Читать книгу: «Mathildas Buch», страница 3
Geburtstag. Marissa schüttelte innerlich den Kopf. Noch nie hatte sie ihren eigenen Geburtstag vergessen. Noch nie war er so unwichtig für sie gewesen. Sonst hatte sie sich immer darum bemüht, viele Leute einzuladen, zu feiern, zu lachen, Spaß zu haben. Tage vorher war sie schon mit Vorbereitungen beschäftigt, kochte und backte gerne selber und freute sich, wenn ihre Gäste vor Vergnügen die Augen verdrehten, sich die Bäuche hielten und Marissa immer wieder für die tolle Bewirtung lobten. Das machte sie glücklich, viel glücklicher noch als die Geschenke und Glückwünsche.
Gedankenversunken biss sie in den lockeren Kuchen, der auf der Zunge zu zergehen schien. Selber bewirtet zu werden war schon auch herrlich, sie entspannte sich und aß alles, was der Tisch zu bieten hatte. Ihre Großmutter sah ihr dabei lächelnd zu, war mit einem Mal auch wieder ins Schweigen verfallen und sog den Moment in sich auf.
Schließlich hielt sich Marissa den Bauch. „Ich kann nicht mehr. Ich glaube, das Mittagessen kannst du dir sparen.“
Emilia lächelte wissend. „Na – mal abwarten, wenn du erst siehst, was es gibt, reden wir wieder drüber.“
„Oma, du willst mich mästen.“
„Na – ein paar Pfunde mehr können dir nicht schaden.“
Gemeinsam deckten sie den Tisch ab und Emilia machte sich an den Abwasch. Obwohl sie protestierte, nahm sich Marissa ein Geschirrhandtuch und trocknete ab. „An meinem Geburtstag kann ich machen was ich will – auch abtrocknen.“
„Machst du nicht immer, was du willst?“ forschte Emilia mit dem Blick auf das in schaumiges Wasser getauchte Geschirr.
„Vielleicht“, Marissa hob die Schultern.
Und dann sagte Emilia unvermittelt: „Deine Mutter hat angerufen.“
Marissa sah nicht auf, trocknete hingebungsvoll den Teller in ihrer Hand.
„Sie wusste nicht, dass du hier bist. Hat es aber vermutet.“ Marissa schwieg dazu. „Warum hast du ihr nichts davon gesagt, dass du hierher fährst. Sie macht sich doch Sorgen.“ Wider Willen war Emilia in einen tadelnden Tonfall verfallen, bereute es aber sofort. Sie spürte, wie sich Marissa weiter in sich zusammenzog. „Na – wie dem auch sei. Ruf sie doch nach dem Mittagessen an. Sie freut sich.“
Marissas Schweigen wurde mehr und mehr zu einem undurchdringlichen Nebel, der sich in der ganzen Küche ausbreitet und sie beide einhüllte. Es war plötzlich kalt hier und die Sonne schien ihre Kraft verloren zu haben. Und dann kamen wie von irgendwo her die Wörter: „…ich kann das nicht…“
Sie schienen nicht von Marissa zu kommen, klangen durch den Nebel dumpf und farblos. Und dann fiel etwas zu Boden, Scherben langen überall verteilt, zerschnitten den Nebel und ließen die Sicht klar werden auf das Mädchen, das mitten in ihnen kniete und dem lautlos die Tränen über die Wangen liefen.
*
Wie absurd zu glauben, es könne alles wieder gut sein nachdem der Seelenvulkan gestern seine Schleusen geöffnet hatte und nun weiter ungehindert überfloss. Emilia sah mit Bestürzung den erneuten Tränenanfall der Enkelin. Und fühlte sich überaus hilflos. Äußerlich reagierte sie ruhig und sachlich. Half Marissa ohne viele Worte die Scherben zusammenzufegen, reichte ihr Taschentücher und hielt sie schließlich minutenlang umfangen. Stand mit ihr inmitten des Scherbenhaufens, strich ihr über den Rücken, die Arme, hielt ihre Hände. Schließlich saßen sie zusammen auf der Bank im Garten, ließen die Sonne die Hitze der Tränen aufsaugen und suchten einander nah zu sein.
„Möchtest du reden?“ fragte Emilia nach langem Schweigen und drückte sanft die Hand der Enkelin. „Reden hilft.“
Marissa erwiderte den Händedruck, lehnte ihren Kopf an die Schulter der Großmutter. „…weiß nicht – vielleicht. Aber erstmal hätte ich gerne noch ein Stück Kuchen.“
Emilia lachte erleichtert und wollte schon aufstehen, um in die Küche zu gehen.
