Читать книгу: «Mathildas Buch», страница 4

Шрифт:

„Issa! Hörst du mich?“ Emilia beugte sich über ihre Enkelin, strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Issa, wach auf!“ Sie bat mit ihrer Stimme und ihren Händen, die sie ihr warm auf den Brustkorb legte und dort innehielt bis sie spürte, wie sich dort Lebensenergie sammelte, Marissa Atmung ruhiger wurde. Und schließlich waren da ein tiefes Luftholen und ein Seufzer von ganz weit unten mit dem Marissa ihre Augen öffnete und direkt dem Blick der Großmutter begegnete.

„Na, du“, meinte diese sanft. „Da bist du ja.“ Marissas Kopf schmerzte als sie zu nicken vorsuchte. Sie blinzelte aus verklebten Augenlidern und sagte leise: „Ich war immer da.“ Bevor sie wieder einschlief, ließ sie sich Tropfen einflössen, trank einen Schluck Wasser und entglitt in einen Schlaf, der sie traumlos davon trug.

Emilia bemerkte erleichtert die gelösteren Gesichtszüge der Enkelin auf dem Kissen. Sie war mit einem Mal unendlich müde und legte sich erschöpft auf die andere Seite des großen Bettes nieder um ein wenig auszuruhen.

Unbemerkt schlich sich eine Weile später Kater Teo die Treppe hinauf, sprang zu den Schlafenden ins Bett und kuschelte sich zwischen die Beiden.

*

Das Fieber sank, die Kopfschmerzen verschwanden und der Hals wurde wieder frei. Marissa erholte sich schnell. Nach ein paar Tagen war sie bereits in der Lage, nach unten zu gehen und sich zur Großmutter auf die Bank im Garten zu setzen. Ihr Gesicht, das so blass gewesen war, saugte sofort die Sonnenstrahlen auf und blühte rosig darunter hervor. Ihre Augen blickten klar in das üppige Grün des Gartens und hingen an den Farben der Blumen in den Beeten. Da sie es gar nicht mehr erwarten konnte, stimmt Emilia schließlich zu, zusammen mit ihr an den Strand zu gehen. Der Knöchel schmerzte kaum noch und Marissa traute sich, ihn wieder zu belasten. Sie fühlte sich in sich nur so merkwürdig schwach und durchlässig. Dr. Schmidtmann hatte Emilia beruhigt, dass sich alles wieder zurechtrücken würde. Es brauche einfach Zeit. Und ja, er würde Marissa wirklich gerne in der Praxis sehen.

Emilia hatte ihrer Enkelin dieses Anliegen weitergegeben, worauf diese genickt hatte ohne ein weiteres Wort dazuzusagen. Nach wie vor blieb Marissa verschlossen und ließ nicht erahnen, was sie fühlte und dachte. Wahrscheinlich brauchte auch das ihre Zeit. Emilia hatte Zeit. Zeit im Überfluss. Sie konnte warten.

Das Meer atmete zu ihnen hin mit überschäumender Lebenskraft. Die Wellen schossen mit der Flut in urgewaltiger Kraft zu ihnen ans Land. Griffen gierig nach ihnen, wenn sie sich zu nahe heranwagten. Emilia wich zurück. Marissa ging darauf zu. Ließ das Wasser an sich lecken und ziehen bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Emilia wollte sie halten aber sie ahnte, dass sich Marissa ihr entziehen würde. Sie wollte das Wasserelement hautnah erleben. Wie schon immer zog es sie magisch an. So als sei es ein Stück von ihr selbst. Als sei sie daraus hervorgegangen. Sie stand mit geschlossenen Augen inmitten der Brandung, glückselig versunken.

Emilia beobachtete sie mit verwunderter Ergriffenheit. Dieses Wesen da im Wasser schien in einer völlig anderen Welt zu leben als die Marissa an Land. Als wäre sie eine andere Person. Entrückt, gestrandet. Und ganz Daheim.

Später tranken sie Tee auf der Bank im Garten. „Morgen fahre ich mit dem Fahrrad in den Ort. Ich muss mal wieder sehen, wie es da so ist. Und einiges erledigen. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst. Opas Fahrrad dürfte noch fahrtüchtig sein.“ Emilia sagte es ohne viel Hoffnung auf Resonanz. Sie sah aus den Augenwinkeln wie Marissa fest ihren Teebecher in den Händen hielt und scheinbar gar nicht gehört hatte, was die Großmutter sagte. Eine Zeitlang war nur die Sommerstille zu hören. Emilia schwebte mit ihr über den Rasen und ließ alles sein, wie es sein wollte.

