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3

Norwood Abbey sah im hellen Tageslicht arg heruntergekommen aus. Sir Adam zügelte seine Grauschimmel (ein perfekt zusammenpassendes Paar, das absolut nicht günstig gewesen war) und warf die Zügel seinem Groom zu.

„Ganz schöne Bruchbude, Sir“, wagte dieser zu bemerken. Sir Adam grinste ihm über die Schulter zu: „Ein wahres Wort, Tom. Pass auf die Pferde auf.“

„Müssen Sie mir nich sagen, Sir.“ Tom war gekränkt.

Sir Adam wanderte die ursprünglich einmal elegant geschwungene, aber nun fast zugewachsene Auffahrt entlang. Auf die Tochter war er durchaus neugierig – mit diesem verantwortungslosen Vater hatte sie nun nicht gerade Glück gehabt.

Auf sein Klopfen geschah zunächst gar nichts, dann öffnete sich die schwere Eichentür ganz langsam und ein ältlicher Butler schaute misstrauisch heraus, sagte aber nichts.

„Mein Name ist Prentice“, begann Sir Adam munter. „Es klingt vielleicht etwas phantastisch, aber – nun – also, ich habe dieses Anwesen gewonnen.“

Die Tür öffnete sich weiter. „Ich weiß, Sir. Lord Northbury hat mich informiert, bevor-“

„Bevor was?“, fragte Sir Adam hastig. Das Bild eines toten Earls im Arbeitszimmer, eine rauchende Pistole dort, wo sie ihm aus der schlaffen Hand gefallen war, war vor seinen Augen aufgetaucht und er fühlte sich schuldbewusst, obwohl man ihm dieses Spiel schließlich aufgenötigt hatte.

„Bevor er abgereist ist“, vollendete Montey, offenbar etwas verwundert.

„Er ist abgereist? Wohin?“

„Nach dem Kontinent, wie ich ihn verstanden habe.“

„Aha… mit seiner Tochter, nehme ich an.“

Die Tür öffnete sich noch etwas weiter. „Treten Sie doch bitte ein, Sir. Darf ich ihnen etwas anbieten?“

Sir Adam sah sich in der kahlen und nicht wirklich sauberen Halle um. „Können Sie mir denn überhaupt noch etwas anbieten?“

„Tee dürfte kein Problem sein, Sir. Aber Sie haben Recht, ansonsten ist es um unsere Vorräte eher traurig bestellt.“

„Wie viel Personal gibt es denn hier – außer Ihnen? Sie heißen - ?“

„Montey, Sir. Mrs. King, die Köchin ist noch da. Sonst niemand.“

„Und wer hat immerhin versucht, hier sauber zu machen?“

„D-das war Lady Helen selbst, Sir.“

„Und jetzt ist sie auf dem Weg zum Kontinent, verstehe. Ob sie da ein schönes Leben haben wird?“

„Sie ist nicht auf dem Weg zum Kontinent. Ihr Vater hat sie nicht mitgenommen.“

„Wie bitte? Dann ist sie also noch hier? Kann ich sie dann bitte sprechen?“

„Äh – nein, Sir. Sie ist ebenfalls abgereist. Allerdings mit der Post, ich habe sie selbst zum Crown and Lion gefahren. Ach ja, aber dies soll ich Ihnen übergeben und mir den Empfang quittieren lassen.“ Er überreichte Sir Adam ein kleines Holzkästchen.

