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Читать книгу: «Bis an die Grenze», страница 5

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II

Die Jahre vergingen, und wie an allen kleinen Orten der Welt, so hinterließ auch in der kleinen Stadt die Zeit an den Dingen und Menschen nur leise Spuren, gleichsam als käme sie hier nur dann und wann vorüber, stets genugsam damit beschäftigt, in den großen Städten die Dinge zu zerstören und wieder aufzubauen.

Mit zwanzig Jahren bewahrte Gavina noch immer den stolzen und traurigen Ausdruck, den sie schon als Schulmädchen gehabt, wie ihr schwarzes Kopftuch, ihre schlecht geschnittenen und schlechter genähten Kleider. Auch ihre Seele veränderte sich nicht; nur ihr religiöses Empfinden war tiefer, ruhiger, vernünftiger geworden, und sie selbst, die es fortwährend genau prüfte, erachtete es als vortrefflich. Der einzige Grund zu leben, bestand für sie darin, nicht zu sündigen.

Und ihre Tage schwanden gleichmäßig dahin, wie die Blumenblätter sich, eines nach dem andern, von der verblühten Rose lösen. Nur das jeweilige Pochen des Postboten an der Haustür vermochte sie aus dem Halbschlummer aufzurütteln, in dem sie dahinlebte. Laut, wie zornig, hallten die Schläge der eisernen Hand durch das stille Haus; der da pochte, kam von weit her, trug in seiner Tasche die Kunde aus der Welt der Lebenden und klopfte an die Türen der Schlummernden. Dann eilte Gavina selbst zu öffnen. Sie erhielt kleine Zeitschriften mit Gedichten von Francesco Fais und Postkarten mit römischen Ansichten, die mit einem ganz kleinen, fast immer zwischen Ruinen verborgenen »P« gezeichnet waren. Als sie die erste dieser Karten bekommen hatte, war sie tief erschrocken; der einfache Konsonant war ihr vorgekommen wie ein Feind im Hinterhalt, und sie hatte es ihrem Beichtvater gesagt. Er hatte gefragt, ob die Karten »verliebte Worte« oder »zärtliche Grüße« enthielten. Nein, Hochwürden! Also dann brauchte sie keine Angst zu haben: das waren nur kleine Äußerungen der Eitelkeit eines jungen Menschen, der, um Theologie zu studieren, in Rom lebte und das zu wissen tun wollte. Und sie gab sich mit dieser Auslegung zufrieden, obwohl sie sich bewußt war, daß der Beichtvater sie täuschen wollte, wie sie schon ihn und sich selbst täuschte.

Weniger als diese Karten beunruhigten sie die Poesien Francesco Fais’, obwohl diese verliebte Worte und mehr als zärtliche Grüße enthielten.

Einmal sandte er ihr auch ein Blatt, in dem er begeistert gerühmt wurde. »Fast nie spricht dieser junge Dichter von sich – so sagte der Rezensent – und doch empfindet man in seinen Dichtungen seine ganze starke, hochgemute Persönlichkeit. Die Bilder, die er uns vorführt, sehen wir in ungewöhnlicher Klarheit, wie beim Schein der Morgen- oder Abendröte. Er sieht alles schön: er ist ein Dichter, der das Leben leidenschaftlich liebt, und für den alles eine Quelle der Freude und Bewunderung bildet. Den Schmerz kennt er nicht; er scheint es zu fühlen, daß nichts seinen Weg zur Glückseligkeit aufzuhalten vermag. Und darum wird er ein Sieger sein, einer von den wenigen »Herren der Welt« usw.

Auch Michela und der Kanonikus Sulis bekamen den Artikel zu lesen, und eines Abends bei Gavina wurde er lebhaft erörtert. Während Michela behauptete, ihr ehemaliger Mieter sei bereits ein berühmter, einflußreicher Mann, schnaubte der Kanonikus vor Wut und fragte: »Was will denn der Bursche werden? Arzt? Wie kann er dann Verse machen? Die ärztliche Kunst ist eine ernste und keine lustige!«

»Nun, er wird Bezirksarzt werden, und dann bleibt ihm Zeit genug übrig«, spottete Gavina.

»Bezirksarzt? Der wird noch Leibarzt des Königs!« weissagte Michela.

Gavina lachte. Der Kanonikus Sulis mußte zwar einräumen, daß alle Francesco als Dichter sowohl wie als künftigen Gelehrten priesen, aber er knüpfte daran die Nutzanwendung, daß ein von seinesgleichen hochgelobter Mann häufig ein moralisch verkommener Mensch sei, und führte Nebukadnezar und andere biblische Berühmtheiten als Beispiele an.

