Читать книгу: «Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug», страница 4

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5. KAPITEL

Scherrer bat am nächsten Morgen zu einer Besprechung in sein Büro. Meyer war auch anwesend. „Haben Sie gut geschlafen?“, begrüßte Scherrer Anne. „Ich habe Sie heute Morgen in der Bahn nicht gesehen.“

Anne lächelte. „Ja, Herr Professor, ich habe gut geschlafen und dabei von den ägyptischen Gottheiten geträumt. Dann bin ich besonders früh aufgestanden und gleich ins Labor gefahren. Die Forschungen lassen mich nicht los.“

„Das kann ich verstehen“, sagte Scherrer. „Es ist auch zu interessant, was Sie vermuten. Ich habe mich im Internet kundig gemacht. Noch niemand hat Arabidopsis auf ein Todesgen untersucht. Wir betreten Neuland.“ Der Stolz war ihm anzuhören.

„Sie vermuten ein Todesgen in Arabidopsis?“, fragte Meyer. „Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich so um meine Pflanze gekümmert haben, Frau Neidhardt.“

Anne nickte in seine Richtung. „Sie waren ganz enttäuscht, Herr Meyer, als ich die Pflanze dann in der Hand hielt und über den festgelegten Lebenszyklus nachdachte. Da kam mir die Idee eines möglichen Todesgens.“

Meyer sah sie mit seinen durchdringenden schwarzen Augen an, und Anne konnte sich eines unheimlichen Eindrucks nicht erwehren. „Haben Sie noch lebende Zellen vorgefunden? Sie wissen doch, dass Pflanzenzellen potentiell unsterblich sind“, fragte er.

„Eigenartig, dass Sie mich das fragen“, antwortete Anne. „Erstens sind wir noch nicht sicher, dass wirklich von Zelle zu Zelle der Befehl zum Tode gegeben wird, zweitens habe ich tatsächlich bei der Untersuchung winzige Zellbereiche gefunden, die nicht abgestorben waren. Ich habe die Zellen für eine Kalluszüchtung vorbereitet. Aber ob es unsterbliche Zellen sind, können wir natürlich noch nicht sagen.“

Meyer nickte nachdenklich.

Scherrer hustete. Wie am Vorabend wurde der Hustenreiz stärker und stärker und löste sich endlich in einem krampfartigen Husten. Er sprang auf und wankte zu seinem Schreibtisch hinüber, das Taschentuch vor den Mund gepresst. Anne sah entsetzt, wie er sich vergeblich bemühte, Atem zu holen. „Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte sie.

Scherrer schüttelte trotz des schweren Anfalls den Kopf und keuchte ein „Nein!“ heraus. Als er endlich wieder Luft bekam, atmete er tief durch. Nach wenigen Minuten hatte er sich gefangen und nahm erneut am Tisch Platz. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte er. „Seit einiger Zeit plagt mich dieser Husten. Nachher werde ich zum Arzt gehen.“

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Anne.

„So weit ja“, nickte ihr Scherrer zu. „Bitte beginnen Sie mit Ihren Ausführungen.“

„Ich möchte zunächst den Mechanismus des Todes in der Pflanze kennenlernen. Zu diesem Zweck möchte ich eine große Anzahl Arabidopsispflanzen unterschiedlichen Alters bestellen. Ich denke, Tübingen wird uns bei der Beschaffung behilflich sein können.“

Anne sah Scherrer fragend an, aber Meyer antwortete: „Ich habe mich schon darum gekümmert. Wir werden die Lieferung im Laufe dieses Tages oder spätestens morgen bekommen.“

„Sie sind aber schnell“, warf Scherrer ärgerlich ein.

„Herr Professor, Sie wissen, dass wir nicht mehr viel Zeit haben“, sagte Meyer.

„Danke, Dr. Meyer, aber Sie hätten mich über die Bestellung informieren müssen“, erklärte Scherrer.

„Ich vermute“, fuhr Anne fort, „dass der Gehalt an Katalase für den Zelltod verantwortlich ist.“

„Ähnliche Forschungsergebnisse sind im Internet veröffentlicht“, bestätigte Scherrer.