Dieser klappte es auf und betrachtete sich die bescheidene Schmucksammlung darin. „Den Rest hat sie doch wohl mitgenommen?“

Montey reckte den Hals und spähte in das Kästchen. „Aber nein, Sir. Das ist – war – Lady Helens gesamter Schmuck. Die Preziosen ihrer Mutter hat der Earl – ich muss es sagen – längst verkauft und verspielt. Ich fürchte, Sie werden hier keinerlei Wertgegenstände mehr finden – außer diesem doch eher bescheidenen Schmuck.“

Sir Adam klappte das Kästchen zu. „Was sollten Sie denn mit der Quittung unternehmen?“

„Nun, Sir, Sie Lady Helen nachschicken, natürlich. Nicht, dass es nachher noch heißt, sie hätte ungesetzlicherweise etwas aus Ihrem Haus entfernt!“

„Sehr lobenswert – aber auch sehr albern“, kommentierte Sir Adam. „Es liegt doch auf der Hand, dass Lady Helen jetzt jeden Penny brauchen wird, der ihr zusteht?“

„Gewiss, Sir, aber sie dachte eben, ihr stehe hier nichts mehr zu. Ich muss zugeben, dass der Earl bestimmt alles, was noch irgendwie zu verkaufen sein könnte, mitgenommen hat, aber Lady Helen hat da eben sehr viel strengere Ansichten.“

„Das spricht für ihren Charakter. Sagen Sie, sind Sie und die Köchin denn überhaupt bezahlt worden? War dafür noch Geld da?“

Montey zuckte die Achseln. „Lady Helen hat uns das Silber angeboten. Es wird wohl nicht ganz leicht sein, das gut zu verkaufen, aber die Geste war doch sehr nett, fanden wir.“

Sir Adam zog sein Portefeuille, erkundigte sich nach dem Jahreslohn und händigte Motley eine entsprechende Summe aus – auch für Mrs. King. „Stellen Sie das Silber lieber wieder zurück, das wird nur kompliziert. Und können Sie zwei Hausmädchen auftreiben? Möglichst sofort?“

Montey strahlte. „Gewiss, Mylord!“

„Ich bin Sir Adam Prentice, kein Lord. Sir genügt also vollkommen. Meinen Sie, bis morgen haben Sie genügend Vorräte herbeigeschafft, dass ich bei Bedarf mit meinem Groom – ein recht verfressenes Subjekt – und meinem Diener hier wohnen kann? Ich denke, ich sollte den Wiederaufbau“ – er kräuselte dabei den Mundwinkel – „ab und zu persönlich überwachen.“

„Ja, Sir! Natürlich, Sir! Eine ausgezeichnete Idee, Sir!“

„Oh, herzlichen Dank, Montey!“, war die trockene Antwort. „Ich werde diese Nacht dann aber erst einmal im Crown and Lion verbringen. Ach – Moment noch: Sie wollten Lady Helen doch die Quittung nachschicken, nicht wahr?“

Montey murmelte etwas vage Zustimmendes.

„Schicken Sie ihr also den Schmuck nach – an welche Adresse übrigens?“

Montey sah seinen neuen Arbeitgeber unbehaglich an. „Das weiß ich noch nicht. Lady Helen wollte mir schreiben, sobald sie eine neue Adresse hat.“

„Wissen Sie, wohin sie mit der Post reisen wollte?“

Montey bestritt jegliche Kenntnis, und Adam seufzte. Wie sollte er das arme Mädchen – nein, die junge Lady – denn auftreiben, um ihr zu helfen? Selbstverständlich ganz diskret, denn offene Unterstützung würde sie wohl nicht annehmen – nach dem, was Montey ihm (eher unfreiwillig) verraten hatte, besaß sie eine gehörige Portion Stolz. Vielleicht verständlich, denn mehr war ihr ja auch nicht mehr geblieben.

4

Miss Linhart hatte sich sehr gefreut, als Helen mit ihrer Reisetasche vor ihrer Tür gestanden hatte, aber das hatte sie schnell unter heftigem Tadel verborgen: Wie konnte Lady Helen denn alleine, mit der Postkutsche obendrein, wie eine gewöhnliche – nun – reisen? Wenn sie nun jemand gesehen hätte? Ihr Ruf? Ihr Ansehen?

Immerhin zog sie gleichzeitig Helen in die kleine Wohnung und umarmte sie herzlich.