„Ich hole es mir selber.“ Marissa sprang auf und stand kurz darauf mit einem Stück Kuchen in der Hand in der Tür und biss hungrig hinein, setzte sich wieder neben die Großmutter. „…tut mir Leid, dass ich so eine Heulsuse bin…“
„Ach, Issa,… das ist wohl gerade einfach so. Das gibt es eben mal…“
Sie berührte leicht die Hand der Enkelin. In dem Moment tauchte Teo auf der Terrasse auf, maunzte laut und vernehmlich und sprang mit einem eleganten Satz, dem man ihm gar nicht mehr zugetraut hätte, zu den beiden auf die Bank. Ungeniert spazierte er über Emilias Schoß um sich dann genau zwischen Großmutter und Enkelin in die warme Enge zwischen deren Oberschenkel hineinzuzwängen. Marissa grinste: „Hey, du Stromer, das ist viel zu eng hier.“ Aber sie rutschte bereitwillig ein wenig zur Seite, damit es sich Teo gemütlich machen konnte. Dieser fing augenblicklich an, sich die Pfoten zu lecken, die Ohren zu putzen und sich überhaupt in akribischer Art und Weise zu Recht zu machen.
„Unglaublich, so ein Pascha“. Emilia schimpfte liebevoll. „Du bist viel zu verwöhnt.“ Sie kraulte ihn ein wenig im Nacken, worauf dieser sofort ein kehliges Schnurren hören ließ. Und dann saßen die Drei auf der Bank in der Sonne, genossen die Nähe und die schnurrende Ruhe, den leichten Wind und das Gefühl von Heimat.
*
Heimat. Das war für Emilia lange Zeit kein realer Ort gewesen. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, unterwegs zu sein. Auf der Flucht, auf der Suche. War nie wirklich jemals irgendwo angekommen, nie wirklich zuhause. Hier auf der Insel hatte sie erst jetzt am Ende ihres Lebens tatsächlich das Gefühl von Heimat, von angekommen sein. Doch viel Zeit war darüber ins Land gegangen, viele Wege hatte sie gehen müssen. Und nun – so schien es ihr – gab es noch einen Weg zu gehen. Jetzt, wo sie selber an ihrem Lebensziel angekommen war, gab es noch ein Um-sich-blicken auf die, die nachfolgten. Die noch eine weite Strecke vor sich hatten.
Emilia wollte sich gerne hinsetzen, ausruhen von ihrem Weg, doch sie sah, dass es dafür noch zu früh war. Mit dem Blick auf ihre Enkelin schaute sie mit einem Mal in einen rückwärts gerichteten Spiegel, worin sich alle Generationen aneinanderreihten. Und ihr kam eine Ahnung in den Sinn. Die Ahnung einer ineinander verwobenen Verästelung des Familiengewebes. Einer vererbten Lebensspur, die sich in allen Abzweigungen wiederfand.
Jetzt als alte Frau war ihr Blick dafür scharf genug. Sie sah, dass Marissa am Ende einer Kette von leidvollen Erfahrungen stand, die die Frauen vor ihr in ähnlicher Weise ebenso durchlebt hatten.
Mit irritierender Klarheit sah Emilia ihre Mutter Mathilda, sah sich selber, ihre Tochter Juliane, Marissas Mutter, sah die Schwestern Marissa und Sandrina…
Jede dieser Frauen war Teil eines großen Bildes, das nun seit über hundert Jahren immer wieder die Farben wechselte, Veränderungen erfuhr, neue Details erhielt, Schaden nahm, ausgebessert wurde und sich im ständigen Wandel der Jahre erneuerte. Doch die Grundstruktur war immer die gleiche, der Rahmen blieb unverändert und presste die Personen, die darin ihr Leben lebten, mitunter sehr unsanft und rüde zusammen.
Und doch: es war das Bild einer Familie. Ihrer, Emilias Familie. Und sie war die letzte, die noch wusste, wie es ausgesehen hatte, als die ersten Farbstriche getan wurden.