„Die Berichte darüber liegen mir vor“, bestätigte Anne.

Meyer nickte anerkennend. „Erst wenn der Mechanismus klar ist, können wir versuchen das Todesgen zu finden.“

6. KAPITEL

Sybille Walter ließ nicht locker. Eines Tages betrat sie das Botanische Institut voller Herzklopfen. Anneliese Ehlert, die Sekretärin, saß im Empfang und schaute kurz auf, als Sybille Walter hereinkam. Sie sah gleich, dass sie eine Journalistin vor sich hatte.

„Sie wünschen?“

„Ich bin Journalistin bei der Welt der Wissenschaften“, stellte sich Sybille Walter vor und nannte ihren Namen. „Ich möchte einen Artikel über Herrn Professor Scherrer schreiben. Er ist weltbekannt und arbeitet jetzt in Karlsruhe. Unsere Leser interessiert, ob er weitere neue Forschungen plant. Ein Genetiker, der sich um einen Botanischen Garten bemüht, das klingt nach einer spannenden Geschichte.“

Anneliese war von der jungen Frau recht angetan. Ihr gefiel die frische Art, mit der Sybille gleich auf das Thema zu sprechen kam. „Sie möchten einen Termin bei Professor Scherrer? Das wird nicht einfach sein. Sie wissen, er ist ein Emeriti und entsprechend zurückhaltend.“

„Können Sie mir weiterhelfen?“, fragte Sybille. „Hier im Institut wird doch sicher auch an Arabidopsis geforscht.“

Überrascht schaute Anneliese Sybille an. War bereits etwas durchgedrungen?

Sybille sah ihr Erstaunen und freute sich, dass sie recht behalten sollte. Hier ging es um mehr als nur den Botanischen Garten.

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Anneliese.

„Internet“, antwortete Sybille. „Sie wissen doch, dass heutzutage kaum etwas geheim bleiben kann.“

„Dann wissen Sie es ja bereits“, bestätigte Anneliese. „Wir haben hier im Botanischen Institut den Auftrag, uns um den Botanischen Garten zu kümmern. Aber unsere Doktorandin, Frau Neidhardt …“

„Die junge Frau mit dem braunen Wuschelkopf?“, fragte Sybille.

„Sie kennen sie?“

„Aus der Straßenbahn. Man begegnet sich ja fast jeden Morgen“, beschwichtigte Sybille.

„Ja, die hat eine interessante Pflanze beim Umweltzentrum gefunden.“

„Jetzt sagen Sie nur, Arabidopsis?“, meinte Sybille.

„Ach, das wissen Sie auch schon?“, fragte Anneliese enttäuscht.

„Das ist die Pflanze, mit der alle Genetiker in der Botanik arbeiten“, sagte Sybille.

„Unser Doktor Meyer hat ihr die Pflanze gezeigt“, erzählte Anneliese, die sich freute, einmal etwas berichten zu können. „Eigentlich würden wir mehr Personal brauchen. Frau Neidhardt und Dr. Meyer arbeiten an den Geräten. Scherrer kümmerte sich um die Pflanzen und die Protokollierung der Vorgänge. Ich muss auch die Pflänzchen gießen, kontrollieren, hegen und pflegen, denn alles, was nur irgend geeignet war, wurde zum Brutschrank und zum Pflanzenschrank. Unser Botanisches Institut wurde in den letzten Wochen wieder ganz zum Forschungslabor. Meinetwegen könnte es so weitergehen. Den Professor habe ich selten so eifrig bei der Arbeit gesehen.“

„Ich glaube nicht, dass Sie darüber sprechen sollten“, unterbrach jemand den Redefluss mit schneidender Stimme. „Was hier im Institut geschieht, geht niemanden etwas an. Professor Scherrer arbeitet nur in eigener Sache. Wer sind Sie?“

Sybille drehte sich überrascht um. Vor ihr stand ein junger Mann mit eindeutig arabischen Gesichtszügen. Seine dunkle Haut verriet den Ägypter. Sybille ließ sich weder von den dunklen, strengen Augen noch von dem harschen Tonfall aus der Ruhe bringen. Sie fuhr mit der Hand durch ihr blondes Haar und freute sich, als sie sah, dass der junge Mann ihre Geste sehr wohl verstand. „Ich bin Sybille Walter von der Welt der Wissenschaften. Meine Zeitschrift berichtet auch über die Universität und die Institute hier in Karlsruhe. Wir haben mit Interesse wahrgenommen, dass hier ein berühmter Genetiker im Botanischen Institut arbeitet. Wundert es Sie wirklich, dass wir da Fragen haben?“ Sie sah ihn sehr selbstbewusst an und lächelte.

