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Ein Krankenbesuch

Adele Heller nahm dank ihres motorisierten Fahrrads zügig den leichten Anstieg am Ende des Emmeran-Thalhammer-Wegs der von so vielen Schlaglöchern gekennzeichnet war, dass es ihrer ganzen Aufmerksamkeit bedurfte, einen Sturz zu vermeiden. Emmeran-Thalhammer-Weg hieß er nach einem früheren Gemeinderat, der sich beim Umbau der Gemeindeverwaltung große Verdienste erworben hatte. Die Röthenbacher nannten ihn aufgrund seines bedauerlichen Zustands gemeinhin respektlos, aber überaus zutreffend, Emmentalerweg. Die ungepflegte löchrige Teerdecke glich tatsächlich mehr einem Schweizer Käse als einem Fahrweg und sie sah so renovierungsbedürftig aus wie das in die Jahre gekommenen Einfamilienhäuschen der Familie Hartmann, deren Bewohnerin sie den täglichen Besuch abstattete.

Frau Heller war diplomierte Krankenschwester und kümmerte sich hauptamtlich um die Kranken und pflegebedürftigen Einwohner der Gemeinde, sofern deren körperlicher und geistiger Gesundheitsstatus ein Wohnen in den eigenen vier Wänden noch zuließ. Sie war bei Allen äußerst beliebt, nicht zuletzt deshalb, weil sie immer ein mildes, zufriedenes Lächeln im Gesicht trug. Egal, ob die Umstände danach waren oder nicht. Es war Teil ihrer Berufung, wie sie selber auf Befragen antworten würde und das aus vollster Überzeugung. „Meinen Patienten geht es meist schlecht genug, die brauchen nicht noch ein griesgrämiges Gesicht, das ihnen die Laune verdirbt, sondern freundliche Zuwendung.“ Wenn sie kam, ging für viele ein Licht auf.

Marion Hartmann war zwar noch in den so genannten besten Jahren, aber das Schicksal hatte ihr bereits übel mitgespielt und sie mit nicht einmal 50 Jahren zu einem Leben mit einer dauerhaften Gehbehinderung verurteilt. Sie brauchte zwei Krücken, um sich wenigstens notdürftig vorwärtsbewegen zu können und ohne starke Schmerzmittel ging es gar nicht. Ausgerechnet sie musste das Pech haben, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein. Ein Auto hatte sie mit überhöhter Geschwindigkeit erfasst und über mehrere Meter gegen einen Lichtmast geschleudert. Hätte sie nur nicht diese vermaledeite Abkürzung durch das Wäldchen genommen. Dann hätte sie auch nicht die Kreisstraße an dieser unübersichtlichen Stelle überqueren müssen. Dass der betrunkene Fahrer ermittelt und hart für seine Verfehlung bestraft wurde, verschaffte ihr wenig Genugtuung. Die Folgen der tragischen Begegnung hatte sie ganz allein zu tragen. Sie würde nie wieder richtig gehen können, schon gar nicht schmerzfrei, ganz zu schweigen von den langen Waldläufen, bei denen die ehemalige passionierte Sportlerin früher die nötige Entspannung nach ihrer anstrengenden Tätigkeit am Montageband eines Elektronikherstellers fand. Das Schicksal hatte sie wahrlich hart getroffen.

Die Schwester hatte einen Schlüssel für die Haustür und öffnete sich daher selbst.

„Hallo mei Guude, wie geht‘s uns denn heut?“, rief sie bereits vom Flur aus in das kleine Wohnzimmer, wo sie die Patientin, in ihrem kunstlederbezogenen Fernsehsessel sitzend, bereits sehnsüchtig erwarten würde. Adele Heller war vorsichtig geworden, seit sie vor Jahren eine Patientin, eine relativ rüstige alte Dame, mit einem Kopfkissen erstickt in ihrem Bett vorgefunden hatte. Der Schock hatte ihr seinerzeit gewaltig zugesetzt. Die weit aufgerissenen Augen des Mordopfers erschienen ihr noch heute oft genug in ihren Träumen. So etwas wollte sie nie mehr erleben. Daher hatte sie sich seither angewöhnt, sich erst einmal bemerkbar zu machen, bevor sie in den Wohnbereich kam. Damit hoffte sie vermeiden zu können, dass sie wie damals, völlig unvorbereitet in eine solche Schrecksituation geriet. Wenn sie jedoch auf ihr Rufen keine Antwort erhielt, dann betrat sie die Wohnung jedes Mal mit klopfendem Herzen und angespannter Erwartung.