Ihr Blick zurück war in erster Linie von ihren eigenen Lebensbildern geprägt. Sie sah mit ihren Augen auf Geschehnisse, Gefühle und Zeitenwandel. Konnte nur durch ihr eigenes Empfinden daraus ein Muster erkennen und versuchen, dieses zu entwirren und entschlüsseln um der nachfolgenden Generation den Weg ein wenig einfacher und klarer zu gestalten. Doch wieviel Einfluss und Macht ihr diesbezüglich zur Verfügung stand, war immer abhängig davon, wie bereitwillig diese aufgenommen wurde. Sie konnte nicht erzwingen, dass ihre Erkenntnis und Hilfe erwünscht war. Doch sie vertraute darauf, dass zum rechten Zeitpunkt sich die Gelegenheit für eine vertrauensvolle Herzensöffnung zeigte. Sie war sicher, sie würde sie sehen und gemeinsam mit der Enkelin in eine Zeit spazieren, die für diese unbekannt war und voller ungeahnter Hintergründe ihres Lebens.
*
Marissa erlebte diesen Geburtstag als eine wundersame Mischung aus trauriger Süße. Nach dem Salzgeschmack der Tränenflut am Morgen, war es den Tag über viel tröstende Kuchenseligkeit und weiche streichelnde Sonnenwärme, die ihr zusammen mit der liebevollen Zuwendung ihrer Großmutter zu teil wurden. Kater Teo schmiegte sich auffallend oft an ihre Beine, forderte Streicheleinheiten ein, die ihr selber so gut taten. Es war ihr ein Wohlgefühl, die Stunden mit ruhevoller Leichtigkeit zu verbringen. Das Weinen hatte sie befreit aber auch sehr müde gemacht. Sie spürte sich in allen Gliedern verlangsamt und dumpf. Ihr Kopf war leer und ihr Herz von Gefühlswallungen träge. Sie war froh, nicht viel reden zu müssen, nichts zu hören, was sie anstrengte. Nicht heute, nicht jetzt.
Sie hatte in der Frage ihrer Großmutter, ob sie reden wolle, etwas erspürt, dass sie unruhig machte und gleichzeitig anzog und zurückweichen ließ. Irgendetwas war da, was wichtig war, gesagt und gehört zu werden. Doch sie war von solch undurchdringbarem In-Sich-Gefangen-Sein umschlossen, dass es ihr unmöglich schien, daraus auszubrechen. Nicht heute, nicht jetzt.
Sie humpelte durch das Gras, blinzelte ins Sonnenlicht, döste im Liegestuhl vor sich hin, aß zu viel Kuchen, scheuchte Teo von den Vögeln weg und lauschte auf das ferne Rauschen des Meeres. Morgen würde sie versuchen, wieder an den Strand zu gehen. Sie sehnte sich nach Wellengekräusel und Sandgeriesel.
*
Emilia beobachtete ihre Enkelin vom Küchenfenster aus während sie sich an das versprochene Abendessen machte. Deren Angebot nach Hilfe hatte sie abgelehnt: „Heute ist dein Geburtstag – lass dich nur verwöhnen.“
„Aber du verwöhnst mich doch schon die ganze Zeit“, hatte Marissa gesagt aber nicht viel Widerstand geleistet als die Großmutter sie wieder nach draußen scheuchte. Vielmehr hatte sie gelacht und sich mit einem befreiten Seufzer wieder in den Liegestuhl sinken lassen.
Emilia hatte das mit Erleichterung bemerkt. Es schien ihr, dass sich Marissa ein wenig erholt hatte, wenngleich sie ahnte, dass in der Tiefe ihrer Seelenhülle noch ein Meer von ungelöster Schmerzenstropfen lauerte.
Sie hoffte darauf, dass die richtige Zeit kommen würde für das, was schon lange abgelebt war. Aber das dennoch so lebendig war, dass es ihm Moment des Jetzt noch seine Wirkung zu zeigte.
Emilia rührte schnell und gleichmäßig die Sauce im Topf, damit sie keine Klumpen bildete. Sah durch das Fenster in den Garten, nahm wahr wie Marissa mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Beinen dasaß, den Blick in die Ferne gerichtet. Und Kater Teo, der an ihrem Fußende eingerollt lag und mit völlig losgelösten Gliedern ausgestreckt dort schlief.
Ein friedliches Bild, das sie an ein anderes Mädchen erinnerte. Ein Mädchen voll von Träumen und Wünschen mit vielen Talenten und Fähigkeiten. Vom Aussehen unterschied sich dieses sehr von der jungen Frau auf dem Liegestuhl. Diese hier war schlank und zierlich. Das Mädchen von damals war recht klein und hatte einiges an Gewicht zu viel auf den Rippen. Aber hübsch war sie auch gewesen. Nicht so durchscheinend wie Marissa mit ihrem blassen Teint, vielmehr blühend und rund mit einer Haarpracht, um die sie manches andere Mädchen glühend beneidete. Allerdings durfte sie ihre langen, dicken Locken kaum offen zeigen. Ihr Vater zwang die Tochter zu einer strengen Zopffrisur. Das Drama, das sich ergab als sie die verhassten Zöpfe abschnitt, war nachhaltig. Aber dieses Drama war vergleichsweise harmlos gegenüber den Dramen gewesen, die sie schon durchlebt hatte und noch leben würde….
