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Der Ruf der See

Die Thalia lag am Ende des Molo San Carlo, der Bug zeigte in Richtung Triest und das Heck in Richtung Adria. Bruno hatte gleich nach dem Frühstück auf der Veranda des Bootsdecks Stellung bezogen. Nur das Brückendeck lag noch höher, aber dieses gehörte derzeit den ziemlich beschäftigten Seeleuten. Seine Position bot optimalen Überblick über das Geschehen am Molo. Die letzten Fahrgäste bestiegen das Schiff, um zehn Uhr Vormittag würde es ablegen.

Die erste Nacht an Bord lag hinter ihm. Eine ruhige Nacht, eigentlich hatte er gar nicht bemerkt, dass er sich auf einem Schiff befand. Kein Seegang, kein Schlingern, er hatte gut geschlafen. Die ihm zugewiesene Kabine Nummer dreiundsechzig war sehr klein. Bei der ersten Fahrt der Thalia im Februar hatte man diese Kabine noch mit einem Fahrgast belegt, anschließend hatte man entschieden, sie in Reserve zu behalten. Man hatte den in allen Passagierkabinen obligaten Diwan entfernt, um Platz für Gepäck und Ausrüstung zu schaffen, das Einzelbett aber war geblieben. Wie alle Kabinen verfügte auch die Nummer dreiundsechzig über ein Bullauge. Immerhin hatte er eine Einzelkabine gekriegt.

Bruno lehnte sich an die Reling und schaute hinunter. Die Gangway führte zum Oberdeck, eben schleppten zwei Bedienstete einen voluminösen Überseekoffer über den schmalen Steg. Eine Kutsche hielt an, aus der ein eleganter Herr mit Melone stieg und seiner Frau heraushalf. Nach ihnen verließen die beiden Kinder des Ehepaares die Kutsche. Die Frau trug einen auffälligen Hut, den sie mit einer Hand festhielt, weil der Wind lebhaft über den Molo strich. Die Tochter mochte etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein, sie schaute mit großen Augen zum Schiff empor. Der Sohn war ungefähr zehn, schätzte Bruno. Der Junge flitzte aufgeregt umher, bestaunte die massigen Taue, zeigte zum Schornstein und winkte den bereits an Bord befindlichen Fahrgästen, die an der Reling des Promenadendecks standen. Nur mit Mühe gelang es dem Vater, seinen Sohn im Zaum zu halten. Bruno verfolgte, wie die Familie im Bauch des Schiffes verschwand. Die Kutsche, mit der sie gekommen waren, wendete und verschwand, dafür rollte ein großer, von zwei kräftigen Pferden gezogener Wagen mit übereinandergestapeltem Gepäck heran.

Bruno kniff die Augen zusammen. Ja, er erkannte die Überseekoffer des Grafen neben einigen anderen Gepäckstücken. Der hohe Herr und die Komtess hatten sich noch nicht blicken lassen. Eine ganze Schar von Gepäckträgern fasste an, um den Wagen zu entladen und die Reisekoffer an Bord zu bringen.

Bruno schaute auf seine Taschenuhr. Es war neun Uhr. In einer Stunde würden die Matrosen die Gangway einziehen. Ein elegantes Ehepaar trat neben ihn an die Reling. Die Frau hatte sich bei ihrem Gemahl eingehakt, mit den jeweils freien Händen hielten sie ihre Hüte fest. Die beiden schauten neugierig über die Reling.

Der Mann wandte sich Bruno zu und lüftete seinen Hut. Er sprach Deutsch. »Guten Tag der Herr.«

Auch Bruno lüftete seinen Hut. »Guten Tag die Dame, guten Tag der Herr.«

Die Dame nickte grüßend. Sie wirkten aufgeregt und lächelten.

»Sind Sie auch ein Passagier?«, fragte der Mann.

»Ja. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Bruno Zabini.«

»Mein Name ist Ferdinand Seefried. Das ist meine Gemahlin Hermine. Wir sind aus Wien.«

»Aus der Hauptstadt! Das ist schön.«

»Gestern sind wir mit dem Zug angekommen und haben unsere erste Nacht an Bord verbracht.«

»Oh, ich habe mich auch gestern schon eingeschifft und wie ein Murmeltier geschlafen.«

»Sind Sie auch aus Wien?«, fragte Hermine.