Aber seitdem war nichts Vergleichbares mehr geschehen und auch heute hörte sie sogleich das vertraute Geräusch, das die Krücken der Patientin beim Aufsetzen auf den einfachen Teppich im Wohnzimmer verursachten.

„Muss hald gäih, bleibd mer scho nix anderschds übrich“, tönte es, ebenfalls vertrauterweise hinterher. Das war wohl eher eine Floskel als wahre Überzeugung, denn zu den Geduldigsten hatte die Frau Hartmann noch nie gehört. Sie war schon eher eine von denen, die mehr mit dem Schicksal haderten, als ihnen gut tat und das auch noch ein gutes Jahr nach ihrem tragischen Unfall.

„Naja“, dachte die Schwester, „wenns ihr hilfd, dann solls hald vo mir aus brummer“ und sah keinen Grund ihre freundliche Miene dem ungnädigen Empfang anzupassen. Auch darin war sie höchst professionell. Wenn sie sich auch vornahm, nie so undankbar zu werden, wenn es bei ihr einmal so weit sein sollte, so konnte sie doch verstehen, warum die Frau unzufrieden und von Selbstmitleid geprägt war. Schließlich hatte sie nicht nur mit den Folgen ihres Unfalls zu kämpfen, auch mit der Wahl ihres Ehemanns hatte sie nicht gerade das große Los gezogen.

Schwester Adele kannte den Mann kaum. Entweder ging er ihr absichtlich aus dem Weg oder er war aus anderen Gründen so gut wie nie zuhause. Wenngleich er noch erwerbstätig war, so hätte sie ihn doch wenigstens an den arbeitsfreien Tagen einmal antreffen müssen oder wenn sie besonders viel zu tun hatte und daher erst gegen Abend vorbeikommen konnte. Aber geben musste es ihn schon noch, denn die benötigten Medikamente waren immer vollzählig vorhanden und auch der Kühlschrank war ausnehmend gut gefüllt. Vielleicht kümmerte sich aber auch diese Frau aus der Nachbarschaft darum, die ihr die schwerste Hausarbeit abnahm und auch gelegentlich für sie eine Portion mit kochte, wenn es zum Beispiel Eintopf oder Suppe gab.

Adele war mittlerweile im Wohnzimmer angekommen und sah, wie die Frau Hartmann keuchend, sich an der Wohnwand abstützend dastand. Der Verband, den ihr Adele Heller jeden Tag wechselte, hing lose vom rechten Unterschenkel herab. Wahrscheinlich hatte ihn die Patientin wieder einmal in einem Anflug von Ungeduld geöffnet, um den Heilungsfortschritt zu kontrollieren. Geduld gehörte wahrlich nicht zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften. So würde die Heilung des offenen Beins, mit dem sie seit mehreren Wochen zu tun hatte und das auch der Grund für die Betreuung durch die Gemeindeschwester war, ganz sicher nicht schneller voranschreiten, eher im Gegenteil. Adele Heller schnaufte nur einmal heftig durch, besann sich dann aber eines Besseren und verzichtete auf die berechtigte scharfe Belehrung der Uneinsichtigen. Wenn man tagtäglich mit teils schwierigen Patienten zu tun hatte, erwarb man zwangsläufig einen nicht zu unterschätzenden Erfahrungsschatz im Umgang mit ihnen und so wusste sie, dass Kritik hier nur das Gegenteil von dem bewirken würde, was sie erreichen wollte.

