Читать книгу: «Der Schoppenfetzer und das Rotweingrab», страница 2

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»Was gibt’s Neues?«, fragte er dann und blickte neugierig in die Runde. Aufgrund einer Zahnfehlstellung war seine Aussprache leicht zischelnd.

»Wir haben uns gerade über die neuesten Geldbeschaffungsaktivitäten unserer Stadtregierung unterhalten«, klärte Dr. Ritter seinen Kollegen auf.

»Aha!« Ron Steiner hob verstehend die Augenbrauen.

Erich Rottmann nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Schoppenglas, dann wischte er sich die Lippen mit dem Handrücken ab.

»Ron, du bist doch immer bestens informiert. Kannst du uns sagen, ob der in der Presse so groß angekündigte Bürgermeisterschoppen am Unteren Markt jetzt tatsächlich durchgeführt wird oder nicht? Wie ich hörte, sollen sich die Würzburger Weingüter noch nicht ganz einig sein, wer welche Weinsorte beisteuert. Jedenfalls hat das unser Kulturreferent gestern im Regionalfernsehen behauptet.«

Erich Rottmann sprach von der seit Wochen in Würzburg heftig diskutierten Benefizveranstaltung, die findige Köpfe im Rathaus zusammen mit den großen Würzburger Weingütern ausgetüftelt hatten. Dabei war geplant, dass Juliusspital, Bürgerspital und Staatlicher Weinkeller jeweils ein Fass Wein spendieren sollten. Der Inhalt sollte im Rahmen eines großen Weinfestes am Unteren Markt zugunsten der Stadtkasse für gutes Geld verkauft werden.

Ron Steiner beugte sich vor und stützte sich auf seine Ellenbogen auf.

»Ich habe mich gestern zufällig mit dem Kellermeister des Staatlichen Hofkellers über dieses Thema unterhalten. Wir hatten dort vom Anwaltsverein eine kleine Weinprobe. Er hat mir erzählt, dass er für diese Aktion bereits ein 2000-Liter-Fass zur Befüllung hergerichtet hat. Ein echt historisches Holzfass, wie er mir sagte. Der Hofkeller wird einen schönen Spätf burgunder spendieren. Ich hatte bei der Weinprobe die Gelegenheit, das Weinchen zu probieren. Ganz ausgezeichnet, sage ich euch!« Er schnalzte genießerisch mit der Zunge.

Anni brachte Steiners Schoppen an den Tisch und stellte ihn auf den Tisch. Dr. Ritter, der während des Gesprächs ganz beiläufig die Speisekarte in die Hand genommen hatte, legte der Bedienung plötzlich die Hand auf den Arm.

»Warte mal, Anni, wie ich sehe, habt ihr eine neue Speisekarte. Gibt’s dafür einen besonderen Anlass? Ihr habt doch die Preise erst vor drei Monaten erhöht!«

Die anderen beiden Schoppenfetzer wurden sofort hellf hörig. Die Preispolitik des Maulaffenbäcks berührte, wie jeder nachvollziehen kann, ihre ureigensten Interessen.

Anni war anzumerken, dass ihr diese Frage unangenehm war. »Ja …, der Chef … und die Chefin waren der Ansicht, die Preise müssten wieder einmal angepasst werden. Es ist ja alles teurer geworden …«

Der ehemalige Behördenleiter hatte mittlerweile in der Karte weitergeblättert. Plötzlich stutzte er. Er legte seinen Finger auf eine Stelle des in Plastikfolie eingeschweißten Blattes.

»Das hier ist aber nicht euer Ernst!« Er wurde so laut, dass die anderen Gäste aufmerksam wurden.

»Was gibt’s denn?«, wollte Ron Steiner wissen. Auch Erich Rottmann beugte sich über den Tisch, um zu sehen, was Ritter an der Speisekarte so erregte.

»Erich, halt dich fest, wenn du hier zukünftig deine Brotzeit essen willst, musst du ab sofort für das Besteck und den Teller einen Euro Gebühr zahlen!«

Erich Rottmann sah seinen Stammtischbruder an, als wäre er jetzt völlig von der Rolle.

»Wie …? Was .?«

»Na ja, für deinen Leberkästeller und das Besteck musst du heute einen Euro berappen – weshalb auch immer.«

Schlagartig nahm Rottmanns Gesicht die Farbe eines gebrühten Krebses an.