„Ach, Linny“, seufzte Helen, „was hätte ich denn sonst tun sollen? Die einzige andere Möglichkeit wäre gewesen, zu Fuß nach London zu pilgern, und das habe ich mir dann doch nicht zugetraut.“

„Du lieber Himmel, nein, natürlich nicht – aber hätte Sie nicht wenigstens die Zofe? ein Hausmädchen? - jemand begleiten können?“

„Linny, ich habe knapp den Fahrpreis für mich zusammenkratzen können und Zofen oder Hausmädchen gibt es auf Norwood Abbey schon lange nicht mehr. Vater hat doch alles verspielt! Und jetzt auch das Haus…“

Miss Linhart sank auf einen Stuhl, die Augen weit aufgerissen. „Was! Und wo bitte ist er jetzt? Oh, er hat sich doch nicht etwa -?“

„Erschossen? Aber nein, das entspricht wohl nicht seinem Charakter. Er hat sich nach dem Kontinent abgesetzt.“ Sie starrte vor sich hin, dann sah sie Miss Linhart kriegerisch an: „Und will ihn nie, nie wiedersehen!“

„Aber Kindchen – Verzeihung, Lady Helen! So kann man doch nicht über seinen Vater sprechen!“

„Als er gegangen ist, hat er mit keinem Wort gefragt, was ich zu tun gedächte. Es war ihm schlicht und einfach vollkommen gleichgültig! Es tut mir leid, wenn das deine Gefühle verletzt, Linny, aber das verzeihe ich ihm nicht.“

Linny erhob sich wieder und nahm Helen fest in den Arm. „Das kann ich dann wirklich verstehen. Und jetzt bleiben Sie bei mir. Ich sorge für Sie, und es wird genauso sein wie früher.“

„Das ist so lieb von dir, Linny. Sag doch bitte Kindchen zu mir, wie früher, und du – aber ich suche mir natürlich so schnell wie möglich eine Stelle. Schließlich kannst du mich doch nicht ewig durchfüttern!“

„Aber La – Kindchen, eine Stelle? Eine Lady Helen Norwood kann doch nicht für fremde Leute arbeiten! Für uns beide reicht meine kleine Rente allerdings wohl nicht… Und als was möchtest du denn überhaupt arbeiten?“

„Das weiß ich auch noch nicht“, gestand Helen. „Vater hatte ja gemeint, als Stubenmädchen, immerhin habe ich in der Abbey abgestaubt – aber ich dachte, vielleicht als Gouvernante?“

„Das kann ein hartes Brot sein, Kindchen – und du hast doch gar keine Erfahrung mit Kindern. Möchtest du zu einer guten Agentur gehen, die dich vermitteln soll? Oder möchtest du dich erst einmal mit einer lieben Freundin von mir unterhalten, die früher auch einmal Gouvernante war?“

„Das wäre wohl eine vernünftige Idee…“, überlegte Helen. „Ich bin so froh, dass ich zu dir gekommen bin!“

„Nun, in der Abbey hättest du unter diesen Umständen auch nicht bleiben können, das hätte sich gar nicht geschickt, mit diesem Mann unter einem Dach, ohne Chaperon… wer ist überhaupt dieser unmögliche Mensch, der deinem Vater den Familiensitz abgenommen hat?“

„Das weiß ich gar nicht“, musste Helen zugeben, „aber ich bin ihm nicht böse. Linny, du kanntest doch meinen Vater auch! Wenn er spielen wollte, dann spielte er auch. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie er – wo auch immer – diesen Fremden so lange bedrängt hat, bis er zu einem Spiel bereit war. Und Lionel – du erinnerst dich an Lionel? – hat mir einmal erzählt, dass Vater immer nur Hazard spielt. Es gäbe ja auch Kartenspiele, bei denen man ein gewisses Geschick einsetzen kann, seinen Witz gegen den eines anderen ausspielen – aber Würfel? Das kann man ja gar nicht beeinflussen!“