Um diese Zeit trat ein neuer Anbeter Gavinas auf den Plan, der, weniger geduldig und schüchtern als Francesco, ihr einen Heiratsantrag machte. Es war ein Infanteriehauptmann von nahezu vierzig Jahren, klein und untersetzt, mit einem vollen, frischen Kindergesicht. Er hatte Gavina in der Kirche gesehen und erfahren, daß sie das reichste Mädchen der Stadt sei.

So schmeichelhaft der Antrag für sie war, lehnte sie ihn doch ab. Die Nachbarn aber, die den Hauptmann immer wieder vorübergehen sahen, behaupteten, die Heirat wäre eine abgemachte Sache. Und eines Abends ertönte wiederum das verhängnisvolle Pochen an Gavinas Tür, und der Postbote brachte ihr einen Brief, in dem das kleine »P« sich groß und drohend darstellte, gleich einem unversehens aus seinem Versteck hervorkommenden Feind.

»Gavina, denke an Dein Versprechen! Solltest Du es vergessen – ich werde es nicht vergessen. Ich lebe nur von dieser Erinnerung und bin immer der selbe wie an jenem Tage im Weinberg . . . Wenn Du nicht die Meine sein willst, so darfst Du auch keinem Andern angehören. Diesen Schwur wirst Du halten! Ich rufe ihn Dir jetzt ins Gedächtnis zurück, weil Du ihn vergessen zu haben scheinst.«

Sie begriff. Er forderte von ihr das selbe nutzlose Opfer, das andere ihm auferlegten: für immer getrennt, sollten sie dennoch durch die gleiche Verurteilung geeint sein. Da er nichts anderes forderte, regte sie sich nicht darüber auf; alle Tage aber stand sie in der Dämmerung am Fenster und erwartete das Vorüberkommen des Postboten. Lange Stunden vergeblichen Harrens und unbestimmter Melancholie waren das. Unter dem lilagrauen, im Westen goldig leuchtenden Himmel lag die Straße so einsam wie die einer kleinen Totenstadt. Der Postbote kam nicht, oder er ging, ohne anzuhalten, vorüber, mit seinem raschen Schritt und seiner grellfarbigen Tasche: eine einzige Regung von Leben – dann wieder Todesschlaf. Gavina ging dann an das Gartenfenster hinüber und begann ihre endlose Reihe von requiem aeternam, die die Lippen jetzt gewohnheitsmäßig hersagten. Auch dort nahm das Landschaftsbild violette und graue Tinten an, und selbst die Berge schienen eingeschlafen; das Gezirp der Grillen allein erklang wie die Klage der von den Raupen und dem Staube zernagten Pflanzenwelt.

Und wenn Gavinas Blicke dann auf der violetten Mauer der Berge ruhten, geschah es wohl, daß, obzwar ihre Lippen Totengebete murmelten, ihr der Gedanke an die Welt der Lebenden kam, die dort drüben lag, jenseit des weiten, durch die Berge abgeschlossenen Friedhofs. Was tat Priamo in jener Welt? Sie stellte sich ihn inmitten einer seltsamen, bunten, lärmenden Menge vor, in einer breiten, von warmem Licht überfluteten Straße. Was sie für ihn fühlte, wußte sie nicht zu definieren. Liebe? Nein, Liebe war es gewiß nicht: sie liebte ihn nicht, sie liebte niemanden. Die Erinnerung an Priamo ruhte so traurig und kalt in ihrem Kerzen wie ein Leichnam in seinem Grabe.

Eines Abends, im August, als sie an ihrem Fenster träumte, kam Paska sie zu rufen, weil ein Besuch gekommen sei. Es war Francesco Fais. Sobald er sie sah, blickte er ihr in die Augen mit einem Blick, der ihr bis ins Innerste drang, ohne sie jedoch zu verwirren: so klar und offen war er. Und Francesco fing sogleich an zu scherzen, fühlte ihr den Puls und nannte sie ein »undankbares Mädchen«, weil sie ihm niemals auch nur eine Postkarte gesandt, während er immerfort an sie gedacht habe.

Sie betrachtete ihn, anfänglich ernst und stolz, dann immer spöttischer. Er war eigentlich häßlich, nachlässig gekleidet, mit geschorenem schwarzem, glänzendem Haar, das aussah wie eine Samtkappe. Nur ein leichter schwarzer Flaum zierte die ein wenig vorstehende Oberlippe. Aber wenn er lachte, sah man all seine blendendweißen Zähne, und die Augen leuchteten in dem dunkeln Gesicht, als erstrahlten sie, mehr noch als von innerer Klarheit, von einem Abglanz der äußeren Welt. Alle Dinge um ihn her erschienen gleichsam heiter, alles schien Licht und Wärme auszuströmen, und diese Wärme atmete er mit zitternden Nasenflügeln, mit halbgeöffneten, stets zum Lachen bereiten Lippen. Er fragte nach Luca, wollte von allen hören, und sprach dann auch von seinen Plänen für die Zukunft, sagte, er habe die Absicht, sich, sobald er sein Doktorexamen gemacht haben werde, in der kleinen Stadt niederzulassen.