Dr. Meyer lenkte höflich ein. „Sie sollten sich einen Termin geben lassen, statt unsere geschätzte Sekretärin auszufragen“, sagte er und wandte sich an Anneliese.

„Hat Professor Scherrer in der nächsten Zeit einen Termin für ein Gespräch frei?“

Anneliese schüttelte den Kopf. „Leider nein. Ich wies Frau Walter schon darauf hin, dass Professor Scherrer Emeriti ist und ausschließlich private Forschungen betreibt.“

Dr. Meyer lächelte zufrieden. „Sie sehen, Sie sind umsonst gekommen“, sagte er. „Da wir aber das Interesse der Öffentlichkeit an unserem Institut zu schätzen wissen, wird sich Professor Scherrer voraussichtlich bei Ihnen melden.“ Damit wandte er sich ab und ging.

„Gehen Sie bitte auch“, bat Anneliese. „Mit unserem Doktor ist nicht zu spaßen.“

„Nur noch eine Frage. Wer ist das?“, bat Sybille.

„Dr. Meyer, ein bekannter Genetiker aus Ägypten“, flüsterte Anneliese.

Nachdenklich verließ Sybille das Institut. Viel Arbeit, zu wenig Personal und ein bekannter Genetiker aus Ägypten? Da bahnte sich doch eine interessante Geschichte an.

An ihrem Schreibtisch forschte sie im Computer nach einem Dr. Meyer, der in Karlsruhe arbeiten sollte. Sie fand viele Wissenschaftler mit diesem Namen und Titel, aber Dr. Meyer vom Botanischen Institut fand sie nicht.

Professor Scherrer selber ergriff die Initiative und ging einen Schritt weiter.

Bei jedem Hustenanfall schwang in Scherrers Gedanken die Ahnung einer schweren Krankheit mit. Er fühlte es und hoffte gleichzeitig, dass alles nur eine Erkältung sei. Seine schlanken Hände wählten die Telefonnummer seines besten Freundes Robert Neumann. Jahrelang hatten sie sich nicht gesehen, aber er kannte noch immer die Nummer der kleinen Praxis in Remchingen auswendig. Robert hatte seine Praxis nie erweitert, er war keiner von den Großen geworden. „Mir reicht das, was ich habe und was ich tun kann“, hatte er bei ihrem letzten Treffen gesagt, als Scherrer die Pläne für den Bau des genetischen Institutes auf der Morgenstelle in Tübingen in Angriff nahm. „Ich möchte wirklich etwas bewegen“, hatte er selbst damals gesagt. Jetzt hatte das alles einen bitteren Beigeschmack bekommen. Er hatte wirklich viel erreicht, aber die Uhr war trotz allem unerbittlich weitergelaufen.

„Praxis Dr. Neumann“, meldete sich eine junge Stimme.

„Hier Scherrer! Ist Dr. Neumann zu erreichen? Ich bin sein Schulfreund.“

„Ich stelle durch!“

Scherrer hörte eine ungläubige Stimme, die nachfragte, ob wirklich sein Schulfreund Professor Scherrer angerufen habe. Das war Roberts Stimme. „Ja, Dr. Neumann.“

„Robert?“

Für einen Augenblick war es still in der Leitung, dann kam die vorsichtige Rückfrage: „Edwin?“

„Ja, Robert, ich bin es.“

„Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesprochen.“

„Sprich das Wort Ewigkeit nicht aus, Robert. Ich brauche deine Hilfe.“

„So schlimm?“

„Ich glaube ja. Vor Wochen hat mich ein leichter Husten erwischt, aber er hörte nicht auf. Jetzt kann ich kaum mehr durchatmen und muss bei jeder kleinen Aufregung bis zum Erbrechen husten“, schilderte Scherrer seine Beschwerden. „Bei jedem Hustenanfall bekomme ich Angst, Todesangst, verstehst du?“ Er wunderte sich selber, wie leicht ihm die Worte über die Lippen kamen, obwohl er immer wieder unterbrechen musste, um sich zu räuspern.