Als sie dann die Stimme der Enkelin vernahm, sah sie überrascht auf. „Gut“, sagte diese. „Dann kann ich ja gleich zu Dr. Schmidtmann gehen.“

Emilia versuchte ihre glückliche Erleichterung zu verbergen und meinte leichthin: „Gute Idee. Und hinterher essen wir noch ein schönes großes Eis.“

*

Im Wartezimmer saßen ihr zwei ältere Frauen gegenüber, die sich in tiefstem Friesenplatt überhielten, sodass Marissa kein Wort verstand. Fasziniert lauschte sie eine Weile dem breiten Wortgefälle, ließ es dann wir ein Rauschen an sich vorüberziehen und lenkte ihre Gedanken zurück zu sich.

Ihr Aufbruch vor zehn Tagen lag lange zurück. Länger als die Tage an sich. Die Großstadt, das Studium und ihr Leben dort, waren schon so weit entrückt, dass sie kaum noch etwas in sich davon erkannte. Sie erinnerte sich noch, dass sie sich irgendwann von ihrer Zimmernachbarin im Studentenwohnheim verabschiedet hatte, die die Semesterferien in Leipzig bei ihrem Freund verbringen wollte.

Sie selber hatte keine konkreten Pläne gehabt. Lernen. Aber nicht zu viel. München im August geniessen, wo es so angenehm leer war und nur den Münchner gehörte. Freunde treffen. Verreisen eher nicht. Wohin hätte sie sollen, können, wollen. Bei der Vorstellung zu ihrer Mutter zu fahren, zog sich alles in ihrem Innern zusammen. Ihr Vater hatte sie längst schon eingeladen, zu ihm nach Berlin zu kommen. Doch da war auch diese Eltje, die sie nicht kannte und nicht kennenlernen wollte. Sie hatte sie auf einem Foto gesehen, das ihr Vater geschickt hatte. Eine blonde, schmale Frau mit langen Haaren und so blauen Augen, die durch das Bild in einer Intensität auf den Betrachter blickten als könnten sie ihn durchschauen. Marissa war unwohl geworden bei ihrem Anblick. Doch ihr Vater auf dem Bild schaute die Frau mit warmem Ausdruck an, sodass sie glauben mochte, die beiden seien glücklich.

Ein paar Tage ließ sie sich durch die freie Zeit treiben. Schlief lange, frühstückte spät - gerne auf ihrem winzigen Balkon, wenn das Wetter es zuließ. Las einen dicken, herrlich romantischen Liebesroman, räumte endlich ein paar Ecken in ihrem Zimmer auf, die sie lange erfolgreich in wohlmeinendem Dunkel gelassen hatte. Traf ein paar wenige Studienkollegen an der Isar oder im Englischen Garten, im Uni-Café. Viele waren nicht mehr da, verreist zu den Eltern, unterwegs mit Freund oder Freundin. Untergetaucht in den Urlaub.

Schließlich stand sie eines Tages auf und da war nur ein Nichts. Sie fühlte ein Vakuum um sich, das sie schonungslos bedrängte, die Luft hörbar machte und das Herz stolpern ließ. In der Nacht jagte sie ein panisches Gefühl angstgefüllt an das Fenster, raus auf dem Balkon.

Früh am nächsten Morgen packte sie eilig ein paar Sachen in ihren Rucksack, schaute im Internet nach den Abfahrtszeiten der Züge und war schon eine Stunde später auf dem Weg zum Bahnhof. Am Automaten zog sie sich die Fahrkarte und rannte gehetzt zum bereits warteten ICE Richtung Hamburg und Bremen. Sie hatte Glück und ergatterte einen freien Platz am Fenster. Bis zur Abfahrt blieben nur noch ein paar Minuten, die sie in angespannter Haltung verbrachte mit der unbegründeten Sorge, irgendetwas könnte sie noch davon zurückhalten. Als der Zug dann leise aus dem Bahnhof glitt und aus dem Gleisgewirr hinausfand, schließlich mehr und mehr an Fahrt gewann und die Landschaft zu einem zerronnen Bild verschwamm, entspannte sie sich, sank an das Sitzpolster und dämmerte davon. Von der Fahrt bekam sie kaum etwas mit, öffnete kurz die Augen als die Fahrscheine kontrolliert wurden. Gegen Mittag meldete sich ihr Magen unmissverständlich zu Wort. Im Bistro besorgte sie sich ein Sandwich und Wasser. Dann schlief sie wieder ihren Halbschlaf bis hin nach Bremen.