»Michela meinte, Sie wollten nach Rom gehen?«

»Ja, ich will mich um eine Assistentenstelle an einem Hospital bewerben, aber es ist schwer dort anzukommen.«

»Für Sie? Für Sie ist doch alles leicht«, erwiderte sie, immer ein wenig spöttisch. »Sie werden immer siegen, wie jene Zeitschrift sagte. Gehen Sie doch ja in eine große Stadt!«

»Bitte, spotten Sie nicht!« sagte er errötend. »Ich werde doch nichts weiter sein als ein Schwärmer, eine Rakete . . . erinnern Sie sich noch?«

»Was? Eine Rakete?« Sie tat, als erinnerte sie sich nicht, und er drang nicht weiter in sie. Doch obwohl sie ihn kühl und fast mit Geringschätzung aufgenommen hatte, verließ er sie lächelnd, glücklich.

Bald darauf kam er mit Luca wieder, der ihn in den Keller führte und ihm zu trinken bot. Vom Garten aus hörte Gavina ihr Gespräch.

Luca klagte, er sei krank, und manche Nacht glaube er zu ersticken. »Und das kommt nur davon, daß sie mich hier im Hause schlecht behandeln«, setzte er hinzu. »Aber ich will mein Erbteil haben, und dann will ich fort von hier und ruhig für mich arbeiten. Wenn ich nicht mehr all’ den Ärger habe, dann kann ich arbeiten und ein reicher Mann werden. Hier habe ich nie Ruhe, und mein Kopf brennt mir fortwährend wie ein Backofen. Du mußt mir ein Mittel dagegen sagen, und dann, sobald ich besser bin, gehe ich fort. Du kannst es meiner Mutter sagen und auch, daß sie mir meinen Teil herausgeben soll . . .«

»Und mir den andern«, entgegnete Francesco lachend.

Gavina bebte vor Ärger, und das weniger um der albernen Reden Lucas willen, als wegen des scherzhaften Tones des Studenten.

In den folgenden Tagen waren die Beiden häufig beisammen, und es schien fast, daß Francesco die Klagen Lucas mit lebhafter Teilnahme anhörte.

Eines Abends sagte Gavina zu Michela, während sie zum Brunnen hinuntergingen: »Sag’ doch dem Signor Fais, er solle es aufgeben, Luca zum besten zu haben!«

»Und kannst du ihm das nicht selbst sagen? Er kommt doch oft genug zu euch«, entgegnete die andere ärgerlich.

»Er kommt, um sich über uns lustig zu machen!«

»Da irrst du dich! Er kommt deinetwegen. Darum allein ist er hierhergekommen!«

»Aber Gavina Sulis ist kein Brot für seine Zähne!« mischte Paska sich ein. »Sie wird einen Unterpräfekten heiraten und keinen hungrigen Quacksalber.«

Michela war gereizt. »Ist er hungrig, so wirst du ihn nicht satt machen, du alte Haut!« sagte sie zu der Magd. »Er wird mehr werden als Unterpräfekt, wenn er will! Du sollst sehen, der wird noch Abgeordneter und Minister!«

»Morgen, ja, wirklich morgen!«

»Und wird seine Mutter wenigstens dann Schuhe tragen?« fragte Gavina boshaft.

Paska lachte aus vollem Halse, und da Michela nicht einlenkte, sagte sie zu dieser: »Aber bist du in ihn verliebt? Dann nimm du ihn doch und laß dir das Juwel ja nicht entgehen! Gavina mag ihn nicht, nicht einmal um ihn in die Besenecke zu stellen. Gavina heiratet einen Adligen, einen Reichen, einen Senator, und dann kommt sie nach Rom, ja, an den Hof des Königs!«

Michela fing an zu weinen vor Ärger – Gavina lachte; aber es war ein Lachen, das trauriger klang als Michelas Weinen.

In der selben Nacht wurde sie durch einen seltsamen Schrei geweckt, der wie ein Schmerzensschrei klang. Im Hemd eilte sie auf den Flur und lauschte zitternd. Der Schrei wiederholte sich und kam aus Lucas Zimmer; sie dachte, es sei jemand dort eingedrungen und habe ihren Bruder überfallen. Sie wollte ihm zu Hilfe eilen, doch die Tür war verschlossen, und Gavina klopfte und schrie, ganz erschrocken.