»Nein, ich bin Triestiner.«

Die beiden wirkten ehrlich überrascht. »Triestiner? Sie sprechen wie ein Wiener.«

»Frau Seefried, das fasse ich als Kompliment auf. Meine Mutter ist vor vielen Jahren von Wien nach Triest gekommen, mein Vater ist Triestiner. Ich bin hier zweisprachig aufgewachsen. Wenn Sie mich nun anhand meiner Sprachfärbung als Wiener erkannt haben, so ist dies das Zeichen, dass meine Mutter mir ihre Sprache gründlich beigebracht hat. Wissen Sie, ich selbst war noch nie in Wien.«

»Ist das wahr? Das müssen Sie unbedingt nachholen.«

Bruno unterhielt sich noch ein Weilchen mit dem sympathischen Ehepaar, aber er behielt auch den Molo im Auge. Nachdem er sich mit den beiden zum Mittagessen verabredet hatte und sich das Ehepaar wieder ein Deck tiefer auf das Promenadendeck begab, fuhr ein Automobil vor. Bruno lehnte sich an die Reling.

*

Der Graf strich sich über den Schnurrbart. »Ich freue mich sehr, dass sich deine Stimmung gebessert hat.«

Carolina nickte ihrem Vater lächelnd zu. »Das ist die Vorfreude. Endlich geht es los! Ich freue mich seit Wochen auf diesen Zeitpunkt.«

»Du bist recht spät zum Frühstück erschienen.«

»Ich habe mich beim Ankleiden verzettelt.«

»Lass uns über das Thema unseres Zerwürfnisses heute schweigen.«

»Sehr gerne, lieber Papa. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, auf das Schiff zu steigen. Adria, ich komme!«

»Wir sind gleich da.«

Da der treue Rudolf nicht mehr unter den Lebenden weilte und sein Automobil noch in der Werkstatt stand, hatte Graf Urbanau bereits gestern Abend den Portier angewiesen, einen Wagen kommen zu lassen. Und pünktlich um neun Uhr hatte das Automobil vor dem Hotel Duchi d’Aosta bereitgestanden. Wieder reisten Vater und Tochter nur mit leichtem Gepäck, das Hauptgepäck wurde von der Speditionsabteilung des Österreichischen Lloyds an Bord gebracht. Das Automobil hatte wahrlich keine weite Strecke zurückzulegen, sodass Carolina vorgeschlagen hatte, das Stückchen über die Piazza Grande und dem Molo San Carlo zu Fuß zu gehen, doch der Graf wünschte standesgemäß vorzufahren. Viel schneller als zu Fuß waren sie aber in diesem Automobil auch nicht, der Wagen kam auf dem Molo nur im Schritttempo voran.

Der Wagen hielt. Die Tür wurde geöffnet. Der Fahrer sagte irgendetwas auf Italienisch und verbeugte sich. Graf Urbanau stieg aus und half seiner Tochter. Der Graf steckte dem Fahrer eine Banknote zu, dieser machte einen devoten Bückling. Unzählige Augenpaare waren auf den Grafen und seine schöne Tochter gerichtet. Mit gleichzeitig soldatischem wie weltmännischem Gestus bot er Carolina seinen Arm, sie hakte sich formvollendet ein, dann schritten sie auf die Gangway zu. Der Schiffskommissär eilte über die Gangway den beiden entgegen, nahm die ihm vom Grafen gereichten Fahrkarten an, verbeugte sich und bat die hohen Gäste an Bord. Der Graf ließ seine Tochter voranschreiten, dann trat er auf die Gangway und blickte zu den vielen Gesichtern an der Reling hoch.

Wie lange war er schon nicht mehr an Bord eines Schiffes gewesen? Zwei Jahre? Oder drei? In seiner Zeit als Attaché des Kriegsministeriums hatte er mehrmals pro Jahr Schiffsreisen unternommen. Und von allen Schiffen, die er bislang gesehen hatte, war die Thalia das schönste. Zumindest von außen. Wenn das Interieur den ersten Eindruck bestätigte, konnte man von einem wahrhaft vornehmen Schiff sprechen.

*

Der Dritte Offizier und der Schiffskommissär kontrollierten gemeinsam die Passagierliste. Zwei Stewards und vier Matrosen standen neben den beiden. Georg Steyrer versuchte, einen Blick auf die Liste zu erhaschen.

Der Dritte Offizier blickte auf seine Taschenuhr. »Noch drei Minuten.«

»Er hat noch Zeit«, sagte der Schiffskommissär.

»Ist das Gepäck des Herrn an Bord?«

»Laut meiner Liste nicht. Er hat offenbar nur Handgepäck.«

Georg trat auf die Gangway und schaute sich um. Auf dem Molo war es bedeutend stiller geworden. Die Liniendampfer nach Pola und Cattaro hatten abgelegt, und die Fahrgäste der Thalia waren bis auf eine Ausnahme an Bord.