Der zugige Bahnhof empfing sie mit dem Gefühl, hierbleiben zu sollen. Sich nicht davonzuschleichen. Nicht an der Mutter vorbei zu huschen wie ein Dieb. Marissa blickte unsicher in die Gesichter der Menschen auf dem Bahnsteig. Doch niemand erkannte sie, niemand hielt sie auf und rief: Bleib hier. Trotzdem schaute sie sich immer wieder um als sie die Treppe hinunter stieg, den Gang entlang lief und schließlich durch die Bahnhofshalle hinaus auf den Vorplatz trat. Vorsichtig blieb sie dort stehen, ließ den Blick schweifen. Immer noch mit der Furcht, jemanden zu entdecken, der sie erkannte. Doch es wirbelten dort nur Menschen durcheinander, die die junge Frau im Bahnhofseingang nicht beachteten. Marissa atmete einen tiefen Zug Bremer Luft, sah zum Überseemuseum hinüber, wo sie als Kind immer wieder spannende Ausstellungen besucht hatte mit den Eltern, Großeltern – mit der Schwester. Wann war das gewesen? Sie hatte keine Zeit, sich lange mit den Gedanken daran aufzuhalten. Sie musste den Bus nach Bensersiel finden, der in wenigen Minuten abfahren würde. Er stand schon abfahrbereit da als sie ihn erreichte und war glücklicherweise nicht sehr voll. Sie setzte sich ganz hinten auf einen Fensterplatz und versank, sobald sich der Bus in Bewegung setzte, in eine Art Dämmerzustand.

Erst als sie endlich am Kai stand, die Fähre zur Insel vor sich sah, den frischen Seewind an ihren Haaren ziehen spürte, fühlte sie sich wacher. Die Zeit an Bord verbrachte sie ganz oben an Deck, obwohl der Wind da besonders zog und zerrte. Marissa blickte nach vorne über das Wasser, spähte zur Insel hin, die langsam immer näher kam und sie anzog wie ein Magnet. Sie kostete das Anlegemanöver bis zum Schluss aus und ging dann als letzte von Bord.

*

Dr. Schmidtmann kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen und schüttelte die ihre kraftvoll. Seine Augen suchten in ihrem Gesicht nach einer Reaktion als er sie herzlich begrüßte: „Schön, dass du gekommen bist.“

Marissa nickte nur leicht, mied den direkten Blickkontakt. Der Arzt ließ sich davon nicht irritieren und sprach weiter. „Du hast dich scheinbar erholt. Ich würde aber gerne noch ein wenig mit dir sprechen, hören wie es dir geht.“

Seine Stimme klang freundlich und ehrlich. Marissa spürte wie sich in ihr etwas löste. „Danke. Mir geht es gut.“

„Ich kenne dich ja gar nicht. Erzähl mir, was du so machst. Ich glaube, du studierst?“ Er ermutigte sie geduldig zur Offenheit. Lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste sie an. „Eine künftige Kollegin vielleicht?“

„Nicht Humanmedizin. Veterinärmedizin – 3.Semester.“

„Also eine Tierfreundin. Schön, spannend. Wie kam es dazu?“ Dr. Schmidtmann fragte nach, wollte immer mehr wissen. Und mit einem Mal hörte sich Marissa reden. Irgendwie öffnete sich ein Ventil in ihr, das Worte herausließ, die sich selbst nachliefen, immer schneller wurden, sich gegenseitig überholten bis sie ganz atemlos waren und drohten sich zu verzetteln. Die Begeisterung riss sie mit sich, schickte eine warmglühende Farbe auf ihr Gesicht und Bewegung in ihren Körper. Der Arzt sah und hörte das Gesagte und hörte und spürte noch viel mehr. „Du bist ja die geborene Rednerin“, warf er ein als Marissa schließlich langsamer wurde und die Worte nur noch vereinzelt hervorquollen. „Und scheinbar mit dem Tiermedizinvirus infiziert. Du wirst sicher eine wundervolle Tierärztin.“ Das sagte er schlicht und überzeugend, sodass es Marissa heiß im Gesicht brannte. „Leider habe ich jetzt nicht mehr Zeit, aber wir können gerne einen weiteren Termin ausmachen, damit ich noch mehr höre. Wie lange wirst du noch hier sein?“

Darüber hatte sich Marissa bisher keine Gedanken gemacht. Sie wollte nur an das Jetzt denken, das Hiersein genießen, mit allen Symptomen, die sich bemerkbar machten. Wollte das Meer inhalieren, die Luft trinken und den Sand schmecken. Die Insel erkunden, mit der Großmutter zusammen sein, reden und schlafen, Teo kraulen, Sonne tanken und frei sein.