»Ja, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen«, stieß er hervor, dabei sah er Anni an, als wolle er ihr gleich an den gestärkten Serviererinnenkragen springen. »Ihr könnt doch nicht einfach die guten alten Bräuche zerstören!«

Seine Stimme hatte sich von Wort zu Wort zu immer größerer Lautstärke gesteigert. Mittlerweile nahmen alle Gäste an Rottmanns Ausbruch regen Anteil. Da es sich aber fast ausschließlich um gestandene Mainfranken handelte, die das Entsetzen des heimatverbundenen Weintrinkers nachvollziehen konnten, erntete er nur beipflichtendes Kopfnicken.

»Erich, jetzt reg dich doch nicht so auf«, versuchte Anni ihren Stammgast zu beruhigen. Sie befürchtete einen kleinen Aufstand. »Der Wirt hat doch gesagt, dass diese Regelung nicht für Stammgäste gilt. Du und die anderen Schoppenfetzer können also weiterhin ihr Brotzeitgedeck zum Nulltarif haben.«

Rottmann sah sie kopfschüttelnd an. »Mein Gott, sie kapiert’s nicht!«, stöhnte er. »Ja, begreift ihr nicht, dass ihr damit das gesamte Ansehen des Maulaffenbäcks zerstört? Das, was besonders am Maulaffenbäck ist, das Traditionelle, weswegen die Leute hier hereinkommen, ist kaputt! Wegen ein paar lumpiger Euro!«

Er sah seine Stammtischbrüder an, dann stand er auf.

»Ich für meinen Teil mache das nicht mit. Ich verlasse dieses ungastliche Lokal!«

Die beiden anderen Schoppenfetzer erhoben sich wie ein Mann. »Erich, geh voran, wir folgen dir!«

Öchsle sah einen Augenblick verwirrt der kleinen Prozession hinterher, die sich zielstrebig dem Ausgang näherte. Dann sprang er auf und trippelte eilig hinterher, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Im Maulaffenbäck ließen sie eine bleierne Stille zurück. Einige andere Stammgäste erhoben sich ebenfalls und schlossen sich in stiller Solidarität den Schoppenfetzern an. Zurück blieben ein verdutzter Wirt und eine schockierte Bedienung.

Nach diesem missglückten Frühschoppen standen die drei Protestierer vor dem Kaufhof und überlegten, wie sie ihren Vormittag noch retten könnten.

»Was haltet ihr davon, wenn wir in die Probierstube vom Juliusspital gehen?«, warf Dr. Ritter ein.

Erich Rottmann schüttelte den Kopf. Ihm war der Tag ordentlich verdorben.

»Freunde, nehmt es mir nicht übel, aber ich habe wirklich keine Lust mehr. Wir sehen uns.« Er winkte leicht und marschierte davon. Wenig später konnte man aus der Menschenmenge eine kräftige Rauchwolke aufsteigen sehen. Erich Rottmann hatte seine Pfeife angezündet.

Es gab einen Mann in der Stadt, der in den letzten Tagen die örtliche Presse und die Sendungen des Regionalfernsehens mit besonderer Anspannung verfolgt hatte. Von Tag zu Tag fühlte er sich erleichterter, keinen Hinweis auf einen ungewöhnlichen Leichenfund veröffentlicht zu sehen. Ihm war klar, dass der Fund des Toten einen Orkan im Blätterwald ausgelöst hätte.

Der pensionierte Kriminalkommissar hasste Unpünktlichkeit. Deshalb war er auch eine Minute vor der vereinbarten Zeit am Rathaus. Pünktlich um halb acht öffnete Elvira Stark die Tür des Seiteneingangs und spitzte heraus.

»Ah, da bist du ja«, rief sie erfreut, als sie ihren alten Jugendfreund entdeckte. »Komm rein.« Sie hielt die Tür ein Stück weit auf, damit Rottmann und Öchsle eintreten konnten. Für den alten Kriminalbeamten gab es keinerlei Zweifel, dass der Hund ihn begleiten durfte.

»Was will denn unsere Frau Stadtoberin von mir«, wollte er wissen, während er neben Elvira die Stufen zur Regierungsetage hinaufstieg.

Elvira Stark, die man wohl guten Gewissens zu den bestinformierten Persönlichkeiten in der Stadt zählen durfte, zuckte mit den Schultern. »Erich, so wahr ich hier neben dir gehe, ich habe keine Ahnung. Die Frau Oberbürgermeisterin hat nichts herausgelassen. Es muss allerdings sehr wichtig sein, denn seit Tagen herrscht hier auf der Chefetage im Rathaus eine ausgesprochen angespannte Stimmung.«

Erich Rottmann zog die Augenbrauen empor. Wenn Elvira nichts wusste, dann musste die Angelegenheit wirklich brisant sein. Sonst sickerte doch immer irgendetwas durch, wenn im Rathaus was schieflief.