Als er endete, war es still am Telefon.

„Robert?“

„Du musst herkommen, oder noch besser, du meldest dich gleich in einer Spezialklinik zum Röntgen an. So kann ich nichts sagen.“

„Robert! Es geht um etwas anderes.“

„Um was?“

„Ich“, Scherrer stockte. „Ich möchte noch ein Mal so richtig leben und brauche ein Medikament, was heute Nacht den Husten unterdrückt, dann gehe ich in die Klinik. Noch ein Mal, verstehst du, Robert?“

„Ich verstehe, ich kenne dich ja!“ Ein leises Lachen war am anderen Ende des Telefons zu hören. „Du sollst haben, was du brauchst. Kannst du einen Boten vorbeischicken? Aber morgen musst du dich tatsächlich in Behandlung begeben! Alles hat einmal ein Ende.“

„Alles?“

„Fast alles, unsere Freundschaft nicht.“

Bevor Scherrer „Danke“ sagen konnte, war aufgelegt.

Der Professor bat seine Sekretärin, einen Tisch im Schlossgartenrestaurant zu bestellen, rief selber bei der Welt der Wissenschaften an und ließ zu Sybille durchstellen.

„Frau Walter? Hier Scherrer, Professor Scherrer. Sie waren gestern in unserem Institut und haben Sich für unsere Arbeit interessiert. Ja, Frau Ehlert, meine Sekretärin, hat mich informiert. Ich glaube, wir kennen uns aus dem Fasanengarten? Ist das richtig? Dann würde ich Sie für heute Abend in das Schlossrestaurant einladen. Man spricht doch viel besser bei einem Glas Wein als in einem kalten Institut, meinen Sie nicht? Passt Ihnen heute Abend 18.00 Uhr? Seien Sie pünktlich!“

7. KAPITEL

Sybille Walter fuhr gleich nach dem Telefongespräch nach Hause, um sich für den Abend vorzubereiten. „Ich bin einer ganz großen Sache auf der Spur“, hatte sie ihrem Chef gesagt und gleich frei bekommen.

Erst vor dem Spiegel fand sie sich wieder. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie sich an die Autofahrt gar nicht mehr erinnern konnte. Wie war sie wohl gefahren? Den Gedanken an mögliche Strafzettel schob sie einfach von sich. Jetzt war etwas anderes wichtiger.

„Wie sehe ich aus?“, fragte sie ihr Spiegelbild.

„Willst du so zum Herrn Professor?“, fragte das zurück.

„Natürlich nicht! Aber wer weiß?“ Sie trug nur Spitzenhöschen und einen weißen Spitzen-BH. Prüfend ließ sie den Blick über die Figur gleiten. Sie konnte zufrieden sein: der Busen nicht zu groß, der Bauch flach. Prüfend legte sie die Hand dorthin. Ja, sie musste mit dem Essen aufpassen. Der Po wohl gerundet, alles war so, wie sie es mochte. Sie spürte eine kribbelnde Erregung, als sie sich so im Spiegel betrachtete.

„Wollen der Herr Graf den Tanz mit mir wagen?“, trällerte sie frei nach Mozart vor dem Kleiderschrank. Sie würde den schwarzen Hosenanzug anziehen, der ihre Figur so sehr betonte, und die durchsichtige, schwarze Bluse, die doch alles bedeckte. Darunter?

„Nichts“, sagte ihr Spiegelbild. „Du kannst dir das leisten.“

„Lass das!“, sagte sie und schloss die Schranktür. „Ich bin als Journalistin dort.“ Und wenn sie zunächst die Jacke anbehielte? Warum nicht? Sie öffnete erneut den Schrank und nahm entschlossen die Kleidung heraus.

Ihr Spiegelbild in der Schranktür grinste sie an. „Du wagst eine ganze Menge!“

„Aber gern!“, gab sie zurück.