Als das Telefon klingelte, schrak Emilia auf, zog rasch den Topf mit der Sauce von der Herdplatte, gerade noch rechtzeitig bevor diese am Topfboden ansetzte.
Die Stimme ihrer Tochter klang gepresst an ihr Ohr. Emilia spürte die angestaunten Emotionen darin. „Kann ich Marissa jetzt sprechen?“
Emilia schaute aus dem Fenster in den Garten zu ihrer Enkelin hinüber. Diese war jetzt aufgestanden und humpelte auf einem Bein Teo hinterher. Als sie zum Haus hinübersah, winkte Emilia ihr zu und bedeutete ihr, zu kommen. Gleichzeitig nickte sie in den Hörer.
„Sie ist im Garten, aber sie kommt“, sagte sie ihrer Tochter und schob die Frage nach, wie es ihr ginge.
Die Antwort der Tochter fiel kurz und knapp aus: „Es geht, weil es gehen muss.“
Emilia spürte körperlich wie der Tonfall der Tochter ihr die Luft nahm. Ihre Knie fühlten sich mit einem Mal an wie Gummi und ließen sie auf den Stuhl neben dem Telefontischchen sinken. Dann stand Marissa neben ihr und ersparte ihr eine Antwort. Wortlos gab sie ihr den Hörer weiter. Kraftlos blieb sie sitzen während Marissa unruhig der Stimme in der Leitung zuhörte, Worte sagte, die nichts sagten, nur spüren ließen, dass da etwas Schweres zwischen der Frau in der Ferne und ihr hier auf der Insel lag, was zu massiv war, um durch die Kabel des Fernnetzes zu gelangen. Und da war eine unsichere Bemühung, darüber hinwegzureden, leicht zu scheinen um nicht an das zu stoßen, was das Gerüst aus Angst und Bedrängnis mühsam Aufrecht erhielt.
„Mam“, sagte Marissa schließlich, „mir geht es gut hier. Wirklich. Und dass ich nicht Bescheid gesagt habe, tut mir Leid. Es war einfach eine spontane Entscheidung.“
Emilia hörte die Antwort ihrer Tochter nicht, nahm nur einen Tonfall von Ferne war, der nach Enttäuschung klang. Nach Resignation.
„Tschüß, Mam. Und Danke für die Glückwünsche.“ Marissa legte den Hörer auf die Gabel des altmodischen Telefons, das noch eine Wählscheibe besaß und mit einem Kabel verbunden war. Ihr Gesicht war rot geworden während des Gesprächs und ihr Atem ging flach. Emilia sah ihr wortlos in die Augen, erhob sich und ging zu ihrer Sauce auf dem Herd zurück, die inzwischen dick geworden war. Während sie Wasser nachgoss, stellte sie den Topf wieder auf die Herdplatte und rührte erneut die sämige Flüssigkeit.
„Ich wollte sie nicht sprechen.“ Die Stimme ihrer Enkelin klang hinter ihrem Rücken leise und matt. Emilia drehte sich nicht um.
„Ich weiß, aber sie ist deine Mutter und macht sich Gedanken.“ Die Worte klangen schal und abgenutzt, doch ihr fielen keine anderen ein. Marissa stieß schnaubend Luft durch die Nase. „Darauf kann ich manchmal echt verzichten.“
„Du bist hart, Issa. Das passt nicht zu dir.“ Emilia schaltete die Herdplatte aus. Nahm den Topf mit der Sauce und goss diese über das vorbereitete Auflaufgericht aus Nudeln und Gemüse, streute Paniermehl darüber und setzte kleine Butterflöckchen hinauf. Dann schob das Gericht in den Ofen.
„Hm, Nudelauflauf. Lecker…“ lenkte Marissa ab und Emilia ließ es dabei bewenden.