Halb bekleidet kamen die Mutter und Paska die Treppe herauf, versuchten umsonst die Tür zu öffnen und riefen Luca. Endlich öffnete er: sein Gesicht war leichenfahl, und in den weit aufgerissenen Augen lag der Ausdruck wahnsinnigen Entsetzens. Kaum bemerkte er Gavina, so wich er zurück und flüchtete sich hinter seine Mutter. Am ganzen Leibe zitternd, stammelte er: »Da ist sie . . . da . . . sie wollte mich umbringen . . .«

»Luca, du bist toll«, schrie sie, während die beiden Frauen sie erschrocken anstarrten.

»Ja, sie . . . sie«, behauptete er von neuem, ohne Gavina anzusehen. »Sie hatte ein Messer in der Hand, das hat sie unter das Bett geworfen. Da . . . da . . . weiter hinten . . . sucht nur!«

Paska blickte wirklich unter das Bett – und Gavina schrie auf vor Zorn und Schmerz. »Du Närrin! was suchst du da? Siehst du nicht, daß er verrückt ist?«

»Geh, Gavina!« sagte die Mutter.

Sie verließ das Zimmer, blieb aber lauschend bei der Tür stehen: die beiden Frauen überredeten Luca sich wieder hinzulegen, und dann fing er an mit einem Ton herzzerreißender Wahrheit zu erzählen, Gavina sei in sein Zimmer eingedrungen, während er schlief, und habe ihn mit einem Messer bedroht.

»Ich sage euch, es liegt hier unter dem Bett! Sucht es . . . aber so sucht es doch!« wiederholte er, böse werdend, »sonst wird sie es noch einmal versuchen, mich umzubringen! . . . Laßt mich nur nicht allein, nein, nein, verlaßt mich nicht . . .«

Gavina, draußen an der Tür, weinte. Noch einmal versuchte sie einzutreten, um Luca zu beruhigen; doch sobald er sie sah, wurde er aufs neue von heftigstem Schrecken befallen und faßte die Hand seiner Mutter wie ein furchtsames Kind.

»Sollen wir den Doktor rufen?« fragte Signora Zoseppa.

»Ich bin doch nicht krank I« erklärte er. »Das fehlte gerade noch, zu sagen, ich wäre krank! Nein, nein . . . Ihr wollt mich wohl vergiften, um sie zu retten . . .«

Da hatte Paska einen guten Gedanken: sie schlug vor, Francesco Fais zu rufen. Aber während sie hinunterging, hielt Gavina sie an: »Nein, du sollst Francesco nicht rufen! Er würde über uns spotten! Das will ich nicht!«

»Also du willst deinen Bruder lieber sterben lassen?« sagte Paska.

Gavina bestand nicht länger auf ihrer Weigerung. Die Hände ringend, kehrte sie in ihr Zimmer zurück und trat an ihr Gartenfenster; sie meinte, sie müsse ersticken vor Leid und Scham: was würde Francesco denken, wenn er Lucas Anklage hörte?

Die Nacht da draußen war rein und lind, und der Mond beleuchtete die Berge so hell, daß an den nächsten Hängen die Schatten der Felsen sichtbar waren; die entfernteren Höhenzüge zeichneten sich nur in blauen Linien auf dem Himmel von lichterem Blau ab. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte Gavina sich, jene phantastische Mauer zu überschreiten und in der Ferne Frieden zu suchen. Sie fühlte Mitleid mit Luca, aber dieses Gefühl war ihr so neu, daß es sie fast ebenso beunruhigte wie ihre gewohnten Gewissensbisse.

Sie hörte Francesco die Treppe heraufkommen und in Lucas Zimmer gehen – aber sie hatte nicht den Mut, an der Tür zu horchen. Ihr Herz klopfte heftig, vor Scham und vor Kummer: sie meinte, der Student müsse den Worten Lucas Glauben schenken.

Francesco bat dann, sie sprechen zu dürfen, und sie empfing ihn in ihrem nur vom Monde erhellten Zimmer, unbeweglich am offenen Fenster lehnend.

»Haben Sie sich sehr erschrocken?« fragte er, ohne sich ihr zu nähern.