»Paolo!«, rief Georg über seine Schulter. »Ich glaube, wir sind vollzählig.«

Der Dritte Offizier und der Schiffskommissär traten auch auf die Gangway. Sie erblickten einen jungen Mann, der mit zwei Koffern in der Hand auf das Schiff zurannte.

Friedrich hielt vor der Gangway an und schaute zu den Männern. »Bin ich zu spät? Darf ich noch an Bord?«

»Na los, kommen Sie!«

Friedrich eilte die Gangway hoch, stellte seine Koffer ab und kramte nach seinen Papieren. Er reichte die Fahrkarte und seinen Pass an den Schiffskommissär.

»Sie sind Friedrich Grüner, wohnhaft in Graz?«

»Jawohl.«

»Haben Sie noch Gepäck an Land?«

»Nein, ich habe alles bei mir.«

Der Schiffskommissär setzte einen Haken auf die letzte freie Stelle seiner Liste.

»Willkommen an Bord der Thalia. Mein Name ist Paolo Glustich, ich bin der Schiffskommissär und für alle Fragen und Anliegen der Fahrgäste zuständig. Ich wünsche Ihnen im Namen des Österreichischen Lloyds einen angenehmen Aufenthalt an Bord. Der Steward wird Sie zu Ihrer Kabine begleiten.«

Paolo nickte dem zweiten Steward zu, dieser nahm Friedrichs Koffer und marschierte los.

Paolo und Georg traten zurück. Alle Passagiere waren an Bord, es war Punkt zehn, also konnten die Seeleute mit ihrer Arbeit beginnen. Und diese zögerten nicht lange. Die Gangway und die Leinen wurden eingeholt, die Dampfmaschine wurde behutsam unter Last gesetzt, die Schiffsschraube begann sich langsam zu drehen, die Thalia entfernte sich vom Molo. Im Schneckentempo wendete das Schiff im Hafenbecken, und als der Bug südwestwärts ausgerichtet war, gab der Kapitän den Befehl an den Ersten Maschinisten: »Volle Fahrt voraus!«

Die meisten Fahrgäste standen an der Reling, winkten der sich entfernenden Stadt Triest zu oder blickten auf das weite offene Meer.

*

Da seine Kabine bis auf das Bett leer gestanden hatte, hatte Bruno sich um eine Grundausstattung an Mobiliar kümmern müssen. So hatte man ihm knapp vor dem Ablegen noch ein kleines Tischchen und einen schlichten Stuhl gebracht. Auf einen Kleiderkasten musste er leider verzichten, also hatte er den Kleiderhaken mit seinem zweiten Anzug an die Decke gehakt, alle weiteren Kleidungsstücke mussten in den Koffern bleiben. Eine spartanische Unterkunft auf dem Luxusschiff. Bruno saß an seinem Tisch und ging die Namensliste mit den Fahrgästen durch. Der Österreichische Lloyd scheute keine Kosten und Mühen und fertigte kunstvoll gedruckte Namenslisten der Fahrgäste auf der Yacht für Vergnügungsfahrten an. Nur sein Name stand nicht darauf, weil er erst nach Drucklegung als Fahrgast nachgeschoben worden war. Das war Bruno genehm.

Wozu war er überhaupt hier?

Er ärgerte sich. Drei Wochen auf einem Schiff, eingesperrt mit wohlhabenden Müßiggängern inmitten der Weiten des Meeres. Bruno liebte das Meer, selbstverständlich, er war in einer Küstenstadt aufgewachsen, aber er liebte es auf seine Weise. Er liebte es, auf einem Felsen zu stehen und auf das Meer hinauszublicken. Er liebte es, zusammen mit seinen Sportkameraden im Vierer an einer Ruderregatta teilzunehmen. Er liebte es, frisch gefischten Meeresfisch mit Olivenöl, Salbei und Salz zu braten und zu essen. Er liebte guten Kaffee, der aus Afrika über das Meer geliefert worden war. Ja, er liebte auch die architektonische Eleganz und technische Perfektion von Hochseedampfern, aber deshalb musste er noch lange nicht selbst auf einem selbigen über eins der sieben Meere kreuzen. Wahrscheinlich würde seine Mutter recht behalten, und er würde sich drei Wochen lang fadisieren.

Bruno schaute auf seine Taschenuhr. Fünf Minuten vor zwölf. Er legte die Namensliste weg, schlüpfte in sein Sakko, strich den Stoff glatt und richtete seine Krawatte. Dann verließ er die Kabine und versperrte die Tür.