Als sie später zusammen am Esstisch saßen, schob sie ihrer Enkelin ein kleines Päckchen zu. "Zum Geburtstag. Ich weiß, dass du es magst. Jetzt soll es dir gehören.“
Marissa spürte wie ihr Puls schneller wurde als sie das Geschenk in die Hand nahm. Durch das dünne Blumenpapier spürte sie eine Form, die ihr wunderbar vertraut vorkam. Sie zögerte damit, das Papier zu lösen obwohl sie es eigentlich nicht erwarten konnte. Sie wusste was es war. Sie wusste, dass es ein Kästchen ohne Schlüssel war. Holzverziert mit Rosenranken.
„Oma, bist du sicher?“ Marissa sah fragend zu Emilia hinüber, die sich über die staunende Freude der Enkelin amüsierte. „Ja – natürlich. Ich glaube, es hat irgendwie schon immer dir gehört.“
Marissa stand so schnell es ihr weher Fuß erlaubte auf und fiel der Großmutter warm um den Hals.
*
Eigentlich hatte sie diese Nacht wieder in ihrem kleinen Zimmer mit den schrägen Wänden und dem Blick in den Himmel verbringen wollen, doch ihre Beine führten sie ganz von alleine zum großen, weichen Bett, in die wohlige Nähe von Zuneigung und Geborgenheit, die dieses Zimmer atmete. Hier schien das Glücksschwingen, das das ganze Haus ausstrahlte, seinen Ursprung zu haben. Hier war die Quelle. Marissa wollte so nah wie möglich da heran und, wenn möglich, in sie hineintauchen – so tief es ging.
Emilia nahm es als selbstverständlich hin ihre Enkelin neben sich liegen zu finden. Sie genoss die leise Annäherung mit innerer Freude. Wie selten war es geworden, dass es Berührungen gab, Umarmungen, Sympathiebekundungen. Zeichen der Liebe und Zuneigung. Seit Julius‘ Tod gab es kaum etwas was vergleichbar gewesen wäre.
Nach dem Abendessen hatten sie nicht mehr viel geredet. Beide waren erschöpft von den Gefühlswellen, die den ganzen Tag über immer wieder auf und ab wallten. Emilia steckte noch die kalte Stimme ihrer Tochter im Innern und Marissa schien das Telefonat mit ihrer Mutter gleichfalls wie einen Kälteschock empfunden zu haben. Keine von beiden erwähnte etwas dergleichen, aber jede spürte es bei der anderen.
Als es dunkel wurde, saßen sie in Decken gehüllt auf der Terrasse, ließen ein Windlicht im Abend funkeln, suchten den Himmel ab nach Sternensplittern und schnupperten an dem Rest Sonnenwärme vom Tag.
Ihr Schweigen sank immer mehr in den Schlaf und sie führten nur noch ein Gespräch mit ihren Gedanken. Schließlich lehnte Marissa den Kopf an die Schulter der Großmutter und atmete leise aus. „Das war ein schöner Tag.“
Emilia zog sie näher zu sich.
„Ja“, sagte sie ebenso leise. „Das war er.“
*
In der Nacht begegnete Marissa den Tränen. Sie sah sie ganz deutlich vor sich stehen. So als hätten sie Gestalt angenommen. Sie waren da und streckten ihre Arme nach ihr aus, kamen Schritt für Schritt näher. Marissa fühlte sich wie erstarrt, konnte sich nicht vom Fleck rühren, wollten davonlaufen, konnte nicht. Eine beklemmende Lähmung legte sich über ihren Körper, sie versuchte zu rufen, aber kein Wort kam aus ihrem Mund. Sie fühlte ein Brennen, das ihren Hals verglühte und dann sah sie sich in einem Spiegel und dahinter ein Gesicht. Sie wollte sich umdrehen, es berühren, ihm nah sein. Aber da war eine Wand voller Unsichtbarkeit, die alles um sie herum mit sich nah.
Sie musste da hindurch, musste atmen, musste sich selber an die Hand nehmen. Mit aller Kraft spannte sie ihre Muskeln an und sprang…
Früh am Morgen wachte sie auf, fühlte ihr Haar nass im Nacken kleben, spürte die Feuchtigkeit, die ihr Pyjamaoberteil durchdrungen hatte und ihre Haut, die von kaltem Schweiß bedeckt war. Ihr Kopf fühlte sich schwer und dumpf an und ihre Kehle brannte wie Feuer. Mühsam versuchte sie ein wenig Speichel zu schlucken, doch das verursachte ihr sogleich Schmerzen und Hustenreiz. Kurzatmig richtete sie sich im Bett auf, sah, dass die Großmutter neben ihr noch schlief.