Das Büro der Oberbürgermeisterin war für Erich Rottmann kein unbekanntes Terrain. Er konnte sich noch gut an den Fall der »Silvanerleiche« erinnern, als er diesen Tatort untersuchte.

Als sie vor der Tür angekommen waren, nickte ihm Elvira auffordernd zu. »Du kannst direkt reingehen. Die Oberbürgermeisterin erwartet dich bereits.« Dann entfernte sie sich. Rottmann sah ihr verwundert hinterher. Dass sich seine alte Freundin freiwillig davonmachte, erstaunte ihn schon sehr. Normalerweise ließ sie sich doch keine Gelegenheit entgehen, Neuigkeiten zu erfahren. Erich Rottmann hob die Hand und klopfte an die Tür.

Das »Herein« kam prompt. Der Exkommissar und sein Hund traten ein.

Oberbürgermeisterin Dr. Ria-Magdalena Beckstein-Mannfeld saß hinter ihrem Schreibtisch. Als sie Rottmann erkannte, erhob sie sich und kam auf ihn zu.

»Lieber Herr Rottmann, herzlichen Dank, dass Sie meiner Bitte, mich hier aufzusuchen, so schnell nachgekommen sind. Entschuldigen Sie bitte die etwas unkonventionelle Art der Einladung, aber wenn Sie erfahren haben, um was es geht, werden Sie es sicher verstehen.«

Sie wandte sich um und blickte zu dem Mann, der auf einem Sessel vor dem Schreibtisch der Oberbürgermeisterin saß und sich jetzt erhob.

»Darf ich die Herren miteinander bekannt machen«, sagte Dr. Beckstein-Mannfeld. »Das ist Norbert Klingler, seit einem halben Jahr mein persönlicher Assistent. Herr Erich Rottmann, ehemaliger Leiter der Mordkommission in Würzburg.«

Rottmann und Klingler gaben sich die Hand. Rottmann warf seinem Gegenüber einen prüfenden Blick zu. Der Mann machte einen offenen, intelligenten Eindruck und musterte Rottmann mit einer gewissen Neugierde. Sympathisch, war Rottmanns erster Eindruck, dann ließ er sich auf dem angebotenen Stuhl nieder. Öchsle legte sich ohne Umstände neben seinem Herrchen nieder.

»Herr Rottmann, darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht ein Wasser?« Klingler wies auf die Flaschen auf dem Serviertischchen, das neben ihm stand.

Rottmann warf der Wasserflasche einen abschätzigen Blick zu, dann lehnte er dankend ab. Wasser pflegte er gewöhnlich nur zum Duschen zu verwenden. Laut sagte er: »Kommen Sie doch einfach zur Sache, ich bin gespannt, weswegen Sie die Hilfe eines pensionierten Kriminalisten benötigen.«

Dr. Beckstein-Mannfeld räusperte sich, dann konzentrierte sie sich und kam ohne weitere Umschweife zur Sache.

»Wir haben folgendes Problem: Seit etwa einer Woche fehlt unser Stadtkämmerer unentschuldigt. Das heißt im Klartext, er hat weder Urlaub, noch hat er sich krankgemeldet. Es gibt keinerlei Hinweise, wo er sich im Augenblick aufhalten könnte. Familie hat er keine. Soweit wir wissen, lebt er allein.«

Sie erhob sich und marschierte nervös auf und ab. Rottmann folgte ihr aufmerksam mit den Augen. Er spürte, dass weitere heikle Informationen folgen würden.

»Das Problem ist, in unserer Haushaltsabteilung, die dem Kämmerer direkt untersteht, ist der Verdacht auf finanzielle Unregelmäßigkeiten aufgetreten. Einer der Beamten dort ist ebenfalls seit einigen Tagen nicht mehr zum Dienst erschienen. Allerdings hat der sich krankgemeldet.«

Die Oberbürgermeisterin legte eine Pause ein. Stattdessen führte Klingler weiter aus. »Wir haben sofort die Innenrevision verständigt. Die Beamten haben die Anweisung, möglichst diskret alle Fakten zu ermitteln. Wenn an der Sache etwas dran ist und die Angefegenheit käme an die Öffentlichkeit, wäre ein Skandal perfekt. All unsere geplanten Bemühungen, in der nächsten Zeit mit gezielten Aktionen unsere Stadtkasse aufzubessern, würden von der Bevölkerung in Frage gestellt werden.«

