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Читать книгу: «Bis an die Grenze», страница 2

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»Kommst du nicht mit?« fragte er.

»Doch, jetzt gleich.«

Er trat näher, und da sah sie etwas Seltsames, das sie verwirrte und gleichzeitig aufbrachte: er hob das Mäntelchen der Venus auf und sagte: »Aber nehmt es doch ab! Sieh nur, wie schön sie ist!«

Auch er war schön in diesem Augenblick: rot bis unter seine schwarzen Haare; seine Lippen streckten sich bebend vor, als ob sie nach einem Kusse verlangten.

Gavina schlug die Augen nieder und ging schnell hinaus, ohne ein Wort zu sprechen.

Luca kam gegen Abend zurück und war kaum vom Pferde gestiegen, als er anfing über den Knecht loszuziehen, der auf ihrer Besitzung arbeitete. Am Fenster ihres Zimmers lehnend, dachte Gavina noch an Priamo, als sie die erregte Stimme und die heftigen Worte ihres Bruders vernahm. Es schien, daß er wieder getrunken hatte. Ihrer Träumerei so rauh entrissen, erbebte sie vor Zorn und lief die Treppe hinunter, um Luca zurechtzuweisen. Doch im selben Augenblick kam Signor Sulis von seinem gewohnten Spaziergang heim, und alle waren still. Mit seinem breitrandigen schwarzen Hut und einem mächtigen schwarzseidenen Halstuch sah der ehemalige Wegebauer aus wie ein Quäker. Und seine Gegenwart verbreitete ein Gefühl von Ruhe und Frieden.

Man ging zu Tisch und das Abendbrot verlief, wie immer, sehr still. Nur als Gavina und Signora Zoseppa aufstanden, bedeutete der Vater Luca, zu bleiben, und fragte ihn: »Ich möchte wissen, was dir letzte Nacht passiert ist.«

Luca verteidigte sich bescheiden und suchte dann das Gespräch abzulenken, indem er von seinem Ritt nach der Besitzung redete: der Knecht tat nichts; in vier Tagen hatte er nur den Boden um dreißig Mandelbäume herum gesäubert, deren Ernte doch unmittelbar bevorstand. Überdies duldete er, daß die Nachbarn nachts das zu der Besitzung führende Lattentor fortnahmen und ihre Ochsen dort zur Weide führten; man müßte ihn entlassen . . .

»Siehst du«, sagte der Alte, »du bist genau wie jener Knecht. Auch du läßt dem schlimmsten Laster die Tür offen und wirst der Übel nicht gewahr, die du dir selbst und anderen zufügst. Heut’ oder morgen wird man auch dich entlassen! Paß auf, Junge!«

Luca ließ den Kopf hängen, ging in die Küche und glaubte seine Schuldigkeit zu tun, indem er mit den Frauen den Rosenkranz betete: hundertundfünfzig Ave Maria. Hatte man ihn doch gelehrt, daß Gott dem reuigen Sünder vergebe.

In der offenen Hoftür saß Gavina und blickte auf die schwarze Palme mit ihrem dunkelblauen Hintergrund. Der Mond kam eben hinter den Bergen hervor, und die Sterne funkelten so hell, daß es aussah, als ob sie sich regten, um den aufgehenden Planeten zu begrüßen. Durch die stille, warme Nacht erklang fernes Singen und die munteren Rufe der auf der Straße spielenden Kinder. Das waren Stimmen der Liebe und der Freude; und hin und wieder wurden diese Stimmen übertönt von einem lauten, bebenden Schrei wilder Leidenschaft, der wie ein verzweifelter Anruf an ein unerreichbares Wesen erschien.

Gavina betete für den Frieden ihrer Familie. Alle zehn Ave Maria bat sie die Jungfrau Maria um eine besondere Gnade. Für den alten Vater erflehte sie Gesundheit, für die gute Mutter Stärke, für den unglücklichen Luca Besserung. Für die übrigen über die Welt zerstreuten Sünder erbat sie nichts, nicht einmal für sich selbst, und sie glaubte, damit ein Opfer zu bringen. Sie war ja bereit zu leiden, wenn das des Herrn Wille sein sollte. Inzwischen aber bat sie Gott nur um das, was für ihren häuslichen Frieden notwendig war.

Jener den nächtlichen Gesang übertönende Schrei der Leidenschaft erinnerte sie immer wieder an Priamo und einen Augenblick lang vergaß sie dann alle andern und dachte nur an ihn. Bei der letzten Abteilung des Rosenkranzes überkam sie das Verlangen, Gott auch für sich selbst um Hilfe anzuflehen und für den, der sie offenbar liebte, ohne Hoffnung liebte; das aber deuchte ihr wieder eine so große Sünde, daß sie, um sie zu büßen, für die Witwe Lambedda betete.