„So lange es geht“, sagte sie jetzt und ging dann aus der Praxis mit einem Gefühl etwas gefunden zu haben.

Beim Eis essen mit der Großmutter war sie gelöst und gut gelaunt, lächelte manchmal still vor sich hin, redete dann wieder munter drauflos und löffelte genussvoll die kalte Süße voller Schokoladen-Himbeer-Vanille-Sahne-Seligkeit.

Emilia sah ihr belustig dabei zu: „Ich hoffe nur, dass ich dich nicht als nächstes von einem verdorbenen Magen kurieren muss.“

„Ach, nein, Oma. Jetzt ist es genug mit dem Kranksein. Ich möchte noch viel unternehmen…“ Marissa leckte genießerisch am Schokoladeneis auf ihrem Löffel, „…und“, setzte sie hinzu, „ansonsten gibt es ja Dr. Schmidtmann.“

„Der hat es dir wohl angetan“, mutmaßte Emilia.

„Ja, er ist sehr nett. Ich werde nochmal zu ihm in der Sprechstunde gehen. Er möchte noch einiges wissen.“ Sie tauchte ihren Löffel tief in die Eismasse. Emilia sah sie von der Seite an, wollte nicht denken, was sie dachte. Sie würde wachsam sein. Sehen und lauschen.

*

Eine beschwingte Energie durchfloss mit einem Mal die Tage und belebte den Rhythmus des Hauses. Kater Teo schaute mitunter irritiert der schnellen Marissa hinterher, die mit gesundem Knöchel und heilem Körper durch Räume und Garten lief, über den Dünenweg zum Strand eilte und erst Stunden später sonnendurchwärmt und wassergetaucht wieder erschien. Oft schwang sie sich auf das alte Fahrrad ihres Großvaters und erkundete damit alle Winkel der Insel, die sie ausfindig machen konnte. Erzählte dann abends glühend von den Eindrücken. Den stillen und den ungewöhnlichen. Von Beobachtungen des alltäglichen Lebens auf der Insel. Und manchmal erwähnte sie auch den Arzt, zu dem sie immer wieder in die Praxis ging. Emilia konnte sich nicht klar darüber werden, was sie davon halten sollte. Als sie Marissa fragte, was bei den Terminen so vor sich ging, sagte diese nur: „Wir reden. Ich rede.“

Augenscheinlich tat ihr dieses Reden gut, dennoch bestand Emilia eines Tages darauf, mitzukommen. Marissa fühlte sich sichtbar unbehaglich dabei und wollte keines Falls mit ihr zusammen ins Sprechzimmer gehen.

Timo Schmidtmann war überrascht statt Marissa, Emilia eintreten zu sehen. „Geht es dir nicht gut“, fragte er. „Geht es Marissa nicht gut?“

„Uns geht es beiden gut“, beruhigte Emilia. „Ich möchte nur etwas wissen.“ Die Art, in der sie das sagte, machte den Arzt beklommen, doch er atmete dagegen an. „Marissa ist doch wieder gesund, warum soll sie dann so oft herkommen. Sie sagt, ihr redet. Wie kann ich das verstehen?“

Timo Schmidtmann fühlte sich irgendwie ertappt. Die Frage hatte in ihm das angesprochen, was er sich selber fragte. Die Frage nach der Berechtigung für diese Gespräche. Er war Allgemeinmediziner, kein Psychotherapeut. Er war in erster Linie für die körperlichen Beschwerden seiner Patienten zuständig, für Psyche und Seele waren andere da. Obwohl das eine vom anderen manchmal nicht so einfach zu trennen war. Recht erklären konnte er sich aber nicht, was ihn dazu gebracht hatte, Marissa diese Gesprächstermine vorzuschlagen. Er hatte wohl instinktiv geahnt, dass es für sie wichtig war, sich einiges von der Seele zu reden. Merkte an ihrer fortschreitenden Lockerheit, dass es ihr gut tat. Und merkte auch, dass es ihm gut tat. Dass er sich auf diese Termine freute. Vielleicht zu sehr. Er wusste um die Gefahr, die persönliche Gespräche für beiden Seiten in sich trug, von Gefühlen, die unwillkürlich auftauchen. Soviel hatte er von Psychologie im Studium mitbekommen. Das war aber auch das reizvolle daran und die Entdeckung einer neuen Welt in der Persönlichkeit des anderen. Und damit auch in sich selbst.