Miss Linhart umarmte Helen fest. „Sicher, meine Liebe, du hast gewiss Recht – nur, Lionel hat zwar die Karten bevorzugt, aber was hat ihm das genützt?“

Helen seufzte. „Wohl wahr – Vater lebt wenigstens noch, und Lionel ist tot… aber haben ihn die Karten umgebracht oder sein loses Mundwerk? Soweit wir vor drei Jahren erfahren haben, hat er sich ganz sinnlos mit seinem Spielpartner auf einen Streit eingelassen und diesen so schandbar beleidigt, dass er gar nicht umhin konnte, als ihn zu fordern. Als Sir William vom Kontinent zurückgekommen war, hat er sich wirklich bei uns entschuldigt. Vater hat das natürlich nicht angenommen, aber ich schon."

Miss Linhart lächelte. „Und dieser Sir William, Kindchen? Ein netter Mann?“

„Ja, durchaus. Ich glaube, seine Frau und seine Kinder haben während seiner Verbannung auf den Kontinent sehr gelitten, aber er konnte wirklich nichts dafür, dass Lionel… anscheinend hat Lionel nicht einmal fair gekämpft, das konnten die Sekundanten bestätigen… aber so genau weiß ich in diesen Angelegenheiten nicht Bescheid.“

Miss Linhart tätschelte ihren Arm. „Das sind auch Dinge, die nur die Gentlemen betreffen, Kindchen. Sag einmal, die beste Lösung wäre doch, wenn du heiraten würdest. War denn da noch gar nichts geplant?“

Helen zuckte mutlos die Achseln. „Nichts Festes. Vater hatte da etwas mit dem Earl of Worley ins Auge gefasst, was seinen Enkel, Lord Bernard, betrifft. Aber die Familie Tamlin ist, soweit ich weiß, finanziell nicht besonders – naja. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lord Bernard noch interessiert ist, wenn ich jetzt doch mittellos bin.“

„Schade, das wäre doch eine recht annehmbare Verbindung gewesen?“

Helen schauderte. „Kaum. Ich schätze Lord Bernard nicht besonders. Ein Mann, der nur an seinen eigenen Vorteil und sein Vergnügen denkt. Ich habe ihn zwar nur vielleicht drei- oder viermal gesehen, aber er ist leicht zu durchschauen.“

Miss Linhart tätschelte sie wieder. „Wirklich traurig, meine Liebe – aber meinst du nicht, dass die meisten Ehemänner – nun – ihre Schattenseiten haben? Es geht doch mehr darum, angemessen versorgt zu sein – und du bist immerhin auch schon - ?“

„Dreiundzwanzig“, gab Helen zu. „Übriggeblieben, ich weiß. Wie denn auch nicht, ohne Saison? Vater hat für mich nie Geld ausgegeben. Nur für sein Spiel… Nun, jetzt ist es zu spät. Ich bin über das Heiratsalter hinaus und habe keine Mitgift mehr. Aber was nützt es, zu jammern? Ich würde gerne deine Freundin kennenlernen und etwas über die Aufgaben einer Gouvernante lernen. Und wenn ich mich hier auf irgendeine Weise nützlich machen kann, dann bitte, zögere nicht, es mir zu sagen. Ich möchte dir doch nicht lästig fallen!“

5

Sir Adam hatte auf seinem eigenen Landsitz Oakwood nach dem Rechten gesehen und beschloss nun, die zwanzig Meilen nach Norwood Abbey zu fahren und zu sehen, was sich dort bisher getan hatte.

Montey öffnete ihm und schien sich über sein Kommen zu freuen. Sir Adam trat ein und schnupperte vorsichtig: Es roch eindeutig besser als beim letzten Mal. Weniger staubig auf jeden Fall.