Die Witwe Lambedda war die böseste Zunge der ganzen Nachbarschaft, und gerade in diesem Augenblick hörte man ihre kreischende Stimme so schrill wie eine Feile, die über Eisen fährt. Signora Zoseppa fürchtete diese Frau, Gavina verachtete und floh sie.

Nachdem der Rosenkranz gebetet war, hatte Paska noch die Küche in Ordnung zu bringen; Signora Zoseppa, müde von dem arbeitreichen Tage, nahm eine Öllampe und ging in ihr Zimmer; als sie an ihrem Sohne vorbeischritt, legte sie ihm die Hand auf den Kopf und sagte: »Geh’ zu Bett, Luca, du mußt müde sein . . .«

»Gleich, gleich«, erwiderte er, rührte sich aber nicht.

Auch Gavina ging in ihr Zimmer hinauf, aus dessen weit offenstehenden Fenstern man die Mondlandschaft sah und die kleine graue Stadt unter dem dunkelblauen Nachthimmel. Die bei Tage so einsame Straße erklang jetzt von schwatzenden und lachenden Stimmen. Die Kinder spielten im Mondlicht wie die Häslein auf den Waldpfaden; die Erwachsenen standen in Gruppen beisammen, um die Abendkühle zu genießen und zu plaudern.

Von Zia Itrias Höfchen, die »Piazzetta« genannt, drang lautes Gelächter herüber und die Stimmen von Männern, die einander zum Scherz ausschimpften. Statt zu Bett zu gehen, trat Luca auf die Straße hinaus, hörte einen Augenblick den bösen Reden der Witwe zu und ging dann ebenfalls zu Zia Itria.

Witwe Lambedda klatschte unterdes weiter: über den Kanonikus Felix, über seine Mägde, seinen Neffen: »Und das sind brave Leute? Umkommen sollen sie alle binnen acht Tagen! Die alte Magd, sagen die Leute . . .«

»Schweigt, Ihr Klatschmaul!« rief der Kanonikus Sulis von seinem Balkon herunter, wo auch er, in Hemdärmeln, der Kühle genoß.

»Ach, hört doch nur den da! Darf man in seiner Gegenwart nicht die Wahrheit reden?«

»Ihr lügt nur, und darum: Still!«

»Na, lassen wir die Magd und reden lieber von dem Neffen,« beharrte die böse Klatschbase. »Werden Sie vielleicht in Abrede stellen, daß er ein Taugenichts ist? Voriges Jahr ist er von Hause durchgebrannt – dies Jahr wird er aus dem Seminar durchbrennen. Ja, macht ihn nur zum Priester, dann wird er . . .«

»Was verlangt Ihr von einem Jungen?« fragte gutmütig Signor Sulis, der sich nach dem Abendbrot wieder vor seine Haustüre gesetzt hatte.

»Ich würde ihn eher an die Mühle stellen, als zum Priester machen.«

»Nun, wenn alle Windbeutel Korn mahlen sollten, dann gute Nacht, Esel!« sagte der Alte und winkte einen Abschiedsgruß.

Die kreischende Stimme erscholl noch lauter: »Ach, wirklich? Und warum denn nicht? Sollen nur die Armen zu Boden geworfen und mit Füßen getreten werden, sobald sie einen Fehltritt tun? Ach, mein armes Lämmchen, mein guter Sohn, du warst arm, und darum haben sie dich ruiniert!«

Ihr Lämmchen saß im Gefängnis wegen Diebstahls, sie aber redete beständig von ihm wie von einem Kind, dem bitteres Anrecht geschehen war.

»Vor Gott sind wir alle gleich, und am Tage des Gerichts wird er uns durcheinanderschütteln wie Oliven in der Presse«, sagte Signor Sulis, und man wußte nicht, ob er im Scherz oder im Ernst sprach.

»Ich sage euch nur eins«, fuhr die Witwe fort, »nicht einmal vor Gott sind wir alle gleich! Warum hat er uns verschieden geschaffen? Den einen gut und den andern böse, den tugendhaft und den als Trunkenbold? . . . Wir möchten wohl alle gut sein, denn die Sünde ist verdammt!«

»Gott hat uns alle gut geschaffen, sage ich euch«, rief jetzt der Kanonikus. »Und der freie Wille? Hat Gott unserm lieben Pascaleddu geboten, hinzugehen und zu sündigen?«

Die Witwe fing an zu weinen und zu fluchen, und so ging es weiter, bis Signor Sulis sich zurückzog. Da ging Paska, um Luca von der »Piazzetta« zu holen. Er saß neben Zia Stria und schwieg, schien aber viel Gefallen an dem lebhaften Geplauder der übrigen zu finden.