Dagmar Scherrer fuhr mit ihrem Wagen langsam den Ring entlang nach Durlach. Der Tag war gut gelaufen. Die Verhandlungen hatten den gewünschten Erfolg gezeigt. Sie freute sich auf den Abend und kontrollierte ihr Aussehen im Rückspiegel. Das Make-up saß nach dem langen Tag noch tadellos. Auch die langen blonden Haare hielten in der hochgesteckten Frisur. Ob ihr Mann schon zu Hause sein würde? Heute lagen keine besonderen Konferenzen an. Jedenfalls hatte er nichts dergleichen gesagt. Sie bog in die Straße ein und sah zum Haus hoch. Aus dem Arbeitsraum ihres Mannes leuchtete schwach die Abendbeleuchtung. Er war also nicht da. Für einen Augenblick spürte sie die Enttäuschung wie einen Stich durchs Herz. Aber hatte sie wirklich erwartet, dass er schon zurück wäre? Mechanisch fuhr sie den Wagen in die Garage und ging zum Haus hoch. Irmgard kam ihr entgegen. „Ist mein Mann da?“, fragte sie und wusste schon die Antwort.

„Nein, er hat eine Nachricht gesandt, dass er spät kommen wird. In der Badischen Weinstube findet eine Konferenz für Journalisten statt. Es geht um …“

„Danke“, unterbrach Dagmar Scherrer. „Ich weiß.“ Sie ließ offen, was sie wusste.

„Möchten Sie zu Abend essen?“, fragte Irmgard besorgt. „Wo darf ich servieren?“

„Danke, ich werde warten.“

Irmgard knickste und zog sich zurück.

Als Dagmar Scherrer das Haus betrat, fiel ihr das Gesicht der Katzengöttin auf. Jeden Abend war sie an dieser Statue vorbeigegangen, aber heute hatte sie den Eindruck, die gemeißelten Augen würden sie aus dem schwarzen Granit anschauen. Erstaunt legte sie den Mantel ab und ging in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Durch das große Fenster sah man die Silhouette von Karlsruhe gegen den Abendhimmel. Sie blieb am Fenster stehen, bis die Schatten nicht mehr zu sehen waren und überall in der Stadt die Lichter angingen.

„Unsere Zeit war schön, Edwin, und ich danke dir. Jetzt gehen wir beide ganz unterschiedliche Wege“, sagte sie leise. Sie lauschte dem Klang ihrer Worte nach und vermisste die Trauer darin. „Jeder geht schon lange seinen eigenen Weg. Hoffentlich ist deiner ein guter Weg.“

„Brauchen Sie noch etwas?“, fragte Irmgard, die zur Tür hereinschaute.

„Nein, danke, Irmgard. Ich möchte nicht mehr gestört werden.“

Sie setzte sich in den großen Sessel und zündete eine Zigarette an. Es wurde dunkel im Zimmer. Die Skulpturen verschwammen zu Schatten, und nur die Glut der Zigarette leuchtete wie ein roter Stern.

Sybille hastete am Schloss vorbei durch den alten Botanischen Garten. Das Halbrund der Badischen Weinstube war nur wenig beleuchtet. Es war noch zu kühl, um draußen zu sitzen. Rasch stieg sie die Stufen hoch. An der Tür kam ihr Scherrer bereits entgegen.

„Wie schön, dass Sie kommen konnten.“ Scherrer lächelte überlegen. „Ich habe gedacht, dass Sie ein privates Gespräch vorziehen würden. Ich hoffe, es ist Ihnen recht so.“ Seine blauen Augen sahen sie auffordernd an.

Sybille nickte. „Sie hätten aber nicht so viele Umstände machen sollen“, sagte sie verlegen.