„Ah, man spürt schon Verbesserungen… Montey, was haben Sie bis jetzt unternommen?“

„Ich habe zwei Stubenmädchen engagiert, die, wie ich mir schmeichle, im Erdgeschoss schon recht hübsche Fortschritte erzielt haben, Sir, und wir haben vor allem das Schlafzimmer des Herrn einer gründlichen Renovierung unterzogen und die Vorräte aufgefüllt. Wenn Sie hier Wohnung nehmen möchten, Sir, können wir Sie, denke ich, schon recht erträglich beherbergen.“

Sir Adam dankte ihm und sah sich weiter um. Was er mit der Abbey anfangen sollte, wusste er eigentlich auch nicht. Oakwood hatte ihm, obwohl es eher klein und düster war, bis jetzt durchaus genügt – und für seine Interessen war ein einigermaßen komfortables Stadthaus in London viel wichtiger; Handel und Wandel fanden schließlich vor allem dort statt!

Andererseits war Norwood Abbey ein Besitz, der Pflege verdiente, ein Tudorbau, der auf den Resten eines mittelalterlichen Klosters erbaut und offenbar kurz nach der Erbauung bereits säkularisiert worden war. Das Ergebnis wirkte verblüffend harmonisch – der Orden, der hier nicht lange seine Heimat gehabt hatte, hatte sich sicher schwer damit getan, das Kloster zu verlassen. Andererseits hatten sie unter König Heinrich sicher froh sein können, das nackte Leben zu retten…

Er sollte sich vielleicht bei Gelegenheit einmal mit der Geschichte der Familie Norwood befassen, überlegte er. In der feinen Gesellschaft des Landes wusste natürlich jede Familie von der anderen, seit wann sie welche Titel trug und welche Besitzungen ihr eigen nannte, aber er selbst spürte jetzt wieder, dass er doch eine Art Außenseiter war, der für solche Feinheiten wenig Gespür besaß. Genau genommen war sein Interesse an solchen Fragen auch nicht übermäßig ausgeprägt, er fand das Kreisen um Adelsfragen eher etwas albern und unzeitgemäß: Was bedeutete es angesichts politischer Umwälzungen, technischer Erfindungen und wirtschaftlicher Fortschritte schon, dass dieser oder jener Edelmann seine Abstammung auf einen normannischen Halbwilden zurückführen konnte?

Aber die Abbey war schön. Schöner als Oakwood, musste er zugeben. Obwohl das nicht gerade schwer zu bewerkstelligen war, denn Oakwood war nichts, was man gesehen haben musste – eher klein, durch die winzigen Fenster eben ziemlich düster, schwer heizbar und auch landschaftlich nicht übermäßig schön gelegen. Eigentlich seltsam, denn es war kaum mehr als eine Stunde zu Pferd von der Abbey entfernt, und die Abbey lag sehr reizvoll in der leicht hügeligen Landschaft.

Vielleicht lag es an dem finster bewaldeten Bergrücken, der unmittelbar hinter den Oakwoodschen Salonfenstern aufzuragen schien. Deprimierend.

Nun, er würde die Abbey, ihre Geschichte und die Geschichte der Norwoods ebenso im Auge behalten wie das Schicksal von Helen Norwood, auch wenn er im Moment noch nicht so recht wusste, wie er sie finden sollte.

6

Helen hatte sich sehr schnell bei Linny eingelebt und durchaus erkannt, dass diese über nur sehr geringe Mittel verfügte und sich durch feine Stickereien etwas hinzuverdiente. Allerdings war Helen selbst wirklich nicht gerade verwöhnt, denn die Norwoodschen Finanzen waren auch schon lange am Ende gewesen und man hatte in der Abbey – vor allem, wenn der Hausherr in London weilte, also nahezu ständig – von der Hand in den Mund gelebt. Außerdem hatte Miss Linhart seinerzeit auch der kleinen Helen die Kunst feiner Stickereien beigebracht, so dass sie nun – nach anfänglichen Protesten der Gastgeberin - einträchtig beieinander saßen und die Borten stickten, für die Madame Angéliques begehrte Kreationen berühmt waren.