»Wie sollte ich nicht erschrecken? Ich hörte ihn schreien als ob er umgebracht Würde und eilte an feine Tür; aber er öffnete erst als die Mutter heraufkam. Und da sagte er, ich . . . ich habe ihn töten wollen! Ich . . . verstehen Sie? Warum denn ich?«

»Es ist ein Anfall von delirium tremens, und wird vorübergehen. Beruhigen Sie sich und legen Sie sich nieder!« sagte Francesco bittend, da es ihn bekümmerte, Gavina so erregt zu sehen. »Und lassen Sie sich nicht vor ihm sehen!«

»Aber was habe ich ihm getan? Warum sagt er so etwas? Ich bin nie schlecht gegen ihn gewesen! Er . . . er allein ist die Ursache seines Unglücks . . . und des unseren!«

»Denken Sie jetzt nicht daran! Die Ursache . . . die Ursache . . .« murmelte er, indem er einen Augenblick den Kopf senkte und auf seine Hände blickte. »Nicht wir sind die Ursache unserer Leiden . . . Sehen Sie jetzt zu Bett, Gavina, und beruhigen Sie sich!«

Er näherte sich ihr, als wolle er sie zwingen, ihm zu gehorchen; doch sie hatte sich schon beruhigt, und ihr Gesicht hatte seinen gewohnten stolzen Ausdruck angenommen.

»Aber ich bin ja ruhig, und jetzt will ich mich niederlegen. Ich fürchtete, Luca wäre wahnsinnig geworben. Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie jetzt hinunter.«

Er ließ es geschehen, doch auf der Treppe wiederholte er nochmals: »Gehen Sie gleich zu Bett!«

Der Hausflur war von einer Öllampe erhellt, die Paska in der Eile auf den Boden gestellt hatte. Es schien, daß Francesco noch etwas sagen wollte: er zögerte, bewegte die Lippen, konnte aber nicht sprechen.

»Gute Nacht! Ich danke Ihnen!« sagte Gavina, als er ging. »Bitte, sagen Sie mir noch, ist es nicht nötig den Arzt zu rufen?«

»Für jetzt nicht Später werden wir sehen: ich komme in der Frühe wieder.«

Ganz früh kam er. Luca schlief, die Hand der Mutter in der seinen. Auch um acht schlief er noch. Bei seinem dritten Besuch aber befahl Francesco ihn zu wecken, um ihm eine schlaflose Nacht zu ersparen. Den Nest des Tages blieb er bei dem Kranken. Gavina ließ sich nicht sehen. Jedesmal, wenn die Türe aufging, zuckte Luca zusammen, aber er kam nicht wieder auf seine wahnsinnige Anklage gegen die Schwester zurück. Gegen Abend ging es ihm bedeutend besser, und nur beim Einschlafen kam ihm noch einmal eine Anwandlung von Schrecken.

Francesco empfahl, ihn auf das Land zu bringen, wenigstens für einige Tage.

»Dann wollen wir in den Weinberg gehen«, sagte die Mutter und weinte bei der Erinnerung an ihren letzten Aufenthalt dort.

Gavina und Paska blieben allein im Kaufe. Während der wenigen Tage, die Francesco noch in der Stadt zubrachte, ging er mehrmals zum Weinberg hinauf und brachte allemal Gavina Nachricht von Luca und der Mutter. Gavina empfing ihn, weil sie nicht anders konnte; aber ihr Empfang war fast feindselig, und alle Güte, alle Liebenswürdigkeit, aller Frohsinn Francescos brachen sich an Gavinas Mißstimmung wie die schäumende Woge am Felsenriff.

»Es geht Luca nun wieder gut und er faßt von neuem die besten Vorsätze«, sagte er vor seiner Abreise zu Gavina. »Aber . . . für wie lange? . . . Und Sie? Was werden Sie tun?«

»Ich? Was ich bis jetzt getan habe.«

»Sie müssen daran denken, Ihr Leben anders zu gestalten.«

»Warum? Ich bin mit meinem Leben zufrieden und denke an keine Veränderung.«

Sie dachte in Wirklichkeit stark daran – aber der Gedanke an eine Heirat, und namentlich eine Heirat mit einem Manne, einem jungen Menschen, wie Francesco, der nicht schön, nicht religiös, nicht von guter Familie war, widerstrebte ihr mehr als je. Und doch mußte sie sich regen, zu einem Entschlüsse kommen! Sie wußte das so gut wie einer, der einen schrecklichen Traum hat, sich undeutlich bewußt ist, daß er träumt, und sich aufzurütteln sucht, um den Alp loszuwerden. Und Francescos Worte hafteten in ihrem Geiste.

Wie lange noch? fragte auch sie sich. Und jede Nacht träumte ihr, daß Luca wieder von Wahnvorstellungen heimgesucht sei, und daß sie wieder den mißtrauischen Blick ihrer Mutter auf sich gerichtet sehe . . .