Auch Paska blieb stehen, wie von einem bösen Zauber angelockt. Und wirklich war das Bild, das sich ihr bot, der Betrachtung wert. Der Mond schaute bereits über die Mauer neben Zia Itrias Häuschen und beleuchtete den halben Hof, in dem zehn oder zwölf junge Leute um die Alte versammelt waren, recht sonderbare Gestalten, aber alle lustig und redselig. Drei von ihnen waren Schustergesellen, darunter ein Zwerg, so klein wie ein sechsjähriger Knabe, aber mit einem schlauen und spöttischen Mannsgesicht; ferner ein ehemaliger Klosterbruder, blaß und rothaarig, und ein sehr langer Alter mit einem ganz kleinen Kopf, der dem eines Hasen glich. Sie machten beständig gemeinsame Reisepläne zu dem Zweck, den Zwerg in »den großen Städten« als Naturwunder zur Schau zu stellen, und spotteten schon jetzt über die Leute, die herbeiströmen würden, um ihn zu sehen. Der merkwürdigste Kauz des Kreises aber war ein alter Bauer mit einem dunkeln, beinahe schwarzen Gesicht, das von langen weißen Haaren und einem schneeweißen Vollbart umrahmt war; er hatte in seiner Jugend fünfzehn Jahre im Gefängnis zugebracht, behauptete aber hartnäckig, während jener langen Abwesenheit von der Heimat sei er Soldat gewesen, habe unter Victor Emanuel und Garibaldi gedient. Seine kriegerischen Erlebnisse erzählte er in so witziger und zugleich überzeugender Weise, daß ihn alle wie einen alten Helden bewunderten.

»Luca, komm mit, sonst schließe ich dir die Türe zu!« sagte Paska nach kurzem Zögern.

»Du? Ach, wirklich?« erwiderte Luca in dem spöttischen Ton der andern, die bereits über die Magd lachten.

»Luca, so redet man nicht zu seiner Amme!« ermahnten sie.

»Schläft das Würmchen noch immer bei dir. Alte?«

»Itria Sulis«, sagte Paska streng, »sag’ deinem Neffen, daß sein Vater mir befohlen hat, die Türe zu schließen.«

»Gut, also geh’, Luca! Ich will keine Geschichten haben«, sagte Zia Itria.

Aber Luca rührte sich nicht. Paska ging, und von ihrem Fenster aus hörte Gavina die jungen Leute hinter der Magd her spotten. Der Zwerg schlug vor, sie dem Invaliden zur Frau zu geben, und Zia Itria trällerte sogleich ein Hochzeitlied, diesmal auf italienisch:

 
Un bel gobbo ed una gobba
All’ età di ottant’ anni,
Storpi e pieni di malanni,
Si giuraron’ fedeltà . . . fedeltà . . . fedeltà . . .2
 

Ärgerlich schloß Gavina das Fenster nach der Straße und ging an das nach dem Garten. Dort wenigstens war alles zauberisch schön und rein. Der Mond bestrahlte die Berge so hell, daß ihre fernsten Linien wie silberumränderte blaue Wolken erschienen. Dunkel und reglos hob sich von dem lichten Landschaftsbilde die Steineiche ab, in der die Grillen zirpten; und selbst die Kohlköpfe sahen jetzt aus wie fremdartige, silbergestickte Blumen. Von der tropischen Vegetation beim Laubengang stieg starker Wohlgeruch auf: der bittersüße Duft der Oleanderblüten rief in Gavina den Gedanken an die Jäger wach, die nun wohl zwischen Felsen und Buschwerk auf der Lauer standen.

Und wie der Tau herabsank, sich auf die durstenden Zweige und Pflanzen legte und sie mit funkelnden Edelsteinen schmückte, so senkte sich Träumerei über ihre kleine Seele.

Wieder kam Priamo ihr in den Sinn, und sie träumte von einem Wunderland, einer vom Monde erhellten Felseneinsamkeit, wo sie mit ihm sein, mit ihm leben könnte. War er arm und böse, so war sie ja reich und würde ihn durch ihre Liebe zu einem guten Menschen machen . . . Und für einen Augenblick strahlte alles um sie her – dann aber ward es wieder völlig finster: glaubte sie doch zu sündigen, wenn sie an einen Mann dachte . . . Der ihr innewohnende Hang zum Mystischen überwältigte sie: sie kniete vor dem Fenster nieder, richtete den verzückten Blick nach oben und murmelte Gebete, die eigentlich Gotteslästerungen waren. Sie bat den Herrn, ihr Leid zu schicken und sie zu strafen in dem, was ihr auf Erden am teuersten sei, wenn die Sünde je Macht über sie gewänne.