Die Sonne fiel schwach durch die dünnen Vorhänge, die bescheidenen Möbel dufteten nach dem Bienenwachs, mit dem Linny sie poliert hatte, und Helen fand es hier viel, viel schöner und angenehmer als jemals in der Abbey, was sie ihrer ehemaligen Gouvernante auch sofort mitteilte.

„Ach Kindchen!“, mahnte Linny, ganz Gouvernante, sofort. „In Norwood Abbey warst du aber doch Lady Helen, angesehen in der besten Gesellschaft – und jetzt?“

„Lady Helen“, murmelte Helen, „und was hat mir das genützt? Ich ging ja nicht in Gesellschaft, weil sich mein Vater dafür nicht interessierte, wir hatten keinen Kontakt zu den Nachbarn, denn dann hätten wir sie schließlich auch einladen müssen und die Aufwendungen dafür hätten meinem Vater dann nur am Spieltisch gefehlt, die Abbey verkam immer mehr, weil wir kaum noch Personal hatten, und Geld gab es auch nicht. Ich glaube, hier bei dir habe ich zum ersten Mal seit Jahren ein Stück Fleisch bekommen. In der Abbey gab es das Brot, das Mrs. King gebacken hatte, und das Gemüse, das wir an einer versteckten Ecke des Parks angebaut hatten. Und ich kam mit dem Staubwischen und Ausfegen schon im Erdgeschoss und dem ersten Stock kaum hinterher. Hier fühle ich mich jetzt richtig verwöhnt. Am liebsten würde ich immer bei dir bleiben!“

Miss Linhart seufzte. „Kindchen, Helen… das rührt mich sehr, aber du weißt doch: Ich bin nicht mehr die Jüngste. Wenn ich eines Tages einmal nicht mehr sein sollte, was soll dann aus dir werden? Meine kleine Rente würde dann auch erlöschen.“

Helen seufzte ebenfalls. „Ich weiß es ja. Nein, ich werde natürlich versuchen, als Gouvernante ein sicheres Auskommen zu finden. Linny, woher hast du diese Rente eigentlich?“

Miss Linhart lächelte gedankenverloren. „Ach ja… bevor ich mich um dich gekümmert habe, war ich bei einem Witwer, dessen kleinen Sohn ich betreut und erzogen habe, bis es für ihn Zeit war, in die Schule zu gehen, nach Harrow. Und dieser Witwer war der Ansicht, ich hätte seinem Sohn sehr schön die Mutter ersetzt, also war er mir dankbar und hat mir eine Rente ausgesetzt. Solange ich danach auf Norwood Abbey lebte, konnte ich davon etwas ansparen – sehr beruhigend, mein Kind! – und danach fand ich, dass ich alt genug sei, um mich in ein bescheidenes eigenes Leben zurückzuziehen. Und hier sitze ich nun.“

„Hier sitzt du nun“, wiederholte Helen. „Mir hast du auch die Mutter ersetzt, du Liebe, Gute. Aber mein Vater hat höchstens versucht, an deinem Lohn zu sparen. Ich weiß, das ist untöchterlich, aber ich kann ihn nicht leiden. Er ist ein schlechter Mensch – und ich hoffe, er kommt nie zurück!“

Miss Linhart lächelte. „Untöchterlich – aber verständlich. Ich fürchte, er hat dich wirklich schandbar behandelt und seine Pflichten aufs Gröbste vernachlässigt!“ Als sei sie damit zu weit gegangen, senkte sie sittsam den Blick wieder auf ihre Stickerei. „Heute Nachmittag werde ich die Borten, die wir schon fertiggestellt haben, bei Madame Angélique abliefern.“

„Das kann ich doch tun, Linny, dann kannst du dich einmal ausruhen“, schlug Helen vor. Sie freute sich auch darauf, einmal durch die aufregenden Straßen Londons zu gehen, denn noch kannte sie nur den Weg von der Poststation zur Wohnung von Miss Linhart.