Bevor noch Luca und Signora Zoseppa aus dem Weinberg zurückgekehrt waren, stellte sich eines Tages Zio Sorighe ein und erbot sich, das Hüteramt wieder zu übernehmen. In den sieben Jahren schien er nicht im geringsten verändert und trug noch denselben Quersack auf dem Rücken, mit dem Gavina ihn seinerzeit gleich einem Pilger hatte abziehen sehen.

»Und was habt Ihr während all’ der Jahre getan?« fragte Paska.

»Ich habe gelebt wie ein Kavalier«, erzählte er. »Vor sechs Jahren trat ich in Dienst bei einer reichen Witwe, die mich durchaus heiraten wollte, gegen den Willen einer schon verheirateten Tochter. Aber vor zwei Monaten ist Lussulia, meine Frau, gestorben, und meine Stieftochter tat nichts anderes, als mich kränken und beschimpfen. Da nahm ich meinen Sack wieder auf, wischte mir auf ihrer Schwelle die Schuhsohlen ab und machte mich wieder auf die Wanderschaft. Wer weist . . . wer weist . . .

»Wer weist, ob Ihr nicht eine andere Witwe findet! Dann sucht Euch aber eine aus, die keine Nachkommenschaft hat«, sagte Gavina spöttisch.

Er nahm es nicht übel, sondern bot ihr die Hand und fing sein altes Liedchen an:

 
Dami sa manu, bellita, bellita . . .
 

Dann aber wurde er doch schwermütig: er hatte an allen Türen der kleinen Stadt angeklopft und um Arbeit gebeten; aber niemand wollte ihn – er war zu alt. Und jeden Abend kam er zu Paska, setzte sich in einen Winkel des Hofes und trällerte und gähnte. Einmal reichte sie ihm ein Gerstenbrot; er nahm es und weinte. »Ein Mann wie ich, ein Mann von Talent . . . der hätte leben können wie ein Kavalier . . . und dahin gekommen!« Und seine Tränen fielen auf das große graue Brot wie Regentropfen auf welkes Laub. Natürlich weinte die alte Magd mit ihm – am folgenden Tage aber kam er mit froher Botschaft.

»Der Kanonikus Felix, Gott segne ihn, hat mir die Küsterstelle am Kirchlein San Teodoro verschafft. Weißt du, wo das ist? Nicht weit von unserm Dörfchen auf den Bergen; das Kirchenfest ist im Juni. Wollt Ihr mich dann besuchen? Dann lass’ ich Euch Bohnen mit wilder Minze kochen . . . Gut, ich werde dort leben wie ein Eremit und immer für meine Wohltäter beten. Ich glaube, Priamo hat dafür gesorgt, daß ich die Stelle bekomme.«

»Wie? Priamo ist wieder hier?« fragte Paska.

»Ja, seit gestern. Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt; er sieht aus wie ein Bischof, so schön und ernst ist er geworden. Jetzt bekommt er die Weihen, darum ist er gekommen.«

Bald nach Mittag, als Gavina im obersten Stock die Fenster schloß, sah sie Priamo vor der Tür des Kanonikus Sulis. Er sah wirklich elegant aus, mit einer Soutane und einem Schultermantel so schön wie Atlas. Aber sein Gesicht von krankhafter Blässe gemahnte an das Gesicht eines nach verbüßter Strafe soeben aus dem Gefängnis Entlassenen. Da er nach den Fenstern im Erdgeschoß ihres Hauses hinübersah, konnte Gavina ihn betrachten, ohne selbst gesehen zu werden; aber das Herz schlug ihr bis in die Kehle, und sie mußte sich hinsetzen, um wieder zu sich zu kommen.

Jetzt wird er hierherkommen, dachte sie, hierher! Was soll ich tun? Ihm durch Paska sagen lassen, es wäre niemand zu Sause? – Plötzlich aber warf sie in ihrer alten Art stolz den Kopf auf und fragte sich: Warum sollte ich mich vor ihm fürchten? Und sie stand auf, ging in ihr Zimmer hinüber, machte sich die Haare und kleidete sich um. Aber nicht etwa um sich schön zu machen für ihn – nein: sie wollte nur anders aussehen als gewöhnlich, sich gewissermaßen äußerlich verstellen, wie sie ihm ihre innersten Gedanken verbergen wollte.

Ein lautes Pochen an der Tür ließ sie erbeben. Paska war wohl im Garten beschäftigt: das Klopfen der eisernen Sand ertönte von neuem. Gavina redete sich ein, es sei vielleicht der Postbote und lief eilends hinunter.