Rottmann nickte verständnisvoll. »Und was soll ich bei der ganzen Angelegenheit machen?«

Die Oberbürgermeisterin blieb direkt vor ihm stehen und sah auf ihn herunter. »Ich möchte Sie bitten, diskret herauszufinden, wo unser Kämmerer abgeblieben ist. Dieses plötzliche Verschwinden ist für Dr. Naumann, der mir nur als korrekter Mann bekannt ist, ein ausgesprochen ungewöhnliches Verhalten. Möglicherweise ist ihm etwas zugestoßen.«

Rottmann steckte die Hände in die Joppentasche und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wann haben Sie den Kämmerer das letzte Mal gesehen?«

Die Oberbürgermeisterin ging um ihren Schreibtisch herum und ließ sich in den Sessel fallen. Etwas zögernd erklärte sie: »Das war auf dem Schützenhof. Wir hatten dort im kleinen Kreis eine … Besprechung. Am nächsten Tag ist Naumann nicht mehr im Rathaus erschienen.«

Rottmann sah sie erstaunt an. »Auf dem Schützenhof?«

»Ja«, sprang Klingler seiner Chefin zur Seite. »Es handelte sich um ein Zusammentreffen, das am nächsten Tag nicht unbedingt in der Zeitung stehen sollte. Deshalb der etwas ungewöhnliche Ort.«

»Aha«, kommentierte Rottmann. »Gab es dabei etwas Ungewöhnliches? Wann hat Dr. Naumann die Besprechung verlassen?« Ohne dass es ihm richtig bewusst wurde, befasste er sich gedanklich bereits mit der Sache.

Klingler sah seine Chefin fragend an. Als diese nur eine nichtssagende Handbewegung machte, beantwortete er die Frage. »Die Besprechung lief eigentlich ganz harmonisch ab. Es gab keinen Streit oder dergleichen, wenn Sie das meinen. Dr. Naumann hat die Zusammenkunft allerdings als Erster verlassen.« Er überlegte einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Ein bisschen merkwürdig war es schon. Wir dachten alle, er würde nur mal kurz rausgehen, um … na ja, Sie wissen schon. Wir alle hatten dem Federweißen zugesprochen. Er ist dann nicht mehr zurückgekommen. Es hat sich keiner etwas Besonderes dabei gedacht, da wir eigentlich alle Themen besprochen hatten. – Wenig später sind wir dann auch aufgebrochen.«

»Seitdem haben Sie den Kämmerer nicht mehr gesehen?«, vergewisserte sich Rottmann.

Seine beiden Gesprächspartner nickten einhellig.

Rottmann erhob sich. Öchsle hob den Kopf und sprang ebenfalls auf die Pfoten. »Also gut, ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, erklärte der pensionierte Kriminalist. »Wie kann ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen? Sicher wäre es nicht sachdienlich, wenn ich ständig im Rathaus gesehen werde. Die Presse könnte Wind von der Sache bekommen.«

Klingler griff in seine Jacke und reichte Rottmann eine Visitenkarte. »Unter der Mobiltelefonnummer können Sie mich immer erreichen.«

Wenig später standen Rottmann und Öchsle wieder auf dem Flur. Wie ein Geist aus der Flasche tauchte plötzlich Elvira aus einem der Seitengänge auf.

»Na, wie ist es gelaufen?«, fragte sie mit vor Neugierde blitzenden Augen. »Was wollte sie von dir?«

»Amtsgeheimnis!«, erwiderte Erich Rottmann knapp, nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. Er wusste natürlich genau, dass Elvira im Augenblick vor Wissbegierde fast platzte.

»Komm, Erich«, schmeichelte sie, »mir kannst du es doch sagen. Hast du wieder einen Kriminalfall in petto?«

Rottmann legte ihr die Hand auf die Schulter. »Liebe Elvira, ich kann mir gut vorstellen, dass du wissen möchtest, was los ist. Aber glaube mir, ich habe absolute Diskretion zugesagt – und daran halte ich mich auch. Selbst Öchsle wurde verpflichtet, die Schnauze zu halten.«

Er warf seinem Hund einen ernsten Blick zu, den Öchsle mit einem Schwanzwedeln beantwortete.

»Na, dann behalte deine Geheimnisse doch für dich«, erwiderte Elvira sichtlich beleidigt und drehte sich um. »Ich habe zu tun. Wie du rauskommst, weißt du ja selbst!« Sprach’s und rauschte davon.