„Umstände?“ Er lachte mit angenehmer, tiefer Stimme. „Aber ich bitte Sie. Kommen Sie. Ich habe einen Tisch bei meinem guten Freund Natan bestellt. So hat man einen schönen Blick auf den Garten. Möchten Sie ablegen?“

Natürlich, sie hatte ja noch die Jacke an. Einen kurzen Augenblick zögerte sie, dann lächelte sie und sagte: „Danke, gerne, Herr Professor.“

Gewandt half er ihr aus der Jacke. Einen kleinen Augenblick bedauerte sie, dass sie nicht wenigstens einen BH unter der fast durchsichtigen, schwarzen Bluse trug. Aber dann sah sie die Überraschung in seinen blauen Augen aufblitzen. Man kann nur etwas sehen, aber noch nicht alles, dachte sie. Appetit machen darf man. Wäre ein Tisch bei Don Juan nicht ehrlicher gewesen, Herr Professor?

„Zum Wohl!“ Sie stießen mit Sherry an.

Dann kamen die Köstlichkeiten des Hauses auf den Tisch: Schnecken und Krustentiere. Professor, willst du mich prüfen? Aber das ist kein Problem, dachte Sybille amüsiert. Geschickt ließ sie sich die Gerichte schmecken. Schwieriger war es, den unterschiedlichen Weinen standzuhalten, die zu den Gängen serviert wurden. Ihm schien das nichts auszumachen. Er plauderte nebenbei über Journalismus und Gentechnik. Was er gesagt hat, ist wichtig, dachte Sybille, aber ich kann doch jetzt keinen Block herausnehmen und mitschreiben. So stellte sie interessierte Zwischenfragen und merkte, wie es für sie immer schwieriger wurde, dem Gespräch zu folgen. Plötzlich lachte sie laut. „Ich glaube, ich habe einen Schwips. Professor, Sie haben mich betrunken gemacht, weil Sie mich verführen wollen. Ich hätte auch so mit Ihnen geschlafen!“

„Schade, wir waren so gut ins Gespräch gekommen!“, bedauerte Scherrer.

Hatte sie alles verdorben? In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken und fanden weder Anfang noch Ende.

„Ich bringe Sie heim“, schlug Scherrer vor, als sei er um sie besorgt. Er stand auf, wartete, bis auch sie aufgestanden war, half ihr in die Jacke, nahm sie sorgsam am Arm und führte sie aus dem Restaurant, nachdem er dem Kellner rasch seine Karte gegeben hatte. Alles war so leicht, so schwebend.

„Professor, ich möchte Sie auf der Stelle küssen“, gestand Sybille. „Ich habe mich gleich in Sie verliebt, als ich Sie das erste Mal sah!“ Mit diesen Worten fiel sie ihm einfach um den Hals.

„Bitte rufen Sie uns ein Taxi“, forderte Scherrer den Kellner auf, der ihnen gefolgt war.

Als es da war, führte er Sybille zum Wagen und stieg mit ein. Sybille war wach genug, ihre Adresse zu nennen und auch noch die Haustür aufzuschließen. Aber dann fiel sie in seine Arme und schlief fast. Scherrer brachte sie in das Schlafzimmer ihrer kleinen Wohnung.

Der Mond schien ins Zimmer, als Scherrer sie verließ. An der Tür blieb er stehen und sah zurück auf die schlanke Frau im Bett. „Ich danke dir, Sybille“, flüsterte er. Sybille drehte sich, als habe sie etwas gehört, und schob die Decke zur Seite. Aber dann lag sie still auf dem Rücken und der Mond streute sein fahles Licht über sie. Ihr weißer Körper verschwamm mit dem Weiß des Bettlakens, nur ihr schwarzes Dreieck hob sich deutlich im Dunkel ab. Scherrer stutze einen Augenblick. „So ist das gemeint“, sagte er leise. „Ihr Ägypter habt gut beobachtet. Der Schoß der Isis! Die Gestalt der Göttin verschwimmt mit dem dunklen Blau des Himmels, aber ihr Schoß ist deutlich zu sehen.“

Ein plötzlicher Hustenanfall nahm ihm den Atem. Er versuchte ihn zu unterdrücken. Alles begann sich um ihn zu drehen, auch die weiße Frau auf dem Bett. Die Farben verkehrten sich ins Gegenteil: Das Laken und die Frau wurden schwarz, und weiß leuchtete ihr Dreieck im wilden Wirbel, bis nur noch ein leuchtender Punkt zu sehen war. Das ist das Ende, dachte Scherrer merkwürdig unberührt und hielt sich an der Tür fest. Werde ich die Götter sehen oder wird sich gleich ein schwarzer Wirbel auftun und mich herabziehen? Aber dann bekam er wieder Luft. Der Krampf in seinem Hals löste sich und er richtete sich auf.