»Grüß Gott.«

Bruno drehte sich um und blickte den jungen Mann an, der ihn gegrüßt hatte. »Grüß Gott.«

»Wir sind wohl Nachbarn.«

Bruno nickte. Der sympathisch lächelnde junge Mann sperrte eben die Tür der direkt gegenüberliegenden Kabine zweiundsechzig zu. »Und offenbar zur gleichen Zeit auf dem Weg in den Speisesalon.«

»Das nicht. Ich bin so aufgeregt, dass ich gar keinen Hunger verspüre. Ich möchte mir an Deck ein wenig die Beine vertreten.«

»Sie wissen, dass der Kapitän eine Ansprache hält?«

»Wusste ich nicht.«

»Schlag zwölf wird er das Wort an die Fahrgäste richten. Steht auch auf der Tageskarte.«

»Die habe ich noch gar nicht angesehen. Ich war noch nie auf einem Dampfer und kann nicht eine Sekunde ruhig sitzen.«

»Vielleicht sollten Sie es zumindest für die Dauer der Ansprache versuchen.«

»Sie haben natürlich recht. Auf in den Speisesalon.«

Bruno reichte dem jungen Mann die Hand. »Bruno Zabini.«

»Friedrich Grüner.«

Sie gingen durch den Gang in Richtung der zentralen Stiege. Weitere Personen traten aus ihren Kabinen und strömten in Richtung Speisesalon. Bis auf die vier Luxuskabinen lagen alle anderen Passagierkabinen auf dem Hauptdeck. Im darüberliegenden Oberdeck befand sich neben den Mannschaftskabinen auch der geräumige Speisesalon. Im Promenadendeck darüber waren der Rauchsalon, die Vorhalle und der Musiksalon sowie die Luxuskabinen zu finden. Das Bootsdeck beherbergte neben den Kabinen des Kapitäns und der Offiziere das Gesellschaftszimmer. Am Brückendeck lagen die gegen Regen und pralle Sonne mit einer Plane geschützte offene Aussichtsplattform und die Kommandobrücke.

Bruno schlug Essensduft entgegen. Zwei Stewards standen vor der Passagierküche bereit. Er betrat den Speisesalon. Kleine Namenskärtchen auf den Tischen zeigten die Sitzordnung. Zwei Reihen mit je drei langen Tischen standen in Längsrichtung in der Mitte des Salons, an den Seiten befanden sich jeweils sieben kleinere Tische in Querrichtung. Ganz automatisch errechnete Bruno die Zahl der Sitzplätze. Hundertsechsundsechzig Plätze für die Fahrgäste. Hinzu kamen noch die beiden Sitzplätze an den Stirnseiten der zwei vorderen Tische, die gleichsam den Kopf der Tafelgesellschaft bildeten und für den Kapitän und den Ersten Offizier reserviert waren. Der Schiffskommissär und drei Stewards hatten alle Hände voll zu tun, den Fahrgästen ihre Plätze zuzuweisen, es herrschte ein aufgeregtes Durcheinander. Bruno hielt sich im Hintergrund und suchte nach seinem Namenskärtchen. Am vorletzten Seitentisch backbord fand er es. Die Seitentische waren für sechs Personen gedeckt. Bruno setzte sich und wartete, bis sich das Durcheinander langsam ordnete.

Ein Steward führte vier Personen an seinen Tisch. Die Familie, deren Ankunft er am Molo Bruno beobachtet hatte, der distinguierte Herr mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern. Bruno erhob sich.

»Gestatten, dass ich mich vorstelle. Bruno Zabini aus Triest. Es ist mir ein außerordentliches Vergnügen, Sie kennenzulernen, gnädige Frau, der Herr, gnädiges Fräulein, junger Mann. Ich freue mich, dass wir die Ehre haben, gemeinsam zu Tisch zu sitzen.«

»Das vortreffliche Vergnügen ist ganz gewiss auf unserer Seite, mein Herr. Darf ich meine Familie und mich bekannt machen? Samuel Teitelbaum aus Lemberg. Meine Frau Vilma, meine Tochter Rosa und mein Sohn Franz.«

»Oh, Sie sind aus Lemberg! Dann haben Sie ja schon eine weite Reise hinter sich.«

Der Mann Anfang fünfzig gestikulierte lächelnd. »Wir sind einmal quer durch die gesamte Monarchie mit der Eisenbahn gefahren und jetzt dampfen wir per Schiff in das Mittelmeer. Die halbe Welt möchte sich auf unserer Reise sichtbar machen. Das ist gut und schön.«

Bruno lächelte ebenso. Den Sprachklang deutschsprechender galizischer Juden hörte er sehr selten. Natürlich gab es auch in Triest eine jüdische Gemeinde, aber die sprach Italienisch. Sie setzten sich, Bruno auf seinen Platz an der Bordwand, neben ihm Frau Teitelbaum und ihr Sohn Franz. Gegenüber Bruno war der Platz leer, seiner Frau gegenüber saß Herr Teitelbaum am mittleren Platz und neben ihm seine Tochter Rosa.