»Jetzt ist sie beleidigt«, stellte Erich lakonisch fest und wandte sich zur Treppe. »Aber bestimmt nicht lange. Wetten?« Wieder signalisierte Öchsle mittels seines angewachsenen Kommunikationsinstruments Zustimmung.

Erich Rottmann verließ das Rathaus und marschierte in Richtung Rosengasse. Eigentlich hätte er Stammtisch gehabt. Aber der heutige Vorfall im Maulaffenbäck hatte ihm die Laune auf Stammtischgemütlichkeit gehörig verdorben.

Der Mann, der die Leiche beseitigt hatte, kam mehrmals am Tag an deren Versteck vorbei. Das belastete ihn enorm. Er hatte das Gefühl, seine Kollegen würden ihm sein schlechtes Gewissen ansehen. Tatsächlich aber kümmerte sich keiner um ihn. Niemand interessierte sich für den Ort, wo der Tote lag. Der Mann nahm sich vor, die Leiche in zwei Tagen abzuholen und an ihren endgültigen Ruheort zu bringen: an eine Stelle, an der man sie auch in vielen Jahren nicht finden würde.

Erich Rottmann geriet, kaum dass er seine Wohnung betreten hatte, in einen Zustand ungewohnter emotionaler Erregung. Schuld daran war eine Nachricht, die sein Stammtischbruder Dr. Ritter auf seinen Anrufbeantworter aufgesprochen hatte.

Der pensionierte Oberstaatsanwalt teilte ihm auf diesem Weg mit, dass eine Gruppe der Stammtischbrüder beschlossen hatte, den Stammtisch im Maulaffenbäck in der nächsten Zeit ausfallen zu lassen! Man wolle sich am nächsten Morgen um 10 Uhr im Café Haupeltshofer treffen, um das weitere Vorgehen in dieser Krise zu diskutieren.

Ritter gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass Rottmann dieses Vorgehen billigen möge. Er habe versucht, Rottmann zu konsultieren, um ihn in die Entscheidung mit einzubeziehen, habe ihn aber leider nicht erreicht.

Diese Nachricht löste bei Rottmann eine tiefe Erschütterung aus, da es einen Vorgang dieser Art seit Gründung der Schoppenfetzer noch nicht gegeben hatte.

Nachdem Rottmann diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung erfasst hatte, musste er sich erst einmal setzen. Ritter rief da zu einer regelrechten Protestaktion auf! Es sei, so ließ er wissen, ein verzweifelter Versuch, die unterfränkische Bäcken-Kultur zu retten. Er sei sich mit allen kontaktierten Schoppenfetzern darin einig, dass man, so schmerzhaft das auch sei, den Maulaffenbäck boykottieren müsse. Nur so könne man bei Wirt und Wirtin ein Umdenken erreichen. Ritter erwähnte auch eine strategische Leserbriefserie, die bei der örtlichen Presse geplant sei.

Erich Rottmann unterstützte diese Aktion selbstverständlich voll. Auf der anderen Seite war es schon eine harte Kasteiung, den geliebten Stammtisch so einfach ausfallen zu lassen. Es hatte etwas von einer Heimatvertreibung.

Rottmanns Zorn auf die kulturzerstörende Geldgeilheit gewisser Wirtskreise steigerte sich derart, dass er seine Wut nur mit einem Schoppen Schwarzriesling abkühlen konnte. Bei Mozart und einer ordentlich gestopften Bruyère fand er ganz langsam wieder zu seiner unterfränkischen Ausgeglichenheit zurück. Sicher würde man mit entsprechender Konsequenz beim Maulaffenbäck ein Umdenken erreichen können.

Seine Gedanken wandten sich dem zurückliegenden Gespräch mit der Rathausspitze zu.

Öchsle, der die Gemütsverfassung seines Herrchens mit der seiner Art eigenen Sensibilität erfasste, verzog sich nicht wie gewohnt in sein Körbchen, sondern legte sich direkt zu Füßen seines Menschen. Sein Kopf lag auf Rottmanns Zehenspitzen. Moralische Unterstützung nach Öchsle-Art.