Diese zweifelte, ob dies ein guter Plan sei. „Kind, du weißt ja gar nicht, wie gefährlich das sein kann! Es gibt dort Diebe und Räuber und alleinstehende – äh - Herren. Sie könnten dich sehr unehrerbietig ansprechen, hast du keine Angst davor?“

„Nein“, antwortete Helen zuversichtlich. „Sie werden ein harmloses Dienstmädchen kaum beachten. Du kannst mir doch sicher ein Häubchen leihen?“

7

Sir Adam lehnte sich zufrieden zurück und legte die Feder zur Seite, mit der er gerade für seinen Sekretär einige Anweisungen notiert hatte. Ja, die neuen Maschinen für die Textilfabrik im Norden würden die Produktion gewiss erhöhen – und er war sicher, sie einsetzen zu können, ohne Arbeiter zu entlassen. Im Gegenteil, die Gegend bot wenig Gelegenheit zur Arbeit, der feuchte Boden war auch wegen der häufigen Überschwemmungen landwirtschaftlich nicht allzu ergiebig. Da verschaffte eine der wenigen neuartigen Fabriken den Bewohnern eine vernünftige Möglichkeit, sich und ihre Familien zu ernähren. Wenn man keine Hungerlöhne zahlte, hieß das freilich.

Den Damm im Osten sollte er noch besser befestigen lassen, überlegte er und notierte sich dazu einige Gedanken. Ja, und in diesen neugegründeten Fonds wollte er auch investieren; Kanalbau und Straßenbau waren für England dringend notwendig und würden die Transportmöglichkeiten englischer Waren auch zu den Seehäfen gewaltig verbessern. Dieses Unterfangen konnte Kapital brauchen und würde bestimmt auch angemessene Gewinne erzeugen.

Er lächelte. Von den Gewinnen könnte er zum Beispiel Norwood Abbey wieder in den alten Glanz versetzen lassen…

Die geflohene Lady Helen hatte er bis jetzt allerdings noch nicht aufspüren können. Die einzige dürftige Information hatte er von Butler Montey erhalten – das Mädchen hatte sich zur Poststation begeben.

Sie konnte ihrem Vater auf den Kontinent gefolgt sein, aber das bezweifelte er eigentlich – wer sollte einem Vater, der einen so im Stich gelassen hatte, auch noch nachlaufen? Natürlich wusste er nicht, wie eine junge Dame darüber dachte, die ja nicht dazu erzogen worden war, für sich selbst einzutreten, aber das, was er bisher – von Montey – über Lady Helen gehört hatte, sprach dafür, dass sie über eine gewisse Energie verfügte.

Die andere Möglichkeit bedeutete aber, dass sie nach London gereist war, denn Angehörige besaß sie im ganzen Land nicht mehr, das hatte er feststellen können. Ihm schauderte bei dem Gedanken, was aus einer vornehmen jungen Dame werden konnte, die in der wüsten Hauptstadt ohne Geld auf sich alleine gestellt war.

Aber vielleicht wusste der Familienanwalt etwas? Die Übertragung von Norwood Abbey hatte zwar brieflich stattgefunden, aber er hatte ja die Adresse.

Er klingelte und bat den eintretenden Diener, Mr. Rathesom zu ihm zu schicken.

James Rathesom, sein junger Sekretär, trat nur wenige Momente später ein und verbeugte sich ehrerbietig.

„James, setzen Sie sich bitte mit dem Anwalt Northburys in Verbindung und erfragen Sie, ob er etwas über den Verbleib von Lady Helen Norwood aussagen kann. Sie dürfen gerne andeuten, dass wir der Lady in ihrer prekären Lage behilflich sein wollen – in allen Ehren natürlich.“ Er grinste dem Sekretär etwas schief zu, und dieser lächelte zurück, dann nickte er. „Ich werde mich unverzüglich darum kümmern. Haben Sie sonst noch einen Auftrag für mich, Sir?“

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