„Ach Godd“, sagte sie stattdessen, die Ursache der Misere außen vor lassend „wie schaud denn dess aus? Der Verband iss ja kombledd aufganger. Hoffndlich iss ka Dregg neikommer, sonsd gibds schnell amal a gefährliche Infektion und dann kommer gar nix mehr ausschließn, bis zum Verlusd von dem Bein iss dann alles möglich. Und dess woll mer doch nedd, Frau Hartmann, gell.“

Die Message, wie man heutzutage sagt, war hoffentlich angekommen, auch ohne persönliche Zurechtweisung.

„Na, dann schau mer hald amal, woss mer machen könner. Kommers, ich helf ihner auf ihr Sofa, dann könner ser si hinleeng. Dann machi die Wunde sauber und leech ihner den neuer Verband an. Hoff mer, dasser dann morgn, wenni widder komm besser ghaldn hodd.“

Bei den letzten Worten blickte sie der Patientin mit strenger Miene ins Gesicht und sie glaubte tatsächlich so etwas wie Einsicht erkennen zu können. Sie hatte also sehr wohl verstanden.

„Woss glaubns denn, Schwester, wie lang dess nu dauerd, bis die Wundn endlich amal zuheild?“, fragte sie aber dennoch, nicht ohne einen erneuten Anflug von Ungeduld.

„Ich konns nedd genau voraussagn, Frau Hartmann. Der Doggder Eichberger hodd ihner ja sicher ganz genau erglärd, wie sowoss zustand kommd und dass dess auf jedn Fall a langwieriche Gschichd iss. Wissens, mid ihrer Diabetes mellitus iss hald die Durchbluudung von ihrn Bein nimmer gar zu guud und der durch ihr Behinderung zwangsläufich vorhandne Bewegungsmangl duud sei Übriches. Helfn däds nadürlich scho, wenn der Zugger amal aweng niedriger wär. Sie müssn si hald ganz genau an ihr Diäd haldn, sonsd wärds bloß immer schlechder“.

„No dess machi doch. Ich ess ja so gudd wäi gar nix. Und ganz verhungern konni ja schließli aa nedd, odder?“

Ein Blick auf Frau Hartmanns Figur entlarvte diese Bemerkung sofort als reine Schutzbehauptung. Vom Hungern kam dieses deutlich sichtbare Übergewicht sicher nicht. Aber was sollte Adele Heller denn sagen, es war nur zu verständlich, dass die leidgeprüfte Frau Trost in den kulinarischen Freuden suchte, wenn sie anderweitig größtenteils von den angenehmen Seiten des Lebens ausgeschlossen war.

Dicke Luft und dünnes Nervenkostüm

„Du glaubsd ers nedd, woss dee mid ihrer bläidn Bauschdell für an Dreeg machen. Schau amal her, wäi meine Schuh ausschauer, voller Baatz. Lehm odder woss dess iss. Dee bringi wahrscheinli nie mehr gscheid sauber. Glabbsd ers naa. Und dess soll fei nu mindesdns bis in Sebdember nei dauern.“