Leise ging er zu Sybille und deckte sie zu. Dann hauchte er einen Kuss auf ihre Stirn und ging zur Tür. Geräuschlos öffnete er, sah sich noch einmal um und verschwand. Sirius! Wie nah war ich den Sternen, wie nah dem Paradies, dachte Scherrer, als er zur Haltestelle ging.

Der Morgen wurde dunkelblau, als Scherrer in die erste Bahn stieg. Er sah noch einmal zurück zu den Fenstern. Nein, dachte er, Leben will ich. Das Leben suche ich und nicht den Tod. Er unterdrückte den Husten, der wieder aufkommen wollte. „Deine Medikamente, Robert, haben genau so lange gehalten, wie ich es brauchte“, stellte er fest, als die Bahn anfuhr.

An der Haltestelle Durlacher Tor zögerte er. Sollte er aussteigen und gleich ins Labor gehen? Aber es zog ihn nach Hause, in sein Arbeitszimmer, zurück in die Höhle, ausgestattet mit Büchern und Wissen. Ja, meine Höhle, dachte Scherrer. Dort kann ich verwundbar sein, denn mein Wissen schützt mich.

Erst in Durlach stieg er aus und bog in die Straße zu seinem Haus ein. Danke, Robert, für das Spiel des Lebens, dachte er, es war so einfach, Sybille zu verführen. Unwillkürlich musste er lachen. Wer weiß, was sie sich vorgestellt hat. Sie war eine Puppe in meinen Armen. Oder war ich der Vampir in den ihren?, fragte er sich. Habe ich Lebenskraft in mich aufgenommen, als ich neben ihr lag und ihre jugendliche Wärme spürte? War es das, was ich gesucht habe? Die Lust eines alternden David, der nicht mehr warm wurde und dem man Abigail als Gefährtin gab? So berichtet es die Bibel. Die Menschen wussten sehr viel um das Geheimnis des Lebens. War sie meine Abigail?

„Ich war der Handelnde“, sagte er laut. „Ich war der, der ihr Leben gab. Ich war der, der die Fäden in der Hand hielt. Sie hat es genossen. Sie wird nichts bereuen.“

Er ging die Straße entlang. Ich fahre doch bald wieder los, dachte er, nach Remchingen zu Robert. Es war ihm, als hätte das jemand anders gesagt. „Ja“, sagte er laut. „Ich bin stark genug, auch den Weg zu gehen. Ich habe so viel geschafft. Ich kann noch leben.“

„Noch“, klang es zurück, „noch blühen die Bäume, auch in diesem April, noch erwacht das Leben.“

Scherrer sah zu seinem Haus hoch. Glühte da eine Zigarette in seinem Arbeitszimmer? Ein kleiner roter Punkt schien durch die große dunkle Scheibe. „Wartet Dagmar auf mich?“, fragte er sich. „Ich möchte ihr jetzt nicht begegnen.“

Er blieb auf der Straße stehen. Der rote Punkt verschwand. Sie hat auf mich gewartet. Sie wartet immer noch darauf, dass ich nach Hause komme. Aber mein Weg führt mich weit fort. Ich kehre nicht zu ihr zurück, nur in mein Haus.

Langsam ging er weiter. Der Morgen kam früh herauf. Die Schatten der Nacht wichen dem Licht eines neuen Tages. Neben der Haustür stand wie immer die Katzengöttin, die er einst aus Ägypten mitgebracht hatte. Scherrer legte seine Hand auf den Katzenkopf aus Granit. Das waren noch Abenteuer. Die Welt war so weit und alles schien erreichbar, dachte Scherrer. Wir hatten die Zukunft vor uns. Alle Wege waren offen. Wir glaubten, die Welt erobern zu können. Aber nun hat sie uns eingeholt.