Rottmann kannte Dr. Naumann nicht persönlich. Was er aber aus Stammtischgesprächen und aus den Medien erfahren hatte, wies auf einen überaus korrekten Mann hin, der offenbar versuchte, mit unkonventionellen Ideen die Haushaltslöcher der Stadt zu stopfen. Eher der Typ graue Eminenz, der im Hintergrund die Fäden in der Hand hielt. Ohne sich selbst die für einen Kriminalisten unverzichtbare Objektivität einzuschränken, traute er dem Mann nicht die verbrecherische Energie zu, im Rathaus Unterschlagungen vorzunehmen. In seiner Position hatte er sicher den Überblick über die Finanzen, konnte auch entsprechende Geldbewegungen veranlassen, war aber vermutlich selbst nicht in der Lage, Manipulationen zum eigenen Vorteil vorzunehmen, ohne Mittäter zu haben. Hier durfte sich die Organisation nicht erheblich von der der Polizei unterscheiden, bei der auch das Vieraugenprinzip herrschte. Das hieß, dass Geldzahlungen immer von zwei verantwortlichen Personen veranlasst werden mussten.

Rottmann stieß eine dichte Tabakwolke aus, die in sich verändernden Rauchschemen zur Decke des Wohnzimmers schwebte. Wenn das Verschwinden des Kämmerers überhaupt etwas mit den Unregelmäßigkeiten im Rathaus zu tun hatte, dann dürfte diesem wohl eher eine Opferrolle zukommen.

Rottmann rief sich zur Ordnung. Spekulationen waren etwas für die Presse, nicht für einen Kriminalbeamten, der sich mit Fakten auseinanderzusetzen hatte.

Das gedankliche Stichwort Presse veranlasste Rottmann, sein Fernsehgerät einzuschalten, um die Nachrichten des Regionalfernsehens anzusehen. Der Sender wiederholte seine Sendungen bis in den späten Abend, so dass sich auch späte Zuschauer noch informieren konnten. Wenn schon irgendetwas aus dem Rathaus durchgesickert war, würde er es hier am ehesten erfahren.

Nachdem er sich eine halbe Stunde lang die monotone Stimme des bemühten Nachrichtensprechers angehört hatte, war er überzeugt, dass der Fall noch nicht in die Öffentlichkeit gedrungen war. Am Rande nahm er zur Kenntnis, dass der Sprecher mit geradezu emphatischer Begeisterung auf den zwei Tage später auf dem Marktplatz stattfindenden Bürgermeisterschoppen hinwies, dessen Reinerlös der Stadtkasse zugute kommen sollte.

Rottmann schaltete den Apparat ab, trank seinen Schoppen aus und erhob sich. Öchsle stand schon an der Tür. Er wusste, nun war seine letzte Runde um die Bäume der Nachbarschaft fällig.

Der nächste Morgen wurde von einer gutgelaunten Herbstsonne verwöhnt. Rottmanns Stimmung war hingegen eher angespannt. Schließlich standen wichtige Entscheidungen an.

Nachdem Erich Rottmann mit Öchsle am Main den gewohnten Morgenspaziergang gemacht hatte, marschierte das ungleiche Gespann in Richtung Haupeltshofer.

Erich Rottmann war in dem Café bestens bekannt, weil er dort regelmäßig frühstückte. Die Tatsache, dass die Schoppenfetzer dort eine Zusammenkunft hatten, sorgte bei der Besitzerin und den Bedienungen für einige Aufregung. Schließlich war der Stammtisch stadtbekannt und man wusste auch, wo er für gewöhnlich tagte. Dass heute im Haupeltshofer ein Treffen stattfand, gab zu einigen Spekulationen Anlass.

Man hatte im hinteren Bereich des Lokals einige Tische zusammengestellt, so dass ein fast abgeschlossener Bereich entstand, der eine gewisse Diskretion sicherstellte.

Rottmann nickte den bereits fast vollständig anwesenden Stammtischbrüdern zu, dann ließ er sich auf einem freien Platz auf der Bank nieder. Öchsle bezog seine Stellung darunter. Die Bedienung eilte herbei und Rottmann bestellte »das Übliche«.

Dr. Ritter wartete ab, bis jeder Schoppenfetzer versorgt war, dann räusperte er sich. »Meine Herren, wir sind hier an diesem ungewöhnlichen Ort zusammengekommen, um unsere weitere Strategie in Bezug auf unser Stammlokal zu besprechen. Im Augenblick sind wir gewissermaßen Heimatvertriebene. Ich sehe darüber hinaus die Existenz unseres Stammtisches gefährdet.«

Beifälliges Gemurmel aus dem Kreis der Stammtischbrüder war das Echo auf seine Ausführungen.

»Wir müssen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen, dass die letzte Bastion traditioneller unterfränkischer Gastlichkeit erhalten bleibt.« Knöchelhartes Klopfen auf den Tischen bekundete ihm Beifall.