Vor der Tür stand Priamo. Ruhig, fast gleichgültig, sein Mäntelchen über die Arme gezogen, grüßte er sie, als wären sie am Tage zuvor auseinander gegangen. »Wie geht es Luca?« war seine erste Frage.

»Nicht sehr gut. Er ist mit der Mutter im Weinberg.«

Bei dem Worte »Weinberg« erröteten sie alle beide; und dann sah er sie an mit seinem trüben und zugleich begehrlichen Blick und ihr ward beinahe Angst.

»Ich will Paska sagen, daß sie Kaffee bringt«, sagte sie und glitt flink und stumm, an der Wand entlang, aus dem Zimmer. Als sie wieder eintrat, ließ sie die Tür offen.

Er stand vor der Konsole, und als seine Augen aufs neue in die ihren blickten, waren sie voll Tränen; und sie hatte die Empfindung, hier stände ein Priamo vor ihr, den sie noch nicht kenne, ein schüchterner und unglücklicher Priamo.

»Hast du Angst vor mir«, fragte er mit einer vor Spott und Schmerz bebenden Stimme. »Warum hast du Paska gerufen? Fürchtest du, ich wollte dich küssen? Ach, es ist ja vergeblich, jemand zu küssen, der nicht liebt. Und du liebst nicht, kannst nicht lieben: du hast kein Herz! Einmal hattest auch du ein Herz – sie aber haben einen Lumpen über dein Herz geworfen, wie über dieses Bild der Schönheit« – er wandte sich zu der Venus und berührte sie leise – »und damit haben sie es erstickt . . . wie sie alles ersticken . . . alles . . .«

Sie hatte ihren Mut wieder gewonnen, sah ihn fest an, mit Augen, die vor Stolz blitzten, und fragte: »Wer, sie?«

»Die Priester!«

»Und wer bist du?«

»Ich werde einer von ihnen sein . . . durch deine Schuld.«

»Du . . . du weißt nicht, was du sagst!«

»Ich sage, was du mich zu sagen zwingst. Wolltest du, daß ich anders spräche, so mußtest du anders handeln.«

»Ich handle, wie ich es für meine Pflicht halte . . .«

»Deine Pflicht?« stieß er da hervor, beugte sich vor und näherte sich ihr, als ob er sich auf sie stürzen wolle. »Was weißt du von Pflicht? Du; du sprichst von Pflicht? Du sprichst und tust wie sie dich zu sprechen und zu tun gelehrt haben.«

Er richtete sich auf, stand ihr groß und fest gegenüber und fuhr in leidenschaftlicher Erregung fort: »Wenn dein Beichtvater dir sagte, es sei deine Pflicht, zu töten, einen Meineid zu schwören, dir das Leben zu nehmen . . . du würdest es tun. So verstehst du deine Pflicht!«

»Mein Gott, wie bist du nur? Wie bist du geworden!« stammelte sie, mehr betroffen als gekränkt.

Und er packte ihre Hände mit seinen blassen, hageren, die so fest zufaßten wie die eines von Zuckungen befallenen Kranken. »Ich bin das geworden, was du aus mir gemacht hast . . . Ich habe dir vieles zu sagen, weißt du . . . Und das muß ich dir sagen . . . darum bin ich hierhergekommen . . . Ich habe nichts vergessen . . . und ich will noch einmal kämpfen . . .«

»Laß mich«, sagte sie, zitternd vor Ärger und vor Leidenschaft. »Ich habe nichts mit dir gemein! Ich war ein Kind, damals . . . ich wußte, ich verstand nicht . . .«

»Aber jetzt? Verstehst du jetzt? Verstehst du, daß ich nicht leben kann ohne dich? Verstehst du das?«

»Laß mich!« wehrte sie ab; dann aber ward sie demütig, bat, flehte: »Laß mich, Priamo, Paska kommt!«

Aber wie angefeuert von der Gefahr überrascht zu werden, beugte er sich über sie und küßte sie; und kaum hatte er von ihr abgelassen und sich hingesetzt, als Paska eintrat, vor ihm stehen blieb, ihn betrachtete und sagte: »Wirklich, wenn ich dir auf der Straße begegnet wäre, dann hätte ich dich für einen Priester vom Festland gehalten.«

»Weshalb? Sind die Priester vom Festlande schöner als die sardischen?« fragte er, nervös lachend. Und seine Hand zitterte, als er die Tasse nahm, die sie ihm anbot.

»Nun . . . ich dachte . . .«

»Sie sind im Gegenteil viel häßlicher und sehen aus wie die Bettler. Manchmal begegnen mir welche, die so abgerissen und schmutzig sind, daß sie mir leid tun . . .«

»Aber sind sie denn so arm?« fragte Paska verwundert. »Ach, sie haben gewiß alles den Armen gegeben . . . Und du, wie geht es dir?« setzte sie hinzu und betrachtete die zitternden Hände Priamos.