Die Marga schimpfte wie ein Rohrspatz, kaum dass sie die Türe geöffnet hatte und in den Hausflur getreten war. Peter kam gerade aus dem Wohnzimmer. Er hielt ein Buch in der Hand und war eigentlich im Begriff sich auf die Terrasse zurückzuziehen, um in Ruhe die Beine hochzulegen und seinen Kriminalroman weiter zu lesen. Das musste nun aber noch ein wenig warten, denn wenn die Marga derart in Fahrt war, konnte er sich schlechterdings nicht einfach abwenden ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, Teilnahme an ihrer Aufregung vorzutäuschen. Ihn selbst störten die Baumaßnahmen, die die Gemeindeverwaltung unter der Leitung des neuen Bürgermeisters Löblein in die Wege geleitet hatte, nicht annähernd so sehr wie seine aufgebrachte Ehefrau. Zum einen war ihm völlig klar, dass kein Weg an der Erneuerung der Kanalisation vorbei ging, wollte man nicht weiterhin mit gelegentlichen Verstopfungen und Überschwemmungen, insbesondere nach ergiebigen Regenfällen leben und zum anderen besaß er selbst keine derart empfindlichen Schuhe wie die wildledernen Edelschlappen seiner Angetrauten. Für ihn hatten Schuhe ausschließlich praktisch zu sein und vor allem mussten sie passen, der Rest war ihm völlig egal. So trug er auch immer das gleiche Paar, bis sie endgültig und im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr tragbar waren. Eine schlechte Angewohnheit, die seine Marga dagegen überhaupt nicht tragbar fand, die sie ihm aber auch in über 40 Ehejahren nicht abgewöhnen hatte können. Wenn sie einmal zur Reparatur mussten, die guten Schwarzen, dann kramte der Hausherr regelmäßig ein abgewetztes altes Paar aus seinem Fundus hervor und trug dieses in der Zwischenzeit. Mode hatte noch nie einen bevorzugten Platz im Leben des Peter Kleinlein eingenommen. Seit seinem Ruhestand war der Begriff gar zu einem absoluten Fremdwort mutiert, zu einem, das er lediglich vom Hörensagen kannte. Und so war es auch nicht verwunderlich, dass ihm auf Anhieb die richtigen Worte fehlten, um die Marga wieder zu beruhigen.

„Woss sei muss, muss sei. Da kommer nix machen. Wenn der Kanal aufgrabn werd, dann bleibds nedd aus, dass a boar Unannehmlichkeidn gibd. Vielleichd konn mers ja aweng abwaschn, deine Luxustreter. Etz im Sommer droggners doch ganz schnell widder.“

Es gibt in jeder Lage passende und unpassende Worte. Und dann gibt es welche, die nicht nur unpassend, sondern geradezu provokativ sind, wie er umgehend an einer empörten Retourkutsche erkennen musste.

„Dir machd dess freilich alles nix aus. Dess iss mir scho glar. Seid dem Corona hasd du dich ja richdichgehend hänger lassn und machsd nix anders, als bloß nu derhamm rumzuhoggn und deine blödn Griminalromane zu lesen. Weiderbildung wahrscheinlich. Ich bin ner bloß froh, dass bei uns etz scho über a Jahr nix Schlimmes mer bassierd iss, in woss du dich eimischn hädsd könner und hoffndlich bleibds aa derbei.“

Peter zog es vor nicht zu antworten. Was hätte er auch sagen sollen. Im Grunde stimmte es ja, was seine Frau ihm vorwarf. Viel zu bequem, ja richtiggehend faul war er geworden. Nur die Hoffnung auf eine Zeit ohne kriminelle Vorfälle, in die er sich gegebenenfalls hätte einmischen können, die teilte er ganz und gar nicht mit ihr. Eine kleine oder gerne auch eine größere Abwechslung von der Dauerlangeweile, die sich seit den monatelangen Lockdowns eingeschlichen hatte und die danach einfach nicht mehr verschwinden wollte, wäre ihm durchaus willkommen gewesen. Aber das durfte er nur denken, keinesfalls laut aussprechen, ohne gleich eine gefährliche Störung des häuslichen Friedens zu riskieren. Die Marga war schon immer seinen Einmischungen in die diversen Mordfälle der vergangen Jahre ablehnend gegenüber gestanden, hauptsächlich aus Sorge, dass ihm Schlimmes zustoßen könnte. Nach ihrer Ansicht, die übrigens von allen vernünftigen Menschen geteilt wird, wie sie ihm oft genug erklärt hatte, ist die Aufklärung von Verbrechen jeglicher Art eine ausschließliche Aufgabe der Polizei. Amateure und Hobbydetektive, wie ihr Mann, hätten sich gefälligst heraus zu halten und seine Tätersuche hatte sich allenfalls auf das Lesen von Romanen oder Fernsehkrimis zu beschränken. Echte Ermittlungen hatte man den Fachleuten zu überlassen. Auch wenn sie zugeben musste, dass im Fall von Hauptkommissar Schindler der Begriff Fachmann durchaus etwas wohlwollend gewählt schien.