Und während sie betete, drückte sie sich die Nägel in die Handflächen und schlug den Kopf gegen die Fensterbrüstung . . .

Draußen stieg der große, stille Mond höher und höher am reinen blauen Himmel auf, als ob ihn darnach verlange, sich möglichst weit von dieser Erde zu entfernen, auf der er soviel Elend und Not, soviel Wahn und Irrtum gewahrte.

II

Die Tage folgten und glichen einander. Signora Zoseppa und Paska standen beim Morgengrauen auf und besorgten gemeinsam die häuslichen Obliegenheiten unter Beten und Plaudern. Nicht wie Herrin und Magd sondern wie Freundinnen standen sie zu einander. Einst vielleicht hatte die Magd eine eigene Persönlichkeit besessen, war heiter, jung und selbstisch gewesen: die Erinnerung daran aber verlor sich im Dunkel der Zeit. Sie, die am Tage der Hochzeit des Ehepaares Sulis in dessen Dienst getreten war, war nun gleichsam ein Geschöpf Signora Zoseppas: sie hatte deren Art angenommen, ihre Sprechweise, ihre Strenge. Sie war so streng religiös geworden wie ihre Herrin. Sie hatte ihr beigestanden bei ihren Entbindungen wie in Krankheitsfällen, ihr geholfen, die Kinder aufzuziehen, und jetzt geleitete sie sie auf dem langsam absteigenden Wege eines Lebens, das nur Arbeit und Gottseligkeit gewesen.

»Bis zu meinem dreißigsten Jahr war ich unentschieden, ob ich heiraten sollte oder nicht«, erzählte die Herrin der Magd, während sie das Korn reinigten oder den Brotteig kneteten. »An Gelegenheit fehlte es mir nicht, aber ich fürchtete mich vor dem Heiraten. Meine Mutter war eine Heilige; mein Vater, Gott hab’ ihn selig, mißbrauchte ihre Güte und Geduld. Sie trug es gern und litt willig, wie die heiligen Märtyrer. Und ich, nicht um mich zu rühmen, das weißt du wohl, nun, auch ich bin verständig und geduldig, aber doch nicht bis zu dem Punkt, daß ich mich ruhig schlagen ließe. Ja, jetzt kann ich es dir wohl sagen, einmal entdeckte ich, daß meine Mutter einen Büßergürtel trug; und auch ich versuchte es, als ich jung war, aber ich könnt’ es nicht aushalten. Und dann stand ich eines Tages allein, ohne Vater und Mutter, allein wie ein Tier des Waldes. Und da kam es dem Kanonikus Sulis in den Sinn – er war damals noch ein einfacher Priester – mich mit seinem Bruder zu verheiraten. Luigi war schon achtundvierzig Jahre alt und ich beinahe dreißig; man konnte also nicht gerade sagen, unsere Heirat wäre ein Kinderstreich, so eine von den Ehen, die aus Leidenschaft geschlossen werden und meistens ein schlechtes Ende nehmen. Und warum nehmen sie ein schlechtes Ende? Weil die Frau und der Mann sich fast immer von einem sündhaften Verlangen getrieben miteinander verbinden, ohne zu bedenken, was sie tun. Und wenn sie ihrer Sünde überdrüssig sind, werden zwei Feinde daraus. Ich und mein Mann dagegen haben eine Familie gebildet nach dem Willen des Herrn, und bis heute, du weißt es, hat vollkommene Eintracht zwischen uns geherrscht.«

Häufig half Gavina den Frauen bei der Arbeit und vernahm dabei die Worte und Lehren ihrer Mutter. Sie selbst war aufgeweckt und phantasievoll, und ihr Instinkt lehrte sie die göttlichen Freuden des Lebens ahnen und begreifen: die Liebe, die Freiheit, die schöpferische und fruchtbare Arbeit. Einen ungeheuren Respekt aber hegte sie vor ihrer Mutter, die die Tugend in Person war und ihrem Vorbild, ihren Lehren Nachdruck gab durch ihre Handlungen. Von dem mütterlichen Beispiel empfing Gavina somit ein unverwischbares Gepräge, gleichsam wie das von Paska und Signora Zoseppa bereitete Brot die Eindrücke der Knöpfe und Formen bewahrte, mit denen die beiden Frauen es verzierten.