Sie hat etwas gemerkt! dachte er; jetzt wird sie aufpassen! . . .

»Ich muß mit dir sprechen«, sagte er zu Gavina, sobald die Alte das Zimmer verlassen hatte. »Ich muß! Es ist notwendig! Heute abend um elf Uhr werde ich vor deiner Türe sein. Du kannst mich einlassen.«

»Geh! und komm’ nicht wieder! Ich werde dich nicht wieder einlassen!« entgegnete sie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Geh!«

Er stand auf, legte sein Mäntelchen wieder über die Arme und nahm seinen Hut »Läßt du mich heute nacht nicht ein, so erschieße ich mich vor deiner Tür!« sagte er, verneigte sich vor ihr und ging.

Als sie allein war, warf sie sich auf das Sofa und brach in krampfhaftes Weinen aus. Sie meinte, sie müßte sterben vor Scham, vor Angst, vor Gewissensbissen. Sie bereute, Priamo nicht sogleich entschieden abgewiesen zu haben und nahm sich vor, nie mehr mit ihm allein zu bleiben; zu gleicher Zeit aber war sie wie berauscht von dem Gedanken, daß er sie noch immer liebte, mit solcher Leidenschaft liebte. Sie begriff, daß sich nichts verändert hatte seit jenem Tage: sie waren beide die selben, trotz all der Jahre, die dazwischen lagen, trotz der langen Trennung und ihrem so ganz verschiedenen Leben – und sie liebten einander immer noch! Auch das begriff sie und fühlte dunkel, daß sie Priamo liebte um des willen, was er war, um der Furcht und des Mitleids willen, die er ihr erweckte, um des starken Hindernisses willen, das sie trennte, vor allem aber, weil er für sie das verführerische Ungeheuer darstellte, das zu meiden ihr unablässiges Dichten und Trachten gewesen war: die Sünde . . .

* * *

Gavina überkam die Angst, Priamo könnte sich wirklich vor ihrer Tür das Leben nehmen . . . Was sollte sie nur tun? Wen um Rat fragen? Da kamen ihr seine Worte in den Sinn: deine Pflicht? Wenn sie dir sagten, es sei deine Pflicht, zu töten, du würdest es tun . . . Stolz richtete sie sich auf und sagte sich noch einmal, daß sie gut, gewissenhaft, ihres Glaubens und ihrer selbst sicher sei: Sie brauchte keinen Rat.

»Meine Pflicht? Ich kenne sie!« sagte sie laut und runzelte die Brauen.

Sie ging in ihr Zimmer hinauf und trat an das Gartenfenster. Ernst stand sie den in sommerlichen Duft gehüllten, wie in inbrünstige Träumerei versenkten Bergen gegenüber. Ja, auch die Natur träumt, und die rauhesten Berge lassen sich vom heißen Mittagswind kosen. Und sie wies das süße Gefühl von sich, das die Worte und der Kuß Priamos in ihr erregt hatten, und spürte es deutlich, wie etwas Furchtbares in ihr vorging: sie war beinahe glücklich, daß sie liebte – doch um der Genugtuung willen, diese Liebe zu ersticken!

Sie beschloß, Priamo zu empfangen. Sie war stark: was hatte sie zu befürchten? Während der übrigen Stunden überlegte sie genau, was sie ihm sagen wollte: sie schliff gleichsam ihre Waffen. Sie meinte ruhig und kalt zu sein, während sie in Wahrheit nur von einer düsteren Opferfreudigkeit erfüllt war: ich werde leiden! dachte sie. Um so besser! Vielleicht wird er mich beschimpfen, vielleicht totschlagen: ach, wenn er das doch täte!

Und in ihrem tiefsten Innern schien etwas von der barbarischen Schwärmerei der christlichen Martyrer aufzuleben . . .

Doch je weiter die Zeit vorrückte, desto mehr überkam sie tiefe Traurigkeit. Von Zia Itrias Hof drang das Rufen und Lachen der jungen Leute herüber; dann erstarb allmählich jegliches Geräusch, und nur die Viertel und die Stunden, die die Turmuhr der Kathedrale verkündete, klangen durch die nächtliche Stille; lauter als sonst, und als ob ihnen etwas Lebendiges innewohnte, ertönten die Schläge, wie der ferne Schrei eines geheimnisvollen Wesens, das in abgemessenen Zwischenräumen um die nutzlos enteilende Zeit klagte.

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
Объем:
300 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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