Ein groß gewachsener blonder Mann trat an den Tisch, nahm Haltung an und verneigte sich grüßend. »Guten Tag, meine Damen und Herren, meine Name ist Winfried Mühlberger. Wenn ich recht instruiert bin, ist das mein Sitzplatz.«

Die Sitzenden erhoben sich und reichten dem Mann die Hand. Danach setzten sie sich wieder. Bruno lächelte dem Mann ihm gegenüber höflich zu, der das Lächeln kurz erwiderte, dann aber wieder distanziert wirkte und seinen Blick schweifen ließ.

»Was soll ich sagen?«, hob Herr Teitelbaum an. »Jetzt sitze ich mit zwei so eleganten Herren an einem Tisch. Wo kommen Sie her, Herr Mühlberger?«

»Aus München.«

»Na, Vilma, was sagst du über dieses Schicksal? Ein fescher Romane und ein kühner Germane an einen Tisch. Dass du mir bei so viel stolzer Manneskraft ja nicht meschugge wirst. Oder du, Rosa, mein Backfisch.«

Alle lachten, selbst Winfried Mühlberger, der gar nicht so wirkte, als ob er viel lachen würde. Vilma Teitelbaum wandte sich an Bruno.

»Sie sind aus Triest, Herr Zabini?«

»Ja.«

»Ich glaube, es finden sich nicht so viele Triestiner unter den Fahrgästen. Wir haben schon ein paar Personen kennengelernt, die alle aus den verschiedensten Gegenden der Welt stammen.«

Bruno nickte. Nun war es an ihm. »Frau Teitelbaum, das haben Sie scharf beobachtet. Ich bin in der Tat kein echter Fahrgast, denn ich bin Angestellter des Österreichischen Lloyds und unternehme eine technische Inspektion.«

Herr Teitelbaum warf seine Stirn in Falten. »Eine technische Inspektion? Aus einem besonderen Grund?«

»Das, ja. Die Thalia ist im vergangenen Herbst und Winter vollständig umgebaut worden. Das Schiff war zuvor ein normaler Liniendampfer, der vor allem auf der Strecke Triest–Alexandria eingesetzt worden ist. Dann fällte die Direktion den Entschluss, das Schiff als Yacht für Vergnügungsfahrten einzusetzen. Das Resultat des Umbaus sehen Sie hier. Nun hat der Österreichische Lloyd die gesetzliche Verpflichtung, seine Schiffe in einwandfreier Seetüchtigkeit zu halten. Dazu gehören neben dem Schiffskörper auch sämtliche technischen Apparate.«

»Hat die Gesellschaft Bedenken hinsichtlich der Seetüchtigkeit des Schiffes?«, fragte Winfried Mühlberger mit ein wenig Besorgnis in der Stimme.

Bruno lächelte souverän. »In keiner Weise. Ich bin an Bord, um einen Endbericht an die Behörde zu verfassen, das ist alles. In meiner Arbeit prüfe ich vor allem die Wasserleitungen, die Heizung und Frischluftversorgung. Die Seetüchtigkeit des Schiffes ist eindeutig erwiesen. Es ist weit eher ein bürokratischer Auftrag, denn ein technischer. Meine Kollegen im Bureau waren neidisch auf mich, weil ich den Auftrag bekommen habe, an Bord des elegantesten und technisch besten Schiffes des gesamten Mittelmeeres zu gehen. Ich mache gleichermaßen wie alle anderen Fahrgäste eine Vergnügungsfahrt.«

Herr und Frau Teitelbaum lachten, jeglicher Anflug von Beunruhigung fiel von ihnen ab. Winfried Mühlbergers Skepsis schien sich nicht so leicht zerstreuen zu lassen.

»Sind Sie Schiffsbauingenieur?«, fragte Mühlberger.