Leise schälte sich Marissa aus dem Federbett, saß dann mühsam aufgerichtet am Bettrand mit einem Schwindel in und um sich, der es ihr erschwerte aufzustehen. Eine Übelkeit tief in ihr, schlug immer größere Wellen, ließ sie würgen und mit den Kräften, die noch in ihr steckten, schaffte sie es in letzter Sekunde ins Bad. Gerade noch rechtzeitig bevor ihr Mageninhalt in krampfartigem Erbrechen nach oben schoss, bis sie sich völlig erschöpft vor der Toilettenschüssel zusammenkrümmte. Es dauerte lange bevor sie es schaffte, sich mühsam aufzurichten und den galligen Geschmack aus der Mund zu spülen.
Als sie den Blick hob, sah sie im Spiegel über dem Waschbecken ein bleiches, graues Gesicht mit Schatten unter den Augen. Die Haare hingen wirr und klebrig um den Kopf. Marissa starrte das Bild an. Wieder ein Spiegelbild. Diesmal real. Doch genauso fremd wie im Traum. Sie fing an zu zittern und ließ sich auf den weichen Badvorleger sinken. Zu kraftlos für Tränen. Zu kraftlos für Gedanken, die hinter ihrer Stirn Machtkämpfe ausfochten um von ihr wahrgenommen zu werden. Marissa hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen. Gelehnt an die Kacheln der Badewanne hockte sie da mit angezogenen Knien auf dem Badezimmerboden und zitterte, dass ihr die Zähne aufeinander schlugen.
Als die Großmutter kurze Zeit später ihre Enkelin fand, war diese kaum ansprechbar. Apathisch und fieberheiß. Emilia war es kaum möglich, Marissa aus diesem Zustand zu holen und sie wieder ins Bett zu bringen. Irgendwie schaffte sie es dann, ihr die nassen, beschmutzen Sachen auszuziehen und ihr Gesicht und Oberkörper vorsichtig mit einem Waschlappen zu säubern. Zog ihr ein frisches Hemd über, während Marissa sie mit gläsernen Augen ansah. „Oma, es tut mir so Leid“, sagte sie tonlos und gab sich einen Ruck um sich mit Hilfe der Großmutter aufzurichten. Aneinander gestützt schafften sie den Weg ins Schlafzimmer, wo Marissa schwer ins Bett sank und einschlief.
Emilia stand minutenlang bewegungslos da. Blickte auf die Enkelin hinunter, sah ihr rotes Gesicht, das mühsame Ein- und Ausatmen, das unruhige Zucken der Glieder. Selber fühlte sie sich unendlich müde. Sie spürte, dass ihre Kräfte, körperlich und seelisch, nicht ausreichten um diesem Gefühls-Auf-und-Ab Herr zu werden. Schließlich war sie eine alte Frau, was ihr gerade jetzt besonders bewusst wurde. Nur noch ein paar Monate und sie würde ihren 80.Geburtstag feiern. Ob sie ihn wirklich feiern wollte, wusste sie allerdings nicht. Der Trubel, der damit zusammenhing war ihr schon im Vorfeld zu viel.
Sie dachte an Julius, an den letzten „großen“ Geburtstag, den sie zusammen gefeiert hatten. Schön war es gewesen, schön miteinander zu feiern. Zu zweit.
Es lächelte tief in ihr als sie daran dachte. Aber da war auch ein wenig Wehmut dabei. Zu zweit, dachte sie, haben wir so vieles geschafft. Zu zweit war alles so viel leichter, auch wenn es mal gerade alles anderes als leicht gewesen war. „Mit dir war es immer gut.“ Sie blickte auf das Bild des Mannes, der so viele Jahre mit ihr gewesen war, nahm es in die Hand und küsste die lachenden Lippen durch das kalte Glas des Bilderrahmens. Streichelte ihm über die wirren Haare und sah ihn dann vorwurfsvoll an. „Jetzt hätte ich dich sehr gebraucht.“ Er strahlte sie weiterhin schelmisch an, sodass ihr Herz sich weitete und sie das Bild an sich drückte. Und als ob ihr der geliebte Mann noch von weit her Kraft und Zuversicht schickte, fühlte sie sich mit einem Mal getröstet und gestützt. Du bist stark, Lia. Du schaffst es alleine.
Es war seine Stimme, die in ihrem Inneren klang und ihr Ruhe gab. Behutsam stellte sie Julius zurück an seinem Platz neben dem Bett, sodass er den Blick auf die kranke Enkelin richtete.