Emilia wartete auf eine Antwort. „Ich verstehe auf was deine Frage zielt“, sagte er schließlich. „Und ich muss sagen, ich bin dir dankbar. Wir reden, das ist richtig. Das heißt, meist ist es Marissa, die auf meine Fragen und Anregungen eingeht und dabei Dinge anspricht, die sie bewegen. Ich habe das Gefühl, dass es ihr gut tut, ihr ein Bedürfnis ist. Und doch – natürlich ist es von meiner Seite eine Kompetenzüberschreitung. Ich weiß, dass sie bei einem Therapeuten besser beraten wäre und möchte ihr für die Zukunft auch empfehlen, sich an einen qualifizierten Kollegen oder Kollegin zu wenden. Ich spüre da etwas in deiner Enkelin, dass sich klären muss. Und wahrscheinlich braucht sie dabei Unterstützung. Ich wollte ihr mit meinem Angebot zeigen, dass es möglich ist, dass sie Hilfe haben kann und sie annehmen sollte, wenn sie sich ihr darbietet. Mehr sollte es nicht sein.“

Timo Schmidtmann blickte Emilia offen an. Diese nickte. „Ich weiß, dass du es gut meinst. Und ich denke auch, dass sie Hilfe braucht. Sie ist ein empfindsames Wesen, das schon viel durchlebt hat. In ihrer und somit meiner Familie ist viel Leid und Unglück gewesen. Viele liebe Menschen sind vorzeitig von uns gegangen. In der weit zurückliegenden Vergangenheit aber auch in der jüngsten.“ Emilia hielt inne, schluckte an einem Kloß in ihrem Hals und an einem Brennen hinter den Augen.

„Ich weiß, dein Mann…“

Emilia schüttelte den Kopf. „Nicht nur. Julius ist friedlich eingeschlafen. Meine Trauer um ihn ist ruhig. Nein. Ich hatte noch eine Enkeltochter. Sandrina. Marissas Schwester. Sie ist letztes Jahr gestorben…“ Ihr Hals verschloss sich und die Stimme verstummte tonlos. Sie atmete schwer in sich hinein, sah den mitfühlenden Blick des Arztes. „Ich fürchte, Marissa hat das noch lange nicht verwunden. Sie ist sehr bedürftig nach Zuwendung. Bitte gib Acht.“

„Danke, Emilia. Danke für deine offenen Worte. Und sei gewiss, dass ich achtsam bin und mit euch fühle. Ich weiß nicht, wie eure Familie mit diesem Schmerz umgeht, ob ihr darüber sprecht… aber das ist wichtig, redet miteinander. Rede mit Marissa. Sie braucht das.“ Er blickte sie nachdrücklich an. „Sie hat Vertrauen zu dir und liebt dich, sonst wäre sie nicht zu dir gekommen. Nutze das für euer beider Wohl, für das Wohl eurer Familie. Manchmal ist es leichter mit einem Fremden darüber zu sprechen doch es ist auch hilfreich sich den Nahestehenden zu öffnen. Ihr braucht euch alle. Sonst seid ihr allein und einsam. Geht aufeinander zu, dann wird vieles leichter.“

Emilia nickte nachdenklich, stand auf und trat zu dem Mediziner, der hinter dem Schreibtisch aufgestanden war. „Laß es dir gefallen“, sagte sie als sie mit den Händen seinen Kopf umfasste und zu sich auf ihre Höhe hinunterzog. Ihre Lippen berührten leicht seine Stirn. „Du hast mir sehr geholfen.“

Timo Schmidtmann verzog sein Gesicht zu diesem unwiderstehlichen jungenhaften Grinsen. „Mensch, Emilia – wenn ich nicht zu jung für dich wäre, müsste ich mich wahrlich in Acht nehmen.“ Er griff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Ihr seid schon war besonderes, du und deine Enkelin.“

*

Auf dem Nachhauseweg waren beide sehr schweigsam. Marissa hatte ihre Großmutter kaum angesehen nachdem diese aus dem Sprechzimmer gekommen war und sie selber für ein paar Minuten hineinging. Keine von beiden sagte der anderen, was der Arzt mit ihr gesprochen hatte. Es war wie eine stille Übereinkunft, der Anderen Raum für Gedanken zu lassen. Ordnung in sich zu finden und Klarheit darüber, wie mit dem Erfahrenen umzugehen sei.