Seit einigen Tagen jedoch glaubte Gavina das zu begehen, was ihre Mutter die größte Sünde nannte. Sie dachte an einen Mann, und dieser Mann war überdies Gott geweiht. Am Sonnabend nach dem Besuch des Kanonikus Felix mußte sie sehr früh aufstehen, um ihrer Mutter und der Magd zu helfen, Brot zu backen. Im Backofen brannte ein Feuer aus Wachholderzweigen und verbreitete angenehmen Geruch durch die stille Küche. Wenn Gavina dann des Knetens müde war, ergriff sie einen Vorwand, um einmal in den Garten hinauszugehen. Sie sah den Morgenstern über den blauen Bergen aufgehen und sah, durch das Gezweig der Steineiche hindurch, wie der Himmel sich im Osten violett-rosenrot färbte, wie dann der ganze Horizont golden schimmerte, während die Vögel zu singen anfingen: und sie verspürte eine ungestüme Freude, ein Verlangen sich loszureißen und zu wandern bis zu einer von Palmen umgebenen Wunderstadt am Strand des Meeres . . . Statt dessen aber mußte sie wieder hinein und weiterkneten. Als dann das Brot gebacken war, mußte sie es mit einer Bürste und einem Messer säubern und abkratzen. Unversehens hatte sie mit dem heißen Messer ihre Lippen berührt und erschauerte: sie wußte nicht warum, aber es war ihr, als ob Priamo sie geküßt hätte. Sie schloß die Augen und hatte Lust, es nochmals zu versuchen – mit einem Mal aber ward sie der Ungeheuerlichkeit ihrer »Sünde« inne und um sich selbst zu strafen, hielt sie das Messer lange an das Brot und drückte es sich dann glühend heiß an die Lippen.

In der Dämmerung sah sie Priamo wieder, der alle Abend zum Kanonikus Sulis ging, um Lateinstunden zu nehmen. Er sah sie an, und sie empfand fast dasselbe Gefühl schmerzhafter Wonne, das die Berührung mit dem heißen Messer ihr erregt hatte.

Sie verließ das Haus fast nur, um zur Kirche zu gehen. Nur Abends begleitete sie manchmal Paska zum Brunnen. An jenem Abend gerade hatte sie ein ungewohntes Verlangen nach Lust und Bewegung ergriffen, und sie hängte sich an Paskas Arm und zog sie mit sich.

Der Brunnen war unten an der Landstraße. Sie gingen über die »Piazzetta«, ohne auf die Scherze der gewohnten Schar zu achten, und kamen in die ärmere Nachbarschaft. Das krumme Gäßchen war vom Mondlicht erhellt; die Luft roch nach verbranntem Stroh. Hin und wieder saßen dunkle Gestalten auf dem staubigen Boden, müde Weiber, Männer, die von den sonneglühenden Feldern heimgekehrt waren. Alle redeten von ihrem elenden Tagewerk; die Männer von ihren Ochsen wie von Gefährten in Arbeit und Mißgeschick; die Frauen jammerten über die magere Ernte. Allemal, wenn Paska durch die Gasse kam, wurde sie gefragt, ob sie viel Birnen und Mandeln gegessen hätte: sie bekamen nie Obst zu Gesicht, außer dem, das ihre Männer allenfalls stahlen; und sie sprachen davon wie Kranke, die Durst leiden.

Gavina preßte Paskas Arm und zog sie weiter; es verlangte sie, fortzukommen. Sie mochte jene Leute nicht, die so freie Reden führten, jene schmutzigen, nach Obst lüsternen Weiber, jene Männer, die das Eigentum anderer nicht achteten. Doch als sie das Ende der auf die Landstraße führenden Gasse erreicht hatten, hielt Gavina vor dem weitgeöffneten Tor eines weißen Häuschens an, das weniger ärmlich als die andern war.

In dem vom Mond erhellten Torbogen zeigte sich ein hübsches Bild: ein kleiner Innenhof, darin ein graues Eselchen und zwei weiße, schwarzgefleckte Ochsen an einer gefüllten Krippe. Ein alter, kahlköpfiger Mann mit einem guten, friedlichen, von langem grauem Bart umrahmten Gesicht, und ein blasses, junges Mädchen mit einem Gesicht, das leichenhaft erschienen wäre ohne die Glut und den Glanz zweier großer, grünlichschwarzer Augen, saßen im Hintergrund des Hofes. Hätte nicht das Kind gefehlt, so hätte das Bildchen eine heilige Familie vorstellen können.