Wieder fühlte sich der Katzenkopf eigenartig warm an. Scherrer registrierte es unbewusst und ließ ihn los, um den Schlüssel aus der Hosentasche zu nehmen. Nachdenklich schloss er auf, hielt einen Augenblick inne und lauschte. Wie ein Dieb betrete ich mein eigenes Haus, dachte er. Was habe ich wem gestohlen? Ihr die Jugend? Und die Zeit? Mir ein Stück eigenes Leben? Er lachte leise vor sich hin. Ich wollte noch einmal leben. Habe ich das?

Es war alles ganz ruhig im Haus. Niemand schien seine Ankunft zu bemerken. Lautlos ging Scherrer über die dicken Teppiche in sein Arbeitszimmer. Leichter Zigarettenrauch hing in der Luft. Dagmar hat auf mich gewartet, dachte Scherrer. Sie hat zwar darauf gewartet, dass ich wiederkomme, aber sie hat den Augenblick der Begegnung nicht gewollt. Es reicht ihr, dass ich im Hause bin. Schwer ließ er sich in die weichen Polster fallen. Eine unbekannte Müdigkeit überkam ihn. Man kann nur ein Stück Leben genießen, dachte er, immer nur ein ganz kleines Stück.

Die Uhr an der Wand tickte gleichmäßig. Scherrer nahm es im Halbschlaf wahr. Die Zeit anhalten, dachte er, das will ich. Ich will ja nur die Zeit anhalten. Ich will kein ewiges Leben. Ich weiß, dass ewige Jugend nicht möglich ist. Ich will die Zeit anhalten, diese verdammte Zeit anhalten! Der Schlaf hielt ihn schon zu sehr gefangen, als dass er sich noch hätte erheben können.

„Die Zeit ermöglicht uns Bewegung“, sagte jemand neben ihm. Er spürte die Nähe einer jungen Frau neben sich. Sie war schlank und sehr schön. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen. Es kommt nicht auf das Gesicht an, dachte er. Ein Freund aus Jugendtagen fiel ihm ein, der die Gesichter der jungen Frauen immer mit einem Tuch bedeckte, wenn er mit ihnen schlief. „Es kommt nicht auf die Gesichter an. Der Körper ist wichtig. Nur der Körper.“

„Wir brauchen den Körper“, sagte die junge Frau neben ihm. „Nur, wenn es einen Körper gibt, der zu uns gehört, können wir Gestalt annehmen. Nur dann können wir uns frei bewegen. Der Körper muss ewig sein.“

Der Gedanke der alten Ägypter, dachte Scherrer, die Seele kann sich frei bewegen, wenn sie eine Heimat hat, in die sie zurückkehren kann. Wenn sie ein Haus hat, ist das Ka frei. Hat sie es nicht, dann ist sie heimatlos und verweht im Winde.

„Ist das so falsch?“, fragte die Gestalt neben ihm. „Empfindest du es nicht genauso? Hier ist dein Körper. Nicht du, dein Arbeitsraum, deine Bücher, deine Sammlungen. Sie gehören alle zu dir. Auch du kehrst zurück, um wieder dich selbst zu finden. Du brauchst dein Haus, um deinem Ka die Freiheit geben zu können.“

Meine Bücher, meine Forschungen, meine Sehnsucht. Nicht dem ewigen Wandel unterworfen zu sein, dachte Scherrer. Träume ich? Verschwimmen Tag und Traum? Ich muss Anneliese anrufen. Sie muss den Brief an die Welt der Wissenschaften weiterschicken.

„Du musst gar nichts“, sagte die Frau neben ihm. Wie Dagmar, dachte Scherrer, sie würde dasselbe sagen: „Du musst gar nichts.“

Er wollte aufstehen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er wollte fortlaufen, aber er kam nicht voran. Natürlich, Serotonin lähmt die Glieder, dachte er. So entstehen Albträume.

„Das ist kein Traum“, sagte die Gestalt neben ihm. „Du fühlst meine Haut. Du fühlst meine Wärme. Es ist nicht die Wärme der jungen Frau von heute Nacht. Wir sind älter. Wir bestehen durch alle Zeiten.“

Nur nicht fragen, wer sie ist, dachte Scherrer. Ich will es nicht wissen