»Ich schlage vor, einen geschliffenen Schriftsatz auszuarbeiten, in dem wir den Wirtsleuten des Maulaffenbäck unseren Standpunkt darlegen!« Ron Steiner schwor in solchen Fällen berufsbedingt auf die Wirkung präziser schriftlicher Ausarbeitungen, die den Leser beeindrucken sollten.

Erster Kriminalhauptkommissar a.D. Xaver Marschmann, ehemaliger Undercoverbeamter, blickte auf seine geballte Faust. »Gelegentlich ist es in solchen Fällen gar nicht schlecht, den Leuten ein konkretes Angebot zu machen, dem sie nur schwer widersprechen können.«

Erich Rottmann schüttelte den Kopf. »Leute, das Einzige, was die Wirtsleute überzeugen könnte, ist meines Erachtens eine Aktion, die sie im Geldbeutel spüren. Wenn wir den Stammtisch bestreiken und vielleicht auch noch einige andere Stammgäste mitziehen können, werden sie sehr schnell zur Einsicht kommen. Da möchte ich wetten!«

Dr. Ritter nickte beipflichtend. »Erich hat sicher recht. Ich schlage daher vor, dass wir eine Woche lang den Maulaffenbäck boykottieren.«

Beipflichtendes Gemurmel in der Runde.

»Und wo trinken wir in der Zwischenzeit unseren Schoppen?« Der Einwand von Rechtsanwalt Hübner, einem ebenfalls pensionierten Anwalt, traf ein Kernproblem, das bisher noch nicht angesprochen worden war.

»Schlage vor, dass wir uns jeden Tag in einem anderen Weinlokal treffen«, warf Marschmann ein. »Ihr werdet sehen, das spricht sich schnell herum, wenn der Stammtisch der Schoppenfetzer sich gewissermaßen auf Rundreise begibt.«

Marschmanns Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Die Herren blieben noch zwei Stunden, dann löste sich die Runde auf. Bei einigen Stammtischmitgliedern wartete zu Hause die Ehefrau mit dem Mittagessen.

Erich Rottmann hatte ausgiebig gefrühstückt und sah sich nun ausreichend gekräftigt, mit seinen Ermittlungen zu beginnen. Zunächst würde er es einmal bei der Wohnung des Vermissten versuchen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Mensch in einer Stadt hilflos in seiner Wohnung lag und es keiner bemerkte.

Dr. Naumann wohnte, wie Rottmann von der Oberbürgermeisterin erfahren hatte, in einem Penthouse auf dem Heuchelhof. Sie selbst hatte ihm diese Wohnung vor einigen Jahren vermittelt.

Die Linie 5 der Würzburger Straßenbahn brachte Rottmann und Öchsle – trotz undurchsichtigem Wabentarif – zur Zielhaltestelle.

Naumanns Dachterrassenwohnung thronte auf einem schmucken Mehrfamilienhaus in einer ruhigen Seitenstraße. Rottmann zögerte nicht lange und läutete bei dem Schild mit der Aufschrift »Naumann«. Wie erwartet, wurde nicht geöffnet.

Der ehemalige Kriminalist überlegte noch, wen er unauffällig befragen könnte, als die Tür aufging und eine ältere Dame mit einem Zwergpudel aus dem Haus kam. Als sie Öchsle bemerkte, bekam sie einen fürchterlichen Schreck und griff fast panisch nach ihrem Hündchen.

»Halten Sie bitte Ihren Hund kurz«, rief sie mit vor Erregung sich überschlagender Stimme, »mein Poldi ist schon zweimal gebissen worden!«

Öchsle, der gar nicht wusste, wie ihm geschah, wedelte der Frau und dem Artgenossen freundlich zu, woraufhin Poldi schrill zu kläffen begann.

Erich Rottmann setzte sein verbindlichstes Lachen auf und meinte: »Beruhigen Sie sich, gnädige Frau, mein Raubtier hat bereits gefrühstückt!«

»Flegel!«, rief sie, dann marschierte sie mit dem kläffenden Poldi auf dem Arm davon.

Erich Rottmann machte eine schnelle Bewegung vorwärts und verhinderte so, dass die Eingangstür ins Schloss fiel. Einen Augenblick später standen Herr und Hund im Treppenhaus.

Der Aufzug befand sich direkt gegenüber dem Eingang. Rottmann öffnete mit Knopfdruck die automatische Tür und trat ein.

Öchsle schnupperte interessiert in den Ecken der aus Edelstahl gefertigten Wände.

Der Aufzug hielt im obersten Stockwerk. Hier befand sich nur der Eingang zum Penthouse. An der Tür stand der Name »Naumann«.