Sie fuhren langsam mit den Rädern nebenineinander her, ließen die Inselvegetation an sich vorübergleiten wie in einem Zeitlupenfilm, jede in sich versunken, fern von hier. Getragen von Empfindungen voller Widersprüche. Mit einem Mal jedoch beschleunigte Marissa das Tempo, sodass Emilia Mühe hatte hinterherzukommen. Immer schneller und schneller wurde sie, bis sie Emilia weit hinter sich gelassen hatte und diese Marissa nur noch als Bewegung am Ende des Weges erkennen konnte. „Fahr nur“, sprach Emilia vor sich hin in den Fahrtwind, der ihr die Augen tränen ließ. „Es ist gut.“

Marissa hatte keine Ahnung, was sie zu dem impulsiven Davonbrausen getrieben hatte. Wie von selber waren ihre Beine immer heftiger in die Pedale getreten, immer schneller und schneller, sodass sie das Gefühl hatte, sie müsse gleich davonfliegen. Weg von hier, weg von sich selber, weg von diesem Gedankengewimmel in ihrem Kopf, das sich nicht entwirren wollte, ihr nicht klar erscheinen ließ, was das alles zu bedeuten hatte. Dieses Gespräch vorhin in der Praxis. Dieses Ziehen in ihrem Inneren und das klopfende Stolpern in der Herzgegend. Sie musste es ganz schnell hinter sich lassen. Alles vergessen, vom Wind verwehen, vom Wasser wegspülen, von der Sonne verbrennen lassen. Aus ihr heraus löste sich ein Schrei gegen die dumpfe Enttäuschung, gegen den Schmerz, gegen die Erinnerung. Die an das Heute und die an das Gestern.

Sie fuhr stehend eine Wegsenkung hinunter, lehnte sich über den Lenker und schrie sich frei. Mit quietschenden Bremsen fuhr sie den Weg zum Haus der Großmutter hin, ließ das Fahrrad achtlos am Zaun stehen und rannte hinüber zu den Dünen, weiter hin zum Meer, das sie mit lauter Brandung empfing. Sie stoppte sich erst als das Wasser ihr schon bis zu den Knien reichte und sie keine Luft mehr hatte, gegen das Tosen des Meeres anzubrüllen.

*

Emilia dachte noch über die Worte des Arztes nach. Reden. Reden war heilsam. Natürlich wusste sie das, aber so wie in ihrer Familie von jeher nicht viel gesprochen worden war, war auch sie nicht unbedingt diejenige, die viel über das sprach, was sie bewegte. Eher war sie diejenige, die anderen zuhörte, anderen mit Rat zur Seite stand oder einfach nur da war, wenn sie gebraucht wurde. Schon in der Schulzeit war sie die beste Freundin bei Herzschmerz gewesen und in den schweren Krieg- und Nachkriegsjahren diejenige, die anderen Mut und Zuversicht vermittelte. Half mit Worten und Taten und stellte sich selber ganz hinten in die Reihe der Bedürftigen. Dabei drängte sie sich anderen nie auf, wartete bis diese zu ihr kamen und die Lasten vor ihr abluden. Säcke voll mit Tränen, Kummer und Leid. Zu viele manchmal, um sich dann noch den sorgsam verschnürten Seelenpakete der eigenen Familie zu widmen. Von ihren ganz persönlichen ganz zu schweigen.

In den Jahren des Wiederaufbaus fand sie ihr kleines Glück, baute mit Julius ein Haus, sah ihre Tochter Juliane aufwachsen. Es ging ihnen gut. Wie schnell war es zur wunderbaren Normalität geworden, sicher und geborgen zu sein. Ein Dach über dem Kopf zu haben, ausreichend jeden Tag zu essen und Kleidung, die nicht zusammengesucht, geflickt, aus alten Vorhängen und Decken zusammengeschneidert war, sodass sie wie Säcke am Leib hinunterhingen. Wie schnell hatte man sich in den Frieden des Tages geflüchtet um nicht mehr die Albträume der Vergangenheit zu sehen. Hatte sie verdrängt um neu anzufangen, wieder zu leben.

Und die Dankbarkeit für dieses neue Leben war unendlich. Die Freude, dass die neue Generation aufwachsen konnte ohne die Gräuel des Krieges, ohne Hungersnot und bitterer Kälte. Kinder waren ein Zeichen für eine neue Zeitrechnung. Ihnen würde es gut gehen. Ihnen ging es gut. Etwas anderes konnte gar nicht möglich sein.