Dann ging sie leise aus dem Zimmer und stieg die Treppe hinunter. Es war immer noch früher Morgen. Gerade kurz nach sieben und draußen auf dem Gras hingen noch Tautropfen der Nacht. Die Sonne hatte sich noch hinter dem Hausdach versteckt aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie um die Ecke bog und ihre Finger nach den Glitzerperlen ausstreckte um sie aufzusaugen.
Kater Teo räkelte sich müde in seinem Korb und schaute nur flüchtig auf als Emilia ihm Milch und Futter hinstellte. „Schlecht geschlafen“, fragte diese ihn und beugte sich zu ihm um ihn hinter den Ohren zu kraulen, was er regungslos hinnahm. „Na, du bist ja wirklich nicht gut beieinander.“ Und leider nicht der einzige, fügte sie still bei sich hinzu.
Nach einer Tasse starkem Kaffee, griff sie zum Telefon und rief Dr. Schmidtmann an. Sie wusste, dass er früh auf war und hatte wirklich Glück, ihn gleich zu erreichen. „Ich komme so schnell ich kann“, versprach er.
Während sich Kater Teo letztlich doch gnädig über sein Frühstück hermachte, aß Emilia selber ohne wirklichen Appetit eine Scheibe Brot und trank lustlos schluckweise den Rest bitteren Kaffee. Dieser war zu stark geraten und die Milch konnte ihn kaum abzumildern. Schließlich schob sie den Becher beiseite, wobei sie mit diesem an das Schmuckkästchen stieß, das die Nacht auf dem Küchentisch verbracht hatte. Es wirkte sehr verloren in dieser Umgebung von Tellern und Tassen, Kaffeegeruch und Brotkrümeln.
Emilia nahm es behutsam in die Hand, drehte es hin und her, strich über die feine Verzierung. „Du bist genau wie Issa“, sagte sie zu dem Schmuckstück.
„ Fein und zart, aber auch robust und in dein Innerstes lässt du niemanden blicken.“
Sie hob es auf und stieg dann wieder die Treppe hinauf um nach der Enkelin zu sehen. Diese atmete schwer in den Kissen, warf sich unruhig hin und her. Als Emilia ihr die Hand auf die Stirn legte, zuckte sie zusammen. Julius beobachtete die beiden und Emilia gab ihm außer der Enkelin noch das Schmuckkästchen in Obhut.
*
Kurze Zeit später quietschen vor dem Haus Fahrradbremsen und Dr. Schmidtmann kam mit langen Schritten ins Haus. Er untersuchte die immer noch fieberschlafende Marissa und ließ sich dann von Emilia Kaffee einschenken. „Der ist richtig gut“, meinte er anerkennend. „Mal richtig grundschwarz.“
„Na, für meinen Blutdruck ist er wohl eher nicht so gut“, lächelte Emilia angestrengt, „wo mein Herz eh so aufgeregt ist.“
Der Arzt legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Das ist verständlich, aber nicht nötig. Ich weiß zwar noch nicht, was diesen Fieberschub bei deiner Enkelin ausgelöst hat aber sie ist jung und kräftig. Sie wird sich bald erholen. Ich lasse dir von der Apotheke etwas herschicken, das gibst du ihr bitte dreimal am Tag. Sobald das Fieber gesunken und sie ansprechbar ist, sehen wir weiter. Ich würde gerne mit ihr in Ruhe in meiner Praxis sprechen, sobald es möglich ist. – Und du, solltest dich ausruhen. Kaffee ist wohl tatsächlich gerade nicht so empfehlenswert. Ich lasse dir noch ein pflanzliches Beruhigungsmittel da. Nimm es, bitte…“ Er sah sie dringlich an. Emilia nickte dankbar.
Er stand auf. „Ich muss leider weiter. In der Praxis warten schon ein paar kränkelnde Urlauber.“ Dann war er aus der Tür und verschwunden.
Zwei Stunden später fuhr das Pferdegespann mit Knut Niederbrück auf dem Bock vor. Dieser kletterte mit seinen kurzen Beinen behende hinunter und brachte Emilia sofort dazu in sich hineinzulachen als er betont breitbeinig und mit ungelenkem Diener die Lieferung der Apotheke überreichte. „Habe die Ehre, Madam“, krächzte sein kehliger Bass.
