cocktail an pharmakologischen Substanzen aufgenommen. Aber anstatt nach teuren Lösungen zu suchen und neue Filteranlagen zu fordern, könnte man ganz einfach und kostengünstig die Ursache bekämpfen und dabei noch Geld sparen.

Herbst 2012, Ende September. Ein drückend heißer Sommer ist nach einer Verlängerung im Herbst endgültig zu Ende gegangen. Kränkliche und ältere Menschen atmen auf. Die Tage sind merklich kürzer, in den Nächten kühlt es auf zehn Grad oder weniger ab. Wieder ist ein Sommer »überstanden«. In der Ordination habe ich wochenlang gehört: »So eine Hitze, ich halte das nicht mehr lange aus«, vor allem von älteren Patienten. Bald werde ich den gleichen Satz mit »Kälte« hören. Jahrzehnte als Landarzt haben mich gelehrt, dass der Zusammenhang zwischen Wetter und subjektivem Wohlbefinden weit über dem Ausmaß liegt, das die Wissenschaft für möglich hält. Forschung und Wissenschaft ignorieren das. Die Psyche ignoriert aber das Wetter nicht.

Tatsächlich habe ich öfter als einmal gehört: »Herr Doktor, ich brauche etwas gegen die Hitze.«

Sommer und Winter sind oft letzte medizinisch-emotionale Hürden im Leben alter Menschen. Hitze und Kälte mobilisieren letzte Kräfte. Stellen eine letzte irdische Herausforderung dar. Der Tod besucht meinen Sprengel im Herbst und im Frühjahr überdurchschnittlich häufig.

Ich werde zu einem Hausbesuch in den Nachbarort gerufen. »Herr Doktor, könnten Sie bitte zu uns kommen, der Vater ist vor fünf Tagen vom Spital nach Hause gekommen und jetzt geht es ihm noch schlechter als davor und sein Blutdruck ist viel zu niedrig.«

Herr Mayer ist 89 Jahre alt.

Aus medizinischer Sicht ist es ihm nicht schlecht gegangen. Doch vor ein paar Monaten hat er seine Frau verloren und ist über Nacht alt, unsicher und langsam geworden. Die Hitze des Sommers hat ihm sichtlich zugesetzt. Von der Familie geforderte Hausbesuche haben sich im Laufe des Sommers gehäuft. Jedes Mal messe ich den Blutdruck, höre Herz und Lunge ab. Jedes Mal ist alles in Ordnung. »Haben Sie Schmerzen?« Herr Mayer schüttelt jedes Mal den Kopf, nein.

Ich frage: »Bekommen Sie genug Luft?« Herr Mayer antwortet: »Herr Doktor, ich bräuchte Sie eh nicht, mir geht’s ja gut, aber die Kinder sind so um mich besorgt.« Unkomplizierte alte Menschen und unzufriedene Angehörige sind eine häufige Kombination.

»Geben Sie dem Vater etwas mehr Flüssigkeit, Sie werden sehen, das tut ihm gut.« Oder: »Warten wir doch noch ein paar Wochen, ob es ihm im Herbst, wenn die Hitze gebrochen ist, wieder besser geht.« Als Antwort höre ich jedes Mal: »Sollte der Vater nicht ins Krankenhaus?«

Bei einem anderen Hausbesuch sage ich: »Ich möchte Sie warnen, oft empfinden ältere Menschen einen Ortswechsel als Belastung.« Manchmal erlaube ich mir auch zu sagen: »Es würde dem Vater einfach guttun, wenn Sie öfter bei ihm wären und mit ihm Karten spielen würden, medizinisch fehlt ihm nichts.« Aber die Söhne haben keine Zeit, dem verwitweten Vater mehr Flüssigkeit zu verabreichen oder mit ihm Karten zu spielen. Der Vater muss ins Krankenhaus. Irgendwann gebe ich dem Drängen nach und weise Herrn Mayer widerwillig ins Spital ein. Während ich denke, dass eigentlich die Angehörigen behandelt werden müssten, höre ich eine Schwiegertochter sagen: »Der Papa muss sicher medikamentös neu eingestellt werden.«

Die medikamentöse Neueinstellung als Lösung zwischenmenschlicher Probleme ist in den vergangenen Jahrzehnten schleichend ein Reflex von Angehörigen geworden. Irgendwann höre ich aber doch die Wahrheit: »Wissen Sie, wir haben schon einen Urlaub gebucht, wir brauchen auch Erholung.«

Ich höre tausende Ausreden, warum keine Zeit für die Alten ist.