Peter zog es vor, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen, da er ohnehin nichts dabei gewinnen konnte. Vielmehr zog er sich endgültig auf die Terrasse zurück. Zuvor fragte er in der Hoffnung, das heikle Thema damit zu beenden, so beiläufig wie nur möglich die Marga:

„Woss hosd nern besorgd für heid Middooch zum Essn?“

„Du wersd ers derwardn könner. Etz mussi erschd amal die ganze War‘ ausbaggn und dann fangi scho zum Kochn an. Schinknnudln gibds, für mehr is ja etz gar ka Zeid mehr. Nedd jeder hodds so bequem wie du.“

Da in nächster Zeit kaum mit einem Ende der Verstimmung gerechnet werden konnte, verzichtete Peter auf weitere Erkundigungen und wandte sich einem weiteren Kapitel von „Der Henker vom Hexenwald“ zu.

Der Schatz im Schwedengraben

In der Metzgerei von Simon Bräunlein und seiner Frau Gisela ging es wie immer hektisch zu. Es war kurz vor Mittag und einige, vor allem ältere Hausfrauen, hatten es plötzlich unglaublich eilig. Wahrscheinlich war ihnen eben erst siedend heiß eingefallen, dass es neben einem gelegentlichen Ratsch zum Zweck der Einholung diverser Neuigkeiten auch noch ein schmackhaftes Mittagessen auf den Tisch zu bringen galt. Wenngleich für das Letztgenannte die Zeichen eher schlecht standen, die Teller also vorübergehend noch leer bleiben mussten, so war für den Nachtisch bereits gesorgt. Man durfte sich auf eine reichlich mit Neuigkeiten, ja mit geradezu köstlichen Sensationen randvoll gefüllte Dessertschale freuen. Diese war bis oben hin gefüllt mit Berichten zu hochwichtigen Ereignissen, die einer genauen Erörterungen bedurften, garniert mit Tupfern aus rätselhaften Gerüchten, die die Fantasie der Interessenten zusätzlich anregten.

Doch davon wusste die Gisela bisher noch nichts. Erst musste die alte Dame zu Ende bedient werden, die seit gefühlten zehn Minuten unschlüssig vor der Wursttheke stand und sich partout nicht entscheiden konnte.

„Woss iss etz, Frau Zängerlein“, fragte Gisela Bräunlein, die beste und gleichzeitig einzige Fleischereifachverkäuferin von Röthenbach. Halt! Diese Behauptung ist mittlerweile nicht mehr so ganz richtig. Seit der große BIGMA-Supermarkt eröffnet und die Metzgerei Bräunlein dort die Fleisch- und Wurstabteilung übernommen hatte, gab es noch eine weitere Mitarbeiterin, die aber bei weitem nicht an Giselas Qualitäten heran reichte. Wie sollte sie auch? Dafür hätte es nicht nur Giselas profunder Fachkenntnisse bedurft, sondern auch ihrer herausragenden Befähigung zur Pflege wertvoller Kundenbeziehungen. Alles Eigenschaften, die ein tiefgreifendes Wissen bezüglich Vorlieben und Eigenheiten der werten Kundschaft, sowie großes Einfühlungsvermögen voraussetzen. Ferner sind regelmäßige Updates von Informationen aller Art nötig, quasi als permanente Fortbildungsmaßnahmen. Über alle Ereignisse im Ort sowieso, ob nun harmlos oder brisant, angefangen von kleinen Skandälchen, wie kolportierten Eheproblemen von Nachbarn, bis hin zu bedauerlichen Scheidungsgerüchten. Neuerdings gehörten auch Verstöße gegen die Coronaregeln dazu, die man dann mit Freundinnen und Bekannten genüsslich diskutieren und gegebenenfalls noch weiter ausschmücken kann. Oder man erfährt einfach nur Neuigkeiten, die für die werte Kundschaft von Interesse sein könnten. Einen Einkaufstipp etwa oder das eine oder andere Kochrezept. So etwas wird geschätzt und gerne im Detail diskutiert.