Ein Traum, diese heile Welt. Äußerlich gesundete das Land, die Menschen erlebten Wohlstand und Wohlergehen. Doch war wirklich alles gut? Was war mit der Seele derer, die so viel erlitten hatten, dass es wohl nie in Worte gefasst werden konnte. Die unfassbaren, unendlichen Leidensgeschichten, die jede Familie in irgendeiner Form erlebt hatte. Niemand war ungeschoren davon gekommen. Niemand wirklich heil. Zuviel war in Schutt und Asche gesunken, zu viel gestorben und verloren.

Geredet wurde darüber kaum. Niemand wollte daran rühren, den Schmerz wiederaufleben lassen. Besser man bedeckte alles mit dem Bann der Vergessenheit. Ließ es ruhen, hüllte es mit Schweigen ein.

Emilia hatte auch viel geschwiegen. Die Gegenwart war so viel wichtiger, forderte so viel Aufmerksamkeit. Es gab kaum Zeit für Gedanken und Erinnerungen an die dunkle Epoche. Mitunter im Traum jagten Bilder durch ihr Gedächtnis und es gab Situationen, die ihr das Herz stocken ließen und den Atem. Das Geräusch eines mit Blaulicht dahinsausenden Krankenwagens oder der Probealarm der örtlichen Feuerwehr am Samstagmittag. Darauf reagierte ihr Körper mit Fluchtreflexen und Angstschweiß. Und auch das jährliche Feuerwerk an Silvester war für sie lange Jahre unerträglich. Wenn es soweit war, verzog sie sich in den abgeschlossensten Raum des Hauses und harrte auf das Ende der Knallerei. Die kleine Tochter kuschelte sich verschreckt an ihre Seite. Und selbst als bei Emilia die Symptome im Laufe der Zeit abflauten, blieb bei Juliane die Schreckhaftigkeit wenn es unversehens irgendwo ein lautes Geräusch gab, nach Rauch roch oder eine Sirene jaulte.

Lange hatte Emilia das auf die normale Ängstlichkeit eines Mädchens zurückgeführt, doch je älter sie wurde, erkannte sie Verhaltensweisen in der Tochter, die sie mehr und mehr an sie selber erinnerten. Sie selber als Kriegskind. Sollte es möglich sein, dass Juliane, die nie einen Fliegeralarm miterlebt hatte, sich nie in den Bombenschutzkeller hatte flüchten müssen, nie das Dröhnen der Tiefflieger gehört hatte, etwas davon in sich trug. Ein Erbe von all dem Grauen, das sie, ihre Mutter, fern von ihr zu glauben meinte.

Und die merkwürdigen Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen. Waren auch das Symptome eines ungewollten Erbes?

Und wieso fand die Tochter kein privates Glück? Sie tat sich schwer mit Freundschaften, Beziehungen funktionierten nicht, sie war eine Einzelgängerin mitunter sehr unnahbar, wortkarg, in-sich-gesenkt.

Ein Erbe vielleicht auch das – entsprungen aus der ostpreußischen Linie der Familie, in der nie viel gesprochen wurde, in der jeder seine Gedanken im Kopf mit sich herum trug, still. Ohne Bedürfnis sich nach außen hin mitzuteilen.

Das lag nicht in ihrer Natur, das war nicht üblich. Und niemand schien etwas zu vermissen. Durch ihren Vater war Emilia mit dieser Wortkargheit sehr vertraut, hatte diese immer als gegeben hingenommen und ohne groß zu hinterfragen mit- und weitergelebt. Durch Julius hatte sie erfahren können, dass es durchaus mehr gab als Schweigsamkeit. Doch die Kunst ein Gespräch zu führen, sich mitzuteilen, wurde ihr dennoch nie wirklich lebbar.

Emilia wurde es immer klarer, wie wichtig dies gewesen wäre. Wie wichtig, zu erzählen, zu fragen, zuzuhören. Nicht mit Fremden, sondern denen, die so nah waren und doch so weit weg. Sie hatte es nicht gesehen. Wollte einfach nur leben ohne Probleme und Not. Und das war ja auch so gewesen. Äußerlich zumindest. Sie hätte viel darum gegeben, das jetzt noch nachzuholen. In die Vergangenheit zu reisen, sich mit Julius und der Tochter an den Tisch zu setzten und auszusprechen, was so wichtig war. Dafür war es jetzt zu spät. Doch scheinbar hatte die Fügung ihr eine Chance zugespielt, dennoch ein wenig von dem Versäumten nachzuholen, etwas gutzumachen. Es konnte kein Zufall sein, dass Marissa hier war und Ungesagtes so ausdrückte, wie es ihr möglich war. Abseits der Wörter. Aber doch unmissverständlich durch ihre körperlichen Zeichen.