Eltern dürfen nicht alt werden. Der Gedanke an den Tod darf nicht geäußert werden. Weder vom Patienten noch vom Hausarzt. »Aber geh, Papa, rede doch nicht vom Sterben.« Alte Menschen dürfen nicht langsamer, nicht ruhiger, nicht versunkener, nicht zurückgezogener werden. »Der Herr Doktor wird dir schon helfen.« Die Elterngeneration muss bis zum letzten Atemzug fit bleiben. Alles andere wäre mit Abschied nehmen und Gefühlen verbunden, würde emotionale Anteilnahme erfordern. In den Hochglanzbroschüren steht doch, dass die Medizin den Tod so gut wie besiegt hätte? Dass immer noch etwas geht.

Medikamente ersetzen längst menschliches Verständnis.

Die Visite unmittelbar nach einem Spitalsaufenthalt ist eine häufige Forderung von Angehörigen geworden.

Nun freue ich mich auf zwölf Kilometer Kurzurlaub. Nach den Ordinationsstunden ein Stück allein mit dem Auto zu fahren ist angenehm. Wenn ich nicht zu schnell fahre, ist Zeit genug, um John Coltranes »My favorite things« zu hören. Seit unzähligen Visiten frage ich mich, was seine bevorzugten Dinge sein könnten? Zu meinen gehört auf jeden Fall die Visite nach dem Spitalsaufenthalt. Zuerst wollen Angehörige, dass ich den alten Vater oder sonst jemanden ins Spital schicke, weil dort die Medizin angeblich viel besser ist. Dann soll ich wiederkommen und alles noch besser machen, als es im Spital war. Auch das Spital ist nicht gut genug, wenn alte Menschen ihren Angehörigen keine Arbeit machen sollen. Was denken sich die Leute dabei?

Mein Blick gleitet über das Armaturenbrett meines Wagens. Welche Perfektion im Vergleich zum Menschen! Der Drehzahlmesser erinnert mich an das Manometer des Blutdruckapparats. Nur ist seine Anzeige wesentlich präziser und unabhängig von Stimmungsschwankungen. Wieder bin ich auf dem Weg zu einem alten gebrechlichen Patienten. Und wieder beneide ich das Auto um seine technische Überlegenheit. Ich fühle mich wohl. Abgeschirmt vom Elend der Schicksale. Abgeerntete Felder gleiten an mir vorbei. Ich fürchte den abgestandenen Geruch von Urin und schlecht ausgewischtem Kot. Noch riecht es nach Leder und Kunststoff.

Der ältere Sohn erwartet mich mit sorgenvollem Blick in der Haustür.

Ich kann mir den Seitenhieb nicht verkneifen: »Ich habe gedacht, der Vater kommt gerade aus dem Spital. Da müsste es ihm doch wesentlich besser gehen, oder?«

Der Sohn ignoriert meinen Zynismus. Er kennt mich seit 25 Jahren.

Vielleicht nimmt er ihn auch gar nicht wahr, was mir lieber wäre. »Seit der Papa aus dem Spital zurückgekommen ist, ist er jede Nacht verwirrt und aggressiv. Wir haben jetzt eine 24-Stunden-Pflegerin aus der Slowakei, wie Sie es ja schon länger gefordert haben, und die ist auch schon völlig fertig mit den Nerven.«

Ich blicke dem Sohn streng ins Gesicht. In manchen Situationen sind Worte zu direkt und unhöflich. Aber mein Gesichtsausdruck spricht eine klare Sprache. Jetzt haben wir die Misere, ab jetzt werden wir mehr auf die Bedürfnisse Ihres Vaters und nicht auf Ihre eigenen achten. Ich höre: »Aber Herr Doktor, schauen Sie doch nicht so streng.«

Ich sage: »Lassen Sie uns einmal in Ruhe den Vater untersuchen und die Situation analysieren, dann werden wir eine gemeinsame Entscheidung über die medizinische Zukunft Ihres Vaters treffen.«

Es folgt ein Satz, den ich in solchen Situationen schon öfter von Angehörigen gehört habe. »Herr Doktor, wir werden ab jetzt alles tun, was Sie sagen.«

Das Eingeständnis, dass man die Medizin falsch eingeschätzt hat und ein Zugeständnis an meine Vorstellungen vom Leben und seinem Ende. Von jetzt an wird die Arbeit leichter sein.

Wir gehen gemeinsam ins Haus. Durch den Flur kann ich Herrn Mayer sehen. Ein unangenehmer Geruch schlägt mir entgegen. Herr Mayer sitzt in einem Rollstuhl. Gedankenverloren starrt er ins Nichts.