Als das junge Mädchen Gavina bemerkte, sprang es sogleich auf, und seine Augen leuchteten im Mondlicht.

»Kommst du mit?« fragte Gavina. »Darf sie mitgehen, Zio Bustià?«

Der Mann, ein wohlhabender Bauer, den Signor Sulis manchmal in landwirtschaftlichen Dingen um Rat fragte, willigte gerne ein.

»Ich erwartete dich«, sagte Michela mit leiser, doch leidenschaftlich klingender Stimme. »Warum bist du gestern Abend nicht gekommen?«

»Wenn du mich sehen wolltest, konntest du nicht zu uns kommen?« erwiderte Gavina in etwas spöttischem Ton.

»Ich hatte soviel zu tun. Vater fuhr das Getreide ein. Und dann haben wir auch Mieter bekommen.«

Paska, die die Freundschaft zwischen Gavina und der Tochter eines Bauern nicht gern sah und Michela deshalb ziemlich geringschätzig behandelte, interessierte sich aber doch für die Mieter.

»Seit wann habt ihr die?«

»Seit gestern. Wir haben ihnen die beiden Stübchen da oben abgegeben.«

Paska blickte hinauf. Und am Fensterchen des ersten und einzigen Stockwerks, neben einem Korkgefäß, aus dem graugrünes Nelkengeranke herabhing, sah sie den Kopf eines jungen Menschen mit schwarzem, kurzgeschorenem, wie Samt glänzendem Haar und dunklem, magerem Gesicht, das zum Mond aufblickte. Er pfiff vor sich hin und schien der Frauen auf der Straße gar nicht achtzuhaben.

»Es ist ein Student«, sagte Michela. »Er muß auch in den Ferien studieren und deshalb ist seine Mutter aus ihrem Dorfe hierhergekommen.«

»Sind sie reich?«

»Stell’ dir nur vor, wie reich sie sind, wenn sie in unserem Hause wohnen mögen. Sie leben mit fünfzig Centesimi den Tag. Die Mutter ist eine Spinnerin. Aber hört doch, was für eine Geschichte! Mit zwölf Jahren hat man sie einem vierzigjährigen Manne verlobt. Sie sollten heiraten, wenn sie sechzehn sein würde. Aber kurz vorher verliebte sie sich in einen Kurier, wißt ihr, so einen reitenden Boten, die im Gebirge die Post in die Dörfer bringen. Eines Tages brannten die zwei Verliebten durch, er nahm sie auf seinem Pferde mit wie einen Brief. Dann heirateten sie. Bald darauf aber kam das Pferd des Kuriers einmal allein vor die Post des Dorfes. Und den Kurier fand man tot in einem blühenden Ginsterfeld. Nie hat man erfahren, wer ihn ermordet hat. Die Witwe sagt, es wäre der Andere gewesen: sie hat sich nie getröstet und sie sagt, während der letzten Monate ihrer Schwangerschaft, denn sie war guter Hoffnung, als sie ihr den Mann erschossen, habe sie beständig gebetet, das Kind, das sie unter dem Herzen trug, möchte ein Knabe werden, damit er den Vater rächen könnte. Und sie bekam einen Knaben.«

»Und wie denkt der jetzt?«

»Wer? Francesco Fais? Er lacht und singt den ganzen Tag, während die Mutter so scheu ist wie ein Hase. Nun, du wirst ihn ja sehen.«

Gavina zuckte die Achseln. Sie mochte arme Leute nicht und darum lag ihr gar nichts daran, die Witwe Fais kennen zu lernen. Auch Paska kümmerte sich nicht weiter um Michelas Geplauder. Da schlug das junge Mädchen ein anderes Thema an. Sie war äußerst religiös; war, wie es häufig vorkam, ihr alter Vater nicht daheim, so konnte sie einen ganzen Tag in der Kirche verbringen. Sie glaubte an Geister, an Wundererscheinungen und behauptete, die Seele ihrer vor einigen Jahren verstorbenen Mutter gesehen zu haben.

Gerade das Außergewöhnliche an dem sich selbst und seiner Phantasie überlassenen blassen, hysterischen Wesen war es, was Gavina zu ihr hinzog; sie liebte Michela nicht, und obwohl sie sie suchte und ihr gerne zuhörte, behandelte sie sie mit Geringschätzung.