„Knut, du hast mir gerade noch gefehlt.“
„Ich weiß. Deshalb bin ich hier! – Was macht die kranke Deern?“
„Sie schläft.“ Dankend nahm sie das Medikament aus der Schachtel. „Ich weiß gar nicht, wie ich ihr das einflössen soll.“ Sie drehte die Tropfen unschlüssig hin und her. „Aber komm erstmal rein. Du hast eine Stärkung verdient.“
Knut grinste. „Das will ich meinen.“
Er trank seinen Belohnungsschluck, brachte Emilia wiederum zum Lachen und blieb noch eine Weile zur Unterhaltung da. Schließlich musste er sich wieder auf den Weg machen, salutierte mit komischem Ernst und war wieder auf und davon.
Emilia winkte ihm lächelnd nach. Die Begegnung hatte ihr gut getan, mehr noch als das Beruhigungsmittel des Arztes. Knut war schon so lange ein guter Freund. Mit Julius hatte er sich regelmäßig zum Schachspielen getroffen und war mit ihm manchmal stundenlang im Watt unterwegs gewesen. So unterschiedlich die beiden waren, äußerlich und von ihrer Herkunft, so ähnlich waren sie sich in vielen Denkweisen und Handlungen. Emilia schüttelte darüber mehr als einmal verwundert den Kopf. Aber sie sah diese Männerfreundschaft immer als Bereicherung. Nicht nur für Julius, sondern auch für sich selber, da dadurch eine willkommene Lebendigkeit ins Haus geweht wurde. Nach Julius‘ Tod hatte sie befürchtet, dass sich Knut kaum noch bei ihr sehen lassen würde. Doch das Gegenteil war der Fall. So oft er Zeit hatte, ließ er sein Pferdegespann den Weg durch die Dünen zu ihr finden und unterhielt sie mit seinem friesischen Humor. Dafür war sie vor allem in der ersten schweren Zeit dankbar, wo sie sich plötzlich in allem allein wiederfand. Das Haus war so leer und groß, das Bett so kalt, der Garten so einsam. Der Sessel neben dem Kamin eingefallen und die Kniedecke so hilflos.
Emilia war sich nicht sicher gewesen ob sie es schaffen würde, hier alleine weiter zu leben. So weit weg von der Umgebung zu Menschen. Das nächste Haus war über einen Kilometer entfernt gelegen. Zur Ortschaft benötigte sie mit dem Fahrrad etwa fünfzehn Minuten. Diese Abgelegenheit hatte sie und Julius so angezogen, die Ruhe und Ungestörtheit. Natürlich war ihnen immer bewusst gewesen, dass damit auch große Nachteile verbunden waren, zumal sie schon in fortgeschrittenem Alter hierhergezogen waren und immer klar vor Augen hatten, dass einer von ihnen irgendwann allein zurückbleiben würde. Dennoch war es für sie eine sichere Entscheidung gewesen, dieses Haus zu besitzen. Und Emilia war es sehr bald klar geworden, dass sie hierbleiben würde. Hierbleiben musste. Dies war ihr Ziel, ihre Heimat. Hier war sie glücklich. Glücklich mit ihm, der immer noch bei ihr war. Über sie wachte. Wie heute als sie sich so schwach in sich fühlte. Sie konnte hier nicht weg. Sie gehörte hierher.
*
Wie seltsam sich das anfühlte. Zu schlafen aber doch wach zu sein. Alles wahrzunehmen, was um einen geschah und doch nicht dabei zu sein. Die Hand auszustrecken und nichts zu berühren, zu rufen und nicht gehört zu werden. Und die Augen öffnen zu wollen ohne es zu können. Ein Gewicht drückte schwer auf ihren Körper, eine Hülle lag wie ein Kokon um sie herum, der Geräusche von außen dämpfte und ihren Blick trübte.
Sie sehnte sich danach, leicht zu sein, davonzufliegen von sich und ihren Gefühlsabgründen. Nicht mehr denken, nicht mehr fühlen. Einfach schweben, schweben, schweben. Sie atmete schwer und gierig alle Luft ein, die sie bekommen konnte, mehr und mehr bis sie voll war davon und nicht mehr atmen musste, ließ sich sinken in das Nichts und fing an Flügel zu bekommen. Sie schwirrte aus sich heraus, aus dem Zimmer, durch das Fenster in den Garten, über das Haus hinweg zum Meer. Sah von oben herab auf das Wellengeschäume, fühlte den Wind und schmeckte die Gischt. Wenn sie jetzt losließ, würde sie hineintauchen in die Wassertiefe und die See würde sie davontragen in die Freiheit.
Etwas zog sie davon fort, etwas rief sie zu sich mit dringlichem Klang. Rief einen Namen, den sie kannte. Wusste, er hatte etwas mit ihr zu tun. Ihr Ich, ihr Sein, ihr Selbst rief sie laut.