Emilia wusste nicht ob sie es können würde, aber sie wusste, es mussten Worte zum Sprechen gebracht werden. Sie würde einen Weg finden müssen, um das auszudrücken, was scheinbar gehört werden wollte.

*

Am nächsten Tag regnete es. Der erste Regen seit Wochen. Die Natur brauchte ihn dringend, hatte aber Mühe die vielen Mengen Wasser so schnell aufzunehmen. Rasch bildeten sich Pfützen und kleine Lachen, die auf dem ausgetrockneten Boden liegen blieben. Von den Bäumen und Sträuchern tropften dünne Wasserfäden hinunter und die Blüten und Blätter der Blumen neigten sich tief unter der ungewohnten Schwere. Trotzdem schien ein Aufatmen durch das matte Grün zu gehen, das sich vollsaugte für eine neue Frische.

Emilia, die wie immer früh aufgestanden war, schaute von der offenen Terrassentür auf den frisch gesprengten Garten. Mitunter wehte ein Windstoß Regentropfen zu ihr hin und benetzte ihr Gesicht. Das tat gut. Es kühlte ein wenig ihre Unruhe, die sie nachts nicht recht hatte schlafen lassen. Zuviel war ihr noch im Kopf herumgegeistert. Marissa hatte sich ohne Erklärung wieder in das Zimmer mit den Dachschrägen verzogen, die Tür geschlossen und wortlos zu verstehen gegeben, dass sie nicht gestört werden wollte. Gestern war nicht der Zeitpunkt gewesen, das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, aufzulösen. Ihr selber war nicht nach Reden zumute gewesen, doch sie würde den heutigen Tag dazu benutzen, der sie nach innen zwingen würde. In jeder Hinsicht.

Noch bevor Marissa hinunterkam, stellte sich Emilia an den Herd und kochte deren Lieblingsnachspeise. Die Früchte dazu, rote Johannisbeeren, Brombeeren und ein paar Himbeeren, die für sie nach Kindheit schmeckten, hatte sie gestern noch von den eigenen Sträuchern im Garten gepflückt. Es dauerte nicht lange bis die rote, sämige Masse im Topf hochblubberte und schließlich dickflüssig in der großen, gläsernen Schüssel auskühlte.

Kater Teo sah begehrlich auf das Treiben der alten Frau und maunzte nachdrücklich. Aber sie schüttelte den Kopf: „…das ist nicht für dich.“ Sie schob ihm ersatzweise frischgeschnittene Fleischstücke zu, über die er sich voller Hingabe stürzte. Emilia lächelte. „Kleiner Fresssack.“

Als es auf der Treppe knarrte, drehte sie sich überrascht um. „Du bist schon auf?“ Sie sah die Enkelin fragend an. „Es ist doch noch früh.“

Marissa schlurfte in den alten Pantoffeln des Großvaters zur Küchenbank, setzte sich mit angezogenen Beinen darauf. Ihre Hände vergrub sie in den langen Ärmeln ihres Pyjamas. „Der Regen hat so laut auf’s Fenster geprasselt.“ Sie gähnte. „Und ich konnte eh nicht gut schlafen.“

„Ich auch nicht“, antwortete Emilia. „Hier – magst du den Topf auslecken. Ganz frisch gekocht.“ Sie stellte ihr den Kochtopf auf den Tisch, in dem noch Spuren der Nachspeise vorhanden waren. Marissa steckte ihren Finger hinein. „Rote Grütze. Wie lecker – und noch warm. Zum Frühstück hatte ich die noch nie.“ Mit Wonne löffelte sie die Beerengrütze in sich hinein. „Hm – die kannst nur du so lecker kochen.“

Emilia lächelte und sah zufrieden, wie sich Marissas Lippen in kürzester Zeit rotgefärbten und auf deren Gesicht gleichzeitig ein freudiges Grinsen ausbreitete. „Tut mir Leid, dass ich gestern so abgedampft bin“, kam es dann von den roten Lippen der Enkelin, „ich musste einfach…“

„Schon gut, Issa. Ich verstehe das. Irgendwie ist so viel passiert seit du hier bist. Und überhaupt...“ Emilia machte eine unbestimmte Handbewegung, die alles sagte und nichts. „…ich würde dir nachher gerne etwas zeigen und auch erzählen, wenn du willst. Heute ist, denke ich, eh nicht der Tag für Außenaktivitäten.“

990,58 ₽