»Das nicht, ich bin Verwaltungsbeamter, aber ich arbeite mit den Schiffsbauingenieuren zusammen.«

Der Junge zupfte am Ärmel seiner Mutter. »Mama, der Kapitän!«

Die lebhaften Gespräche der Fahrgäste verstummten auf einen Schlag, alle Augen richteten sich zum Eingang des Speisesalons. Kapitän Bretfeld und die Offiziere betraten den Saal und nahmen Aufstellung.

*

»Ich freue mich außerordentlich, Eure Bekanntschaft zu machen, Herr Graf.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Herr Doktor.«

Die beiden distinguierten Herren gingen am Promenadendeck nebeneinander. Ein paar Schritte hinter ihnen folgten Frau Eggersfeldt und Carolina. Lebhafter Wind strich über das Deck, weswegen die Damen ihre Hüte mit bunten Seidentüchern an ihr Kinn festgebunden hatten. Carolina hatte zwar vorgesorgt und zwei weitere Hüte eingepackt, aber selbst so gut gerüstet, bedurfte es nur dreier Windstöße, um sie ihrer Kopfbedeckung zu berauben. Schon beim Einschiffen hatte der gut aussehende und charmante Schiffskommissär mit einem Lächeln darauf hingewiesen, dass wegen fortgewehter Hüte leider keine Rettungsboote zu Wasser gelassen würden. Auch die Herren mussten danach trachten, nicht schon am ersten Tag ihre Hüte zu verlieren. Dr. Eggersfeldt etwa hielt seinen Hut mit dem Haken seines Gehstockes fest.

Man konnte den älteren Gelehrten nicht als Berühmtheit bezeichnen, dazu war die lebenslang geleistete Arbeit nicht populär genug, in Fachkreisen hingegen kannte man den Namen Eggersfeldt sehr wohl. Dr. Eggersfeldt war der eigenhändige Verfasser einer achtzehntbändigen Enzyklopädie der habsburgischen Erblande und ihrer prächtigsten Vertreter. Für die jahrzehntelange Arbeit an dem Kompendium, für die der Kaiser selbst vor Jahrzehnten eine lebenslange Rente zur Verfügung gestellt hatte, war Dr. Eggersfeldt sogar in den Ritterstand gehoben worden. Neben umfassenden Beschreibungen der Landschaften, der Pflanzen und Tiere, der Gewässer, Gebirge und allgemein der Geologie der Erblande umfasste die kolossale Enzyklopädie auch zahlreiche Monographien des Adels, regionaler Berühmtheiten und Volksvertreter. Dreißig Jahre lang war das Ehepaar Eggersfeldt quer durch die Monarchie auf Reisen gewesen, von den Tiroler Bergen bis nach Siebenbürgen, von Galizien bis ins Litoral, vom Riesengebirge bis in die endlose Weite der Pannonischen Tiefebene. Überall hatte sich Dr. Eggersfeldt in die Archive der Rathäuser und die Taufregister der Kirchen gegraben, hatte unzählige Bürgermeister, Ratsherren, Pfarrer und Kapläne, Ordensbrüder und Dorfschullehrer befragt, sich deren Geschichten erzählen lassen und diese dann in seine Enzyklopädie übernommen. Die wichtigsten Ergebnisse landesgeschichtlicher Forscher sind ebenso Inhalte seiner Enzyklopädie geworden, wie die vielen Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Und in all den Jahren hatten der rüstige Gelehrte und seine treue Frau einen unerfüllten Traum gehegt, nämlich einmal eine Schiffsreise zu den antiken Stätten Griechenlands zu unternehmen. Da jetzt ein lang gehegter Wunsch endlich in Erfüllung ging, hatte es sich Dr. Eggersfeldt nicht nehmen lassen, Fahrkarten für eine Luxuskabine zu kaufen. So waren Graf Urbanau und Dr. Eggersfeldt einander begegnet, hatten sofort Sympathie füreinander empfunden und beschlossen, eine Promenade an Deck zu unternehmen.

Carolina hatte sich bei Frau Eggersfeldt eingehakt und lauschte interessiert ihren Ausführungen über die Geschichte des österreichischen Küstenlandes. Wie sich herausstellte, war Frau Eggersfeldt nicht nur das treu sorgende Eheweib und die Mutter der drei höchst wohlgeratenen Kinder des bedeutenden Gelehrten, sondern eine umfassend gebildete Frau. Carolina war wirklich erstaunt, wie wortgewandt und bildhaft Frau Eggersfeldt zu erzählen wusste. Nach einer Stunde intensiven Gesprächs kam schließlich ans Licht des Tages, dass Frau Eggersfeldt nicht nur alle Bände der Enzyklopädie sorgfältig korrigiert, sondern die Hälfte der Kapitel sogar selbst geschrieben hatte. Insbesondere die Monographien seien, so flüsterte Frau Eggersfeldt Carolina zu, bis auf wenige Ausnahmen ihrer Feder entflossen. Carolinas Bewunderung wuchs von Minute zu Minute. Was für eine kluge und feinsinnige Frau.