Er erkennt mich aber sofort. Ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, sagt er mit greiser Stimme: »Ah, der Herr Doktor.«

Wir setzen uns an den Tisch im Wohnzimmer. An den Sohn gerichtet, sage ich: »Geben Sie mir bitte einmal den Entlassungsbrief aus dem Spital.« Aus dem Nebenzimmer kommt die Pflegerin und setzt sich lautlos an den Tisch. »Herr Doktor, das ist unsere Alena«, stellt der Sohn die blonde Mittvierzigerin vor.

Ich höre gerade noch: »Mein Bruder und seine Familie werden auch gleich kommen, Sie wissen ja, an der Enkelin hängt der Opa ganz besonders«, dann versinke ich im Arztbrief.

Diagnosen:

PAVK, Niereninsuffizienz, Vorhofflimmern, dekompensierte Myokardiopathie, Hypertonie, Prostatahypertrophie, dementielles Syndrom, aggressive Verhaltensstörung, Depression, Presbyakusis, Osteomyelitis 1. Strahl linker Fuß, hochgradige Bandscheibenschäden im HWS- und LWS-Bereich, koronare Herzkrankheit, Lungenemphysem, Arteriosclerosis universalis.

Dass die Gattin des Patienten vor wenigen Monaten gestorben ist, wird im ärztlichen Befund des Krankenhauses naturgemäß nicht erwähnt. Die Aufzählung beschreibt in lateinischen Worten einen alten Menschen. Nichts, was wir nicht schon vor dem Krankenhausaufenthalt gewusst hätten. Hinter dem Wort Niereninsuffizienz steht in Klammer der Wert des Kreatinins. 2,0. Als langjähriger Hausarzt würde ich diesen Wert als altersdurchschnittlich bezeichnen. Aber Krankenhäuser werden nach der Zahl der Diagnosen bezahlt.

Dann die Therapie:

Zanidip, 20 mg morgens (gegen Bluthochdruck), Concor Cor, 2,5 mg, zweimal eine halbe Tablette (gegen Bluthochdruck und für das Herz), Lasix, 40 mg morgens (zur Entwässerung), Mikrokalium dreimal täglich (Kaliumersatz bei Entwässerung), Simvastatin, 40 mg abends (gegen erhöhte Blutfette), Exelon, 4,5 mg, zweimal täglich (gegen Demenz), Dusodril retard, zweimal täglich (zur Durchblutungsförderung), Keflex, 1000 mg, zweimal täglich (ein Antibiotikum), Aspirin, 100 mg zu Mittag (zur Blutverdünnung), Lovenox, 40 mg, zweimal täglich unter die Haut spritzen (zur Blutverdünnung), Pantoloc, 40 mg morgens (zum Magenschutz), Alna retard, einmal abends (für die Prostata, aber auch gegen Bluthochdruck), Novalgin Tropfen, dreimal zwanzig Tropfen (zur Schmerzlinderung), Risperdal, 1 mg, zwei Tabletten abends (gegen Unruhezustände, dämpfend), Seroquel, 25 mg, drei Tabletten abends (zur Beruhigung), Dominal forte, eine Tablette abends (schlaffördernd, beruhigend), Seropram, 20 mg morgens (gegen Depressionen), Psychopax Tropfen, bis zu dreimal zwanzig Tropfen bei Unruhe.

Am Schluss lese ich noch einen Satz, der am Ende vieler Arztbriefe steht: »Der Patient konnte in deutlich gebessertem Zustand nach Hause entlassen werden.« Schon lange frage ich mich, was genau der gebesserte Zustand eines Patienten ist. Was könnte damit gemeint sein? Ob die Ärzte oder die Pfleger diese Verbesserung des Zustandes konstatieren? Ob Herr Mayer an Gewicht zugenommen hat? Ob nur die Laborwerte besser geworden sind? Ob seine entzündete Zehe abgeheilt ist? Ob sich seine geistigen Leistungen wieder verbessert haben? Ob er wieder selbstständig gehen kann? Ob er in der Nacht ruhiger geworden ist? Ob die Schwerhörigkeit wieder verschwunden ist? Ob er sich wieder aufs Kartenspielen freut? Oder ob die Floskel nur ein krankenhausinternes Selbstlob ist?

Auf all diese Fragen finde ich im Dokument keine Antworten. Niemand außer dem Verfasser des Arztbriefes kann eine Verbesserung bemerken.