In all diesen Fragen war Gisela Bräunlein unbestreitbar die Nummer eins in Röthenbach. Doch im Moment musste sie erstmal ein anderes Problem lösen.

„Also Frau Zängerlein, nehmer mer widder wie immer a Värdl Aufschnitt ohne woss Geräucherds drin selbstverständlich odder derfs heid amal woss ganz anders sei?“

Gisela wusste natürlich auch genau über die Vorlieben und Unverträglichkeiten ihrer Kundinnen Bescheid. Im Falle der Frau Zängerlein war es ein schwacher Magen, der auf geräucherte Wurstsorten äußerst abweisend reagierte und sie war deshalb absolut in der Lage maßgeschneiderte Vorschläge zu machen. Dem entsprechend nickte die alte Dame dann auch und gab endlich grünes Licht für Gisela weiterzumachen.

„Und ihr Maskn, dee müssns fei scho aa über die Nasn naufziehn, sonst hilfds nix, gell“

„Woss für Massn? Mir langd a Värdl odder hunderd Gramm, seid mei Moh ….“

Mit dem Ausruf „Maske!“, wobei sie jeden Buchstaben einzeln betonte und das Ganze mit einer entsprechenden Geste unterstrich, unterbrach sie die Metzgermeistersgattin, ging aber ansonsten auf das Missverständnis erst gar nicht weiter ein. Sonst hätte sie sich nur wieder in aller Ausführlichkeit das bedauerliche, weil vorzeitige Ableben des Ehemanns von Frau Zängerlein vor nunmehr fast 15 Jahren in Breit und Länge, vor allem Länge, anhören müssen. Sie warf stattdessen die Wurstschneidemaschine an und tat so, als würde sie wegen des Geräuschs des rotierenden Messers nichts hören.

Wie bereits erwähnt sind gute Ratschläge bei Gisela im Preis inbegriffen. Leider waren sie aber auch nötig. Besonders die älteren Herrschaften hatten ihrer Erfahrung nach während der gesamten Pandemie Probleme sich mit der Masken- und Abstandspflicht abzufinden. Und dabei wäre es gerade für sie als höchste Risikogruppe wichtig gewesen, sich zu schützen. Die gute Frau Zängerlein hatte allerdings in dieser Hinsicht eine auf den ersten Blick eher krude Ansicht.

„Horngs Frau Bräunlein, etz binni scho über die Neunzg naus. Glaubn sie im Ernsd, mir macherd dess woss aus, wenns zu End gingerd?“, hatte sie auch mitten in der schlimmsten Zeit um den Jahreswechsel 2020/21 auf ihrer Ablehnung der Vorsichtsmaßnahmen beharrt. Warum sollte sie jetzt plötzlich anders denken, wo aufgrund des Impffortschritts die drei am ärgsten gefährdeten Risikogruppen, sofern sie es wollten, vollständig geimpft waren und der Mundschutz nur noch nötig war, um die restliche Gruppe der Normalsterblichen zu schützen.

„Außerdem hobb ich meiner Lebdooch noch nie sowoss brauchd und ich hobb fei allerhand midgmachd in mein Lebn. In zweidn Weldgriech, die Imbfalation mid der Währungsreform, dreimal simmer ausbombd worn, damals in der Bindergass in Nämberch drin. Dou werri mi doch nedd von so an lumberdn Virus färchdn. Und wenns dann immer nu dee Phosphorbombn runder gworfn homm, dee verdammdn Engländer, dee homm immer ausgschaud wäi Christbäum, wenns vom Himml gfalln sinn….“

Gisela gab es auf. Vielleicht hatte die alte Frau auch Recht, zumindest aus ihrer Sicht. Denn lange würde sie ohnehin nicht mehr leben. Es war sowieso ein Wunder, dass sie noch alleine zuhause bleiben konnte. Und bevor sie noch jeden Topf einzeln aufzählen konnte, den sie aus den Trümmern gerettet hatte, machte sie schnell ihr Päckchen fertig und legte es geschwind auf die Theke.