Der Graf und Dr. Eggersfeldt hielten an und lehnten sich an die Reling, die beiden Damen schlossen auf.

»Nun, werte Frau Eggersfeldt, haben Sie sich mit meiner Tochter angefreundet?«

»Oh ja, Herr Graf, Eure Tochter ist nicht nur ein liebreizendes Geschöpf von vollendeter Erziehung, sondern auch eine sehr aufmerksame Zuhörerin.«

Graf Urbanau lächelte, nach dem geistreichen Gespräch mit Dr. Eggersfeldt und dem milden Wetter in wohlige Stimmung versetzt, mit Stolz seiner Tochter zu.

»Darf ich einen Wunsch äußern, Papa?«

Graf Urbanau hob die Augenbrauen. »Einen Wunsch?«

»Ich bitte darum.«

»Nun denn.«

»Darf ich mir das Schiff ein bisschen ansehen?«

»Du siehst das Schiff doch.«

Frau Eggersfeldt stellte sich neben den Grafen und hakte sich bei ihm ein. »Aber Herr Graf, bedenkt doch, die Komtess will bestimmt einmal umherlaufen und nicht nur mit uns alten Leuten zusammen sein.«

Graf Urbanau runzelte zunächst die Stirn, nickte jedoch zustimmend. Hier an Bord konnte sie keine Dummheiten anstellen, das Schiff war eine geordnete und überschaubare Welt. »Selbstredend, meine Liebe. Sieh dich nur um. Bis zum Dîner hast du Urlaub.«

»Vielen Dank, Papa. Herr Doktor, gnädige Frau, ich empfehle mich.« Damit eilte Carolina davon.

Graf Urbanau besaß ein vorzügliches Gedächtnis. In seiner Dienstzeit als Leutnant der Infanterie hatte er die Namen aller Soldaten seines Bataillons auswendig gewusst und seine Leute jederzeit mit dem vollen Namen ansprechen können. Diese Fähigkeit hatte ihm damals die Bewunderung aller eingebracht. Weswegen seine Männer auch im heftigsten Feindfeuer nicht von seiner Seite gewichen waren. Auch jetzt noch auf seine alten Tage arbeitete sein Gedächtnis fehlerfrei. Und dieses Gesicht hatte er erst unlängst gesehen. Und zwar im Palast des Statthalters. Graf Urbanau verabschiedete sich von Herrn und Frau Eggersfeldt und ging.

Der Mann stand allein an der Reling und schaute in die Ferne.

Graf Urbanau zog sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. »In fünf Minuten in meiner Kabine«, raunte er dem Mann zu und ging weiter.

*

Bruno klopfte leise. Die Tür wurde sofort geöffnet. Der Graf schaute sich auf dem Gang um und ließ Bruno eintreten. Graf Urbanau versperrte die Kabinentür. Bruno blickte sich methodisch um. Was für eine elegante Kabine in den Farben Weiß und Gold. Und sie war so viel geräumiger als seine. Bruno nahm Haltung an. Graf Urbanau baute sich vor ihm auf und nahm ebenso Haltung an. Seine Miene spiegelte Ärger.

»Sind Sie meinetwegen an Bord, Inspector Zabini?«

Bruno spitzte die Ohren und war beeindruckt. Er hätte nicht gedacht, dass sich der Herr Graf den Namen eines Polizeibeamten merken würde, den er nur kurz gesehen hatte. Er durfte den alten Herrn nicht unterschätzen. »Jawohl, Herr Graf.«

»Inkognito?«

»Jawohl.«

»Habe ich nicht klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich keine Einmischung in mein Privatleben wünsche?«

»Ich möchte mich in keinster Weise in das Privatleben Euer Gnaden einmischen, aber ich habe klare Befehle.«

»Hat Prinz Hohenlohe das veranlasst?«

»Jawohl, der Statthalter persönlich.«

Graf Urbanau machte ein paar Schritte auf und ab und dachte nach. »Das heißt, Sie werden nicht beim nächsten Halt von Bord gehen?«