Ich stehe vom Tisch auf und stelle meine Arzttasche auf den bereitgestellten Sessel neben dem Patienten. Während ich den Verschluss öffne und den Blutdruckapparat herausnehme, beuge ich mich vor und bringe meine Lippen nahe an seine Ohren. »Wie geht es Ihnen jetzt?« Herr Mayer reagiert nicht. Ich lege nach: »Nach dem Krankenhaus?«

Ich belasse meinen Kopf nahe bei seinem. Er bemerkt mein Warten. Mit inhaltslosem Blick sagt er kurz: »Ich weiß es nicht.«

Dann beginne ich mit der Untersuchung. Ich knüpfe das Hemd auf und ziehe es über die Schultern nach unten. Nicht ohne Hintergedanken. Wenn der Patient gründlich untersucht worden ist, werden meine Worte bei den Angehörigen mehr Gewicht haben. Das habe ich gelernt. Ernst genommen zu werden beruht auf Gegenseitigkeit. Auch wenn eine medizinisch-technische Untersuchung unmittelbar nach der Spitalsentlassung noch so sinnlos ist.

Der Blutdruck beträgt 90/55 mmHg, der Puls 82 Schläge pro Minute, die Lunge ist frei und die Herztöne sind unauffällig. Die Fußpulse waren vor dem Krankenhausaufenthalt nicht tastbar und sind es jetzt auch nicht. Neurologisch zeigen sich keine Auffälligkeiten. Herr Mayer reagiert nicht auf jede Frage. Die unvorhersehbaren Antworten haben nichts mit dem Gefragten zu tun. Immer wieder wiederholt er stakkatoartig: »Ich möchte niemandem Schwierigkeiten machen.« Der Sohn bedrängt mich, ich soll den Vater doch fragen, ob er in der Nacht unruhig wäre. »Wie geht es Ihnen in der Nacht?« Herr Mayer antwortet nach einer längeren Nachdenkphase: »In der Nacht schlafe ich, da möchte ich niemandem Schwierigkeiten machen.«

Nebenbei erwähnt die Pflegerin in gebrochenem Deutsch, dass Herr Mayer erst nach der Einnahme der Abendmedikation unruhig würde.

Inzwischen ist auch das erwachsene Enkelkind mitsamt Eltern eingetroffen. Kurz glaube ich, ein Lächeln im sonst starren Gesicht Herrn Mayers erkennen zu können.

Die Szene ist voller Erwartung. Wie in einem Gerichtssaal, kurz vor der Urteilsverkündung. Die ganze Familie samt der Pflegerin sitzt am Tisch und beobachtet mich. Der Patient verharrt ohne Anteilnahme in seinem Rollstuhl. Er scheint sich keiner Schuld bewusst zu sein. Ich glaube, er weiß nicht einmal, worum es geht. Die Runde am Tisch wartet schweigend auf meine Worte. Bewusst bleibe ich zwischen Patient und Tisch stehen.

Während ich bedächtig Blutdruckmesser, Stablampe und Stethoskop in meine Tasche schlichte und dabei überlege, mit welchen Worten ich meine medizinischen Gedanken der Familie mitteilen werde, unterbricht die slowakische Pflegerin die Stille: »Ist es schon schwer, dem Opa zu viele Tablette schlucken zu geben.«

Sie trifft den Nagel auf den Kopf.

Dankbar für die Gedankenbrücke sage ich geradeheraus: »Die Alena hat vollkommen recht, wenn ich mir die Medikationsliste Ihres Vaters so anschaue, glaube ich nicht, dass irgendein Mensch so viel Medizin überleben kann.«

Ich sehe die erstaunten Gesichter am Tisch.

Der jüngere Sohn fasst sich ein Herz und fragt: »Wie meinen Sie das, Herr Doktor?« Meine Antwort habe ich so oder in anderer Form schon viel zu oft geben müssen: »Ich befürchte, dass Ihr Vater trotz, aber nicht wegen dieser Medikation noch am Leben ist.«

Mit diesem Gedanken scheint niemand gerechnet zu haben. Offensichtlich hat die Familie ein anderes Urteil erwartet. Ich bin sicher, dass die Erwartungen in Richtung noch einer zusätzlichen Tablette, die alles gut macht, gegangen sind.

Ich nütze das Überraschungsmoment und fahre fort: »Um ehrlich zu sein, ich könnte Ihnen nicht sagen, welches Medikament in dieser Mischung noch irgendeine vorhersehbare Wirkung entfalten kann. Nur der Blutdruck ist mit den vielen Tabletten offensichtlich zu niedrig geworden.«

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