Michela war sehr sensibel, ihr Instinkt lehrte sie mehr als ihr Verstand. Sie fühlte die Abneigung Paskas und die Geringschätzung Gavinas und hing sich dennoch mit fast krankhafter Leidenschaft an diese. Solange die Magd bei ihnen war, redete sie nur obenhin von sich und erzählte, was sie den Tag über getan hatte. Sie war mit dem Morgengrauen aufgestanden und zur Kirche gegangen, hatte gebeichtet und kommuniziert; und, wie sie jeden Sonnabend zu tun pflegte, hatte sie auch heute nur Brot und Wasser genossen und den ganzen Tag gearbeitet.

Als sie bei dem ein wenig unterhalb der Straße gelegenen Brunnen angelangt waren, stieg Paska hinab. Die beiden Mädchen lehnten an der Brüstung der Straße am Rande des weiten Tales, das jetzt im Mondlicht grau und schwarz dalag. Auf den Vorbergen gegenüber brannten große Feuer, die aus dem Gestein selbst aufzusteigen schienen. Um den Boden dort urbar zu machen, brannten die Bauern das Buschwerk ab; manchmal standen weite Strecken in Flammen, und an dunkeln Abenden warfen diese einen Glutschein über das Tal, so rot wie der Mond vor dem Untergang.

Durch den stillen Abend hörten die Mädchen das Rauschen des Brunnens und die Stimmen der Wasser holenden Frauen, bei denen auch Paska plaudernd verweilte.

»Höre Gavina, ich muß dir etwas sagen!« sagte Michela leise und beklommen. »Schwöre aber, daß du mir glaubst.«

»Ich glaube dir! Es ist nicht nötig zu schwören«, entgegnete Gavina stolz.

Sie dachte, Michela wolle ihr ein süßes und quälendes Geheimnis anvertrauen, dem gleich, das sie selbst hegte; das aber, was die Freundin ihr nun sagte, erfüllte sie mit Staunen und Neid.

»Höre! Ich habe den heiligen Ludwig gesehen. O, du glaubst es nicht? Doch, doch, du glaubst es! Diesmal ist es wirklich wahr und nicht wie damals, als ich zu sehen meinte, wie die Madonna im Schnee auf unserem Bildchen die Augen auf- und zumachte. Diesmal ist es wahr!«

»Gott! O Gott!« seufzte Gavina und preßte den Arm Michelas. Beide zitterten, als ob von einem Augenblick zum andern und vor ihren Augen die Erscheinung sich wiederholen solle.

»Wie denn? Wie? Erzähle doch!«

»Ja, heut’ in der Dämmerung. Ich war müde und hatte mich auf einen Augenblick auf die Treppe gesetzt, die von unserm Hof aus nach dem oberen Stock führt. Es war beinahe dunkel, denn der Mond schien noch nicht in den Hof hinein. Auf einmal höre ich etwas wie einen Glockenton und sehe etwas wie das Leuchten eines Blitzes, und da ging der heilige Ludwig über den Hof. Er sah mich nicht an. Er blickte zu Boden und hatte ein Kreuz in der Hand.«

Gavina seufzte nochmals. – »Du bist glücklich, Michela! Du stehst bei Gott in Gnade!« sagte sie neidisch.

Sie hatte sich immer gewünscht, gleich Michela sehen zu können. And in diesem Wunsche barg sich ein Teil Eigenliebe; denn ohne sich dessen bewußt zu sein, hielt sie sich dieser Gnade für ebenso würdig wie Michela.

Die Erzählung von dieser Erscheinung des heiligen Ludwig hatte ihr einen solchen Eindruck gemacht, daß sie einen von Michela ihr angeratenen Versuch unternehmen wollte. Sie fastete und fing eine Spitze für ein Chorhemd ihres Onkels an. Bei der Arbeit betete sie und dachte beständig an den heiligen Ludwig, denn den jungen Heiligen mit den großen, reinen Augen zu sehen verlangte sie.

Doch der erste Versuch mißlang. Zu viele Dinge lenkten sie ab. Sie hörte Paskas Geplauder, die Fragen, die ihr Vater, vor der Haustür sitzend, an die Vorübergehenden richtete; sie konnte nicht umhin sich über den Bruder zu ärgern, der seine Tage bei Zia Itria verbrachte und nur dann und wann nach Hause kam, um leise wie ein Dieb in den Keller zu schleichen und zu trinken. Und am Abend gar sah sie Priamo, der sich nach ihr umkehrte.

Am zweiten Tage nahm sie das Arbeiten und Beten in ihrem Zimmer vor, an dem nach dem stillen Garten gehenden Fenster sitzend. Aber um die Zeit, wo der Seminarist zum Kanonikus Sulis zu gehen pflegte, fühlte sie sich versucht an das andere Fenster zu treten. Dieses Verlangen, das ihr an jenem Tage sündhafter erschien als je, drängte sie zwar zurück, doch wenn sie an den Heiligen dachte, so sah sie ihn mit blassem Gesicht, die schmachtenden Augen fest auf die ihren gerichtet, und die Stirne von einem Kranz von schwarzen Haaren umgeben: er sah aus wie Priamo! Der Sonnenuntergang färbte die Berge rot, Dämmerung senkte sich über den Garten: die Erscheinung kam nicht.