„So, Frau Zängerlein, dess wärs dann widder amal. Einsvirzich gricherd ich dann.“

Nachdem die alte Dame gezahlt hatte und gegangen war schnaufte die Gisela noch einmal kräftig durch und wandte sich der nächsten Kundin zu, die schon verdächtig mit den Augen gerollt hatte, was Gisela natürlich nicht entgangen war.

„Also die Alten, die haben ja anscheinend alle Zeit der Welt. Dass unsereins nebenbei noch arbeiten muss, darauf kommen die gar nicht.“

Das konnte durchaus stimmen, kam allerdings bei Gisela nicht besonders gut an.

„Wissns, ich werd hoffndlich aa amal so ald und dann hoffi doch, dass sie mid mir aweng mehr Geduld aufbringer wie grad mid der Frau Zängerlein. Also, woss derfs sei, damid mer amal weider kommer?“

„Um Gottes Willen, was ist ihnen denn über die Leber gelaufen, Frau Bräunlein. Da getrau ich mich ja gar nicht zu sagen, dass ich heute nur ein einziges Stück Schnitzel brauche. Wissen sie, bei uns isst nur noch mein Mann Fleisch. Ich und meine beiden Töchter, wir verzichten mittlerweile ganz auf tierische Ernährung, schon allein aus moralischen Gründen, von den gesundheitlichen Vorteilen ganz zu schweigen- Naja, meinen Mann bringen wir schon auch noch zur Vernunft.“

Sie lächelte dabei eigenartig verkniffen vor sich hin, beinahe bösartig, wie eine Katze, die die Maus in einer Ecke festgesetzt hat und zum finalen Schlag mit der krallenbesetzten Pfote ausholt. Sie hatte keine Ahnung wie gefährlich sie im Augenblick, mitten im Metzgerladen, quasi dem Tempel der Fleischeslust, lebte.

„Wissen sie, man kann ja auch beim Fleisch schon in der Zubereitung einiges in die richtige Richtung bewegen. Pfeffer und Salz sind tabu, dafür stehen ja jede Menge feinster Kräuter zur Verfügung, die nicht nur gut schmecken, sondern auch noch äußerst gesund sind.“

Und sie zählte eine exotische Zutat nach der anderen auf, die Liste wollte gar kein Ende mehr nehmen. Gisela hörte gar nicht mehr richtig zu. Sie hielt sich auch mit ihrer völlig konträren Meinung erstaunlich gut zurück, äußerlich zumindest, innen drinnen kochte der Vulkan bereits gefährlich und stand kurz vor dem Ausbruch. Am Ende gab die verdächtig dünn gewordene Kruste nach, bekam einen Riss und die glühende Lava schoss in einem einzigen Satz heraus.

„Den armer Moh braungs ja gar nimmer lang bekehrn, als Vegedarier odder gar als Veganer odder woss sie sinn. Den homms ja alaans mid ihre Gewürze scho zum halbn Pflanznfresser gmachd. Vom Fleisch merkd der doch sowieso nix mehr.“

Die Kundin schien nicht einmal beleidigt zu sein, sie lachte lediglich wissend. Vermutlich hatte sie derartige Ausbrüche schon anderweitig zuhauf erlebt, als dass sie sich davon beeindrucken lassen würde. Und mit der Gisela schien sie eher Mitleid zu haben, ob so viel Unkenntnis. Sie wischte den Wortwechsel elegant beiseite und wechselte routiniert das Thema.

„Haben sie denn schon das Neueste gehört?“ Oder haben sie keine Zeit für solche Dinge?“

Da irrte die Dame. Wenn es interessante Neuigkeiten gab, dann spielte Zeit nur eine untergeordnete Rolle.