»Ich bin als Fahrgast berechtigt, bis zum Ende der Reise an Bord zu bleiben.«

»Reine Zeitverschwendung, was Sie hier tun.«

»Um ehrlich zu sein, Euer Gnaden, das hoffe ich auch.«

Graf Urbanau trat an Bruno heran und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihn. »Sie halten sich im Hintergrund. Ich will von Ihnen nichts sehen und hören, ich kann nicht verhindern, dass Sie Steuergeld verschleudern, aber ich brauche Ihre unerwünschte Anwesenheit nicht pausenlos zu erdulden.«

»Wie Euer Gnaden wünschen.«

Der Graf stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Sind Sie bewaffnet, Herr Inspector?«

»Jetzt nicht. Das würde meine Tarnung gefährden. Und ich bitte Euer Gnaden, diese für sich zu behalten. Der Kapitän und die Offiziere wissen von meiner Mission. Kapitän Bretfeld wird Euer Gnaden zu einer Unterredung in dieser Causa bitten. Ich habe vom Statthalter einen Auftrag und von meinen Vorgesetzten einen klaren Befehl erhalten, ich erfreue mich der vollen Unterstützung der Direktion des Österreichischen Lloyds, und der Kapitän gestattet meine Mission. Ich bitte ebenso um Eure Unterstützung.«

»Ha, Herr Inspector, ich war zwanzig Jahre lang Attaché des Kriegsministeriums. Glauben Sie, ich habe jemals den befohlenen Einsatz eines Vertreters des Kaisers verraten? Aber eines sage ich Ihnen, Zabini.«

»Euer Gnaden?«

»Auf mich werden Sie nicht aufpassen müssen, ich kann mich meiner Haut sehr wohl erwehren. Keine Sorge. Aber wenn Sie schon an Bord sind, dann fordere ich Sie auf, in aller Diskretion ein wachsames Auge auf meine Tochter zu werfen. Sie ist mein Ein und Alles. Ich könnte es niemals verwinden, wenn ihr irgendein Ungemach widerführe.«

Bruno legte die Hände stramm an die Naht seiner Hose und verneigte sich. »Euer Gnaden, mein Auftrag umfasst ausdrücklich auch die Sicherheit der Komtess.«

Graf Urbanaus Haltung lockerte sich, er strich sich mit dem linken Zeigefinger über den Schnurrbart. »Also gut, Herr Inspector, dann sind der Worte genug gewechselt. Sie können wegtreten.«

*

Hinter dem Speisesalon am Oberdeck konnte man über die Reling direkt in das aufgewühlte Fahrwasser am Heck des Schiffes blicken. Friedrich war vom gleichmäßigen Schäumen und der sich kontinuierlich vom Schiffsrumpf entfernenden Wellen in einen hypnotischen Bann geschlagen. Ja, er war das erste Mal auf einem Hochseedampfer, und ja, es war ein außerordentliches Erlebnis. Auch wegen des Schiffes und der direkt unter ihm sich drehenden Schiffsschraube, vielmehr aber, weil er die wahre Liebe gefunden hatte. Weil er Carolina gefunden hatte. Nichts als Wahrheit und Schönheit war darin, nichts als Glück und Gnade.

Eine schnelle Bewegung unmittelbar neben ihm. Er erschrak fast ein wenig.

Carolina! Da war sie endlich!

Friedrich schaute sich schnell um. Niemand befand sich am Heck des Oberdecks, die allermeisten Fahrgäste flanierten am Promenaden- und Bootsdeck oder lauschten dem Eröffnungskonzert der Bordkapelle im Musiksalon.

Sie umarmten und küssten sich, dann stellten sie sich in schicklichem Abstand nebeneinander an die Reling und blickten in die Ferne.

»Man sieht die Küste noch«, sagte Carolina und zeigte in Richtung Osten.

»Ich weiß nicht, wie weit der Dampfer hinausfährt, möglicherweise bleibt die Küste in Sichtweite, bis wir die Adria verlassen haben.«

»Wie weit sind wir bisher gekommen?«

»Schon ein gutes Stück. Ein Matrose hat mir gesagt, dass wir zwölf Knoten Fahrt machen, Kurs Süd. Noch viele Hundert Meilen Adria liegen vor uns.«

»Die Weite lässt erst ahnen, wie klein der Mensch in Wahrheit ist. Und wie groß die Welt, auf der wir leben. Denk nur, die Adria ist ein kleiner Teil des Mittelmeers, und das Mittelmeer ist winzig im Vergleich zum Atlantischen Ozean, und dieser wird in seiner gewaltigen Ausdehnung noch vom Pazifischen Ozean übertroffen.«

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
474 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839267042
Издатель:
Правообладатель:
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