Rottmann betätigte erneut die Klingel. Das Ergebnis war wie erwartet noch immer negativ.

Öchsle schnüffelte interessiert am Türspalt. Rottmann warf seinem vierbeinigen Freund einen prüfenden Blick zu. Es war ja denkbar, dass Naumann etwas zugestoßen war und er in der Wohnung lag. Leichengeruch, den er noch nicht wahrnehmen konnte, wäre der feinen Hundenase sicher nicht entgangen. Öchsle zeigte jedoch kein auffälliges Verhalten.

Rottmann überlegte einen Augenblick, dann begutachtete er das Türschloss kritisch.

»Öchsle, schau mal kurz weg«, brummte er, dann zog er ein schmales Lederetui aus der Hosentasche. Das Profi-Einbruchswerkzeug gehörte ursprünglich einem Straftäter, der in Würzburg und Umgebung Serieneinbrüche begangen hatte. Nachdem man ihn verurteilt hatte, war es Rottmann gelungen, dieses praktische Etui in seinen Besitz zu bringen. Es hatte ihm gelegentlich schon gute Dienste geleistet, wenn es etwa darum ging, die Wohnung von Mordopfern zu öffnen.

Der Fall hier war zwar nicht ganz vergleichbar. Aber der Versuch war sicherlich sachdienlich. Die Gefahr, bei seiner Tat entdeckt zu werden, war relativ gering. Von oben konnte niemand kommen. Wenn der Aufzug nach unten gerufen wurde, würde er es bemerken. Er wollte auch nur einen kurzen Blick in die Wohnung werfen.

Das Schloss hatte er nach zwei Minuten geöffnet. Mit einem leisen Schnappen sprang die Tür auf.

Rottmann und Öchsle schlüpften hinein. Leise schloss der pensionierte Polizist die Tür wieder hinter sich. Schnell erkannte er, dass er bereits in einem großzügigen Wohnraum stand. Die elegante Einrichtung des Raumes stach sofort ins Auge. Durch das Tageslicht, das durch die fast durchgehende Fensterfront hereinfiel, war das Zimmer hell und freundlich.

»Hallo!«, rief Rottmann. »Ist hier jemand?« Wie erwartet kam keine Antwort.

»Öchsle, du bleibst bitte hier«, kommandierte Rottmann, dann bewegte er sich durch den Raum. Die edle Ausstattung nahm er nur beiläufig zur Kenntnis. Seine Aufmerksamkeit galt Hinweisen, die auf ein Verbleiben des Bewohners schließen ließen.

Mit schnellen Schritten durchquerte er das Zimmer und betrat das nächste. Es war der Schlafraum. Das große Doppelbett war nicht gemacht, die Zudecke lediglich zurückgeschlagen. Rottmann fiel auf, dass sich beide Betten in Unordnung befanden. Offensichtlich hatten hier zwei Personen gelegen.

Rottmann wusste, Dr. Naumann war Junggeselle. Das bedeutete aber nicht zwingend, dass er keine Sozialkontakte hatte. Er ging zum Bett und beugte sich nacheinander über die Kopfkissen. Beim rechten stieg ihm ein leichter Parfümgeruch in die Nase.

Auf dem Ablagebord an der Seite des einen Bettes, das er Naumann zuordnete, entdeckte er eine postkartengroße Fotografie in einem aufstellbaren Rahmen. Sie war leicht nach hinten gedreht, so dass er die abgelichtete Person nicht erkennen konnte. Er zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Lodenjacke und drehte das Bild vorsichtig um. Keinesfalls wollte er hier Fingerabdrücke hinterlassen.

Die attraktive weibliche Person auf dem Foto erkannte er sofort. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Das war eine interessante Entdeckung.

Rottmann verließ den Schlafraum und durchsuchte die restlichen Räume: Küche, Esszimmer, Arbeitszimmer. Naumann befand sich nicht in der Wohnung. Alle Räumlichkeiten waren einigermaßen aufgeräumt, wie es üblicherweise bei einer Wohnung, die der Bewohner nur kurzfristig verlassen hatte, der Fall war. Er warf auch einen Blick in die Kleiderschränke. Sie waren voller Kleidungsstücke. Es gab keine Hinweise darauf, dass Dr. Naumann das Penthouse in irgendeiner Weise ungeordnet oder gar fluchtartig verlassen hatte. Überall dort, wo er Gegenstände angefasst hatte, wischte Rottmann mit einem Taschentuch seine Spuren wieder gründlich weg. Für alle Fälle.

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