„Woss gibds denn so Indessandes. Könners ruhich weiderredn. Ich konn zuhörn und arbeidn zur selben Zeid.“

„Also, zurzeit sind doch diese Grabungsarbeiten wegen der Erweiterung der Kanalisation in vollem Gang. Da hat es vorhin einen riesigen Menschenauflauf gegeben, gleich vorne bei dem so genannten Schwedengraben, gleich bei …“

„Ja, weider, ich wass scho wo dess iss. Ich bin schließlich in Rödnbach geborn. Ich hobb scho im Schwedngrabn gschbilld, da homm sie noch nedd amal gwussd, dass Rödnbach überhaubds gibd.“

„Ja, also wegen der vielen Leute, da musste ich ja quasi einen Umweg machen und darum hat es mich natürlich interessiert, was es da zu sehen gab. Zuerst hatte ich ja an einen Unfall gedacht, aber was soll ich ihnen sagen?“

„Ja, woss denn?“

„Die Arbeiter sind auf eine Menge, offenbar sehr alter Metallgegenstände gestoßen. Der Bürgermeister war auch schon da und ich habe zufällig im Vorbeigehen gehört, wie er sagte, dass die Fundgegenstände wohl hunderte Jahre alt wären, vielleicht sogar so alt wie der Ort selbst.“

An ein zufälliges Vorbeigehen glaubte Gisela nicht einen Augenblick. Die Dame war bekanntermaßen einem Plausch nicht abgeneigt, um es sehr vorsichtig und milde auszudrücken. Sie konnte sich gut denken, dass die sich deshalb gerne ganz nach vorne, in die erste Reihe der Schaulustigen drängen ließ. Leider konnte die Gisela im Moment nicht einfach Mal schnell das Geschäft schließen und so war sie auf die dürftigen Informationen angewiesen, die sie von ihren Kunden bekommen würde. Deshalb bohrte sie auch noch einmal nach.

„Uralt, dess iss abber a dehnbarer Begriff. Es konn ja aa durchaus sei, dass am End vom Griech jemand sei Daaflsilber oder andere Wertsachn im Gardn vergrabn hodd, damids die Ami nedd finden, wies seinerzeid mid ihre Banzer ins Dorf eigrolld sinn. Woss wass mer denn? Dess homm damals an Haufn Leit‘ gmachd. Dee Ami homm doch alle Häuser durchsuchd, obs nedd irgnd an glann Lausboum findn, den die Nazi nu schnell in a Uniform gschdeggd homm, dasser den Einmarsch von die Amerikaner aufhaldn soll.“

„Mei Großvadder zum Beischbill“, fuhr sie fort, „der war im erschdn Weldgriech bei die Ulanen, der hodd damals nu sein Säbl derhamm ghabd. So als Andenkn hald an sei Zeid beim Königlich Bayrischn Schwerreiterregimend. Den hodder heilich ghaldn. Mei Vadder hodd uns immer erzähld, dass sie als Kinder dess werdvolle Ding nedd amal homm anfassn derfn. Den hodd er dann aa vergrabn, wall, mer hodd ja kanne Waffn derhamm hobn derfn und wer wass, woss dee Ami mid ihn gmachd häddn, wenns den bei uns im Haus gfundn häddn. Aufd Letzd häddns den aldn Moh weecher Widerstand nu derschossn.“

Die Kundin war nicht sehr beeindruckt von Giselas Theorie und winkte sofort ab.

„Nein, die haben dort anscheinend eher Münzen und Schmuck gefunden, wenn ich es richtig mitbekommen habe. Aber das wird man ja bald genauer wissen. Die Presse war vorhin auch schon da und die erfahren das alles ja aus erster Hand. Sie werden sehen, morgen steht es bestimmt schon in der Zeitung.“

Da war sich auch Gisela auch ganz sicher. Da sie aber als führende Quelle für Neuigkeiten und Gerüchte aller Art gilt, war dies kein allzu großer Trost für sie. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, war einer ihrer Lieblingssprüche. An der Nachrichtenbörse musste man die erste sein und diesbezüglich hatte sie einen Ruf zu verlieren. Der Verkauf von Brat- und Leberwurst rückte schlagartig in den Hintergrund. Unsichtbare, jedoch sehr feinfühlige Antennen fuhren aus, um ab sofort jeden interessanten Hinweis aufzufangen und auf Verwertbarkeit zu filtern. Die Verkaufsgespräche würden heute selbstverständlich allesamt um dieses Ereignis kreisen.

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9783754126622
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