Das dritte Mal, am Tage vor dem Feste der Madonna im Schnee genoß Gavina nur Wasser und Brot und arbeitete bis zum späten Abend, bis den malvenfarbenen Himmel über den Domplatz einfallende Goldstrahlen streiften. Aber die Erscheinung kam nicht, und Gavina weinte vor Kummer und vor Sehnsucht.

Am folgenden Tage war das hohe Kirchenfest. Schon am frühen Morgen kamen mehrere Freunde Herrn Sulis’ zu Gast, darunter eine Dame aus einem Dorf im Gebirge. Es war eine Hochgewachsene, stattliche Frau, in schwarz und gelb gekleidet, mit weitem Rock und Schneppenmieder, wie eine Dame des Seicento. Gavina begleitete sie zur Kirche und kniete neben ihr, zwischen zwei alten Hirten, die einen unangenehmen Stallgeruch verbreiteten.

Die Kirche war gedrängt voll. Die elegantesten jungen Damen saßen auf ihren zierlichen Klappstühlchen dicht unter der Kanzel beisammen; einige von ihnen scheuten sich nicht, sich nach den jungen Leuten umzusehen, die sich vor der Taufkapelle aufgestellt hatten, und sogar mit ihnen Blicke zu tauschen. Gavina blickte auf sie als auf die vornehmsten und verderbtesten Geschöpfe der Welt.

Auf einmal öffnete sich das Hauptportal der Kathedrale; und in einem Strom von Licht schritt der von Gold strotzende Bischof herein, zwischen den Domherren in rotseidenen Mäntelchen und den Seminaristen in spitzenbesetztem Meßhemd und blauen Bändern um den Hals. Zwei von ihnen trugen die gleißende Schleppe des Bischofs – und der eine war bleich und schön wie ein Engel, und die herabfallenden weiten Ärmel seines Meßhemdes sahen aus wie zusammengelegte müde Flügel. Als der Zug dicht an den Bänken vorüberkam, begegneten die trüben Augen des müden Engels den Augen Gavinas.

Die Seminaristen nahmen auf dem Chore Platz. Nachdem Priamo die bischöfliche Schleppe niedergelegt hatte, dachte er an nichts anderes mehr, als Gavina mit den Blicken zu suchen. Es war, als ob er in der von Licht und Farben strahlenden Kirche nichts anderes sähe als sie. Und sie fühlte ihre Kraft schwinden unter jenem Blick; sie selbst erschien sich verderbter als jene Mädchen, die nach den jungen Leuten blickten, und sie hätte weinen mögen vor Liebe und Gewissenspein.

Am Nachmittag begleitete sie die Dame bei einigen Besuchen. Zuletzt gingen sie zum Kanonikus Bellia, einem Landsmann der Dame.

Er wohnte in einem Häuschen außerhalb des Ortes mit einer alten Verwandten, die so naiv und einfach war wie ein Kind. Gavina, die außerhalb des Beichtstuhls eine große Scheu und eine fast geheimnisvolle Furcht vor ihrem strengen Beichtvater hatte, saß in einer Ecke des Besuchzimmers, das wie eine Kapelle aussah, und verhielt sich so stumm und steif, als wäre sie eine der hundert Heiligenfiguren um sie her. Die Frauen plauderten harmlos und liebenswürdig; der Kanonikus Bellia, eine hohe, gebeugte Gestalt mit olivenfarbigem, tief gefurchtem Gesicht, hörte zu, ohne nur die bläulichen Lider zu heben, und runzelte jeden Augenblick die dichten grauen Brauen, als ob er das doch so unschuldige Geplauder der beiden Frauen mißbillige. Ein einzigesmal nur lächelte er, als seine Verwandte sagte: »Wir wollen es nicht machen wie Bellia; er beklagt sich immer, daß ihn niemand grüßt, und im Gegenteil ist er es, der die Leute nicht ansieht.«

Auf einmal ging die Tür auf, und zwei schwarze Gestalten traten ein: Kanonikus Felix und sein Neffe.

2.Ein schöner Zwerg und eine Zwergin im Alter von achtzig Jahren, krüppelhaft und aller Übel voll, sie schwuren einander Treue.
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Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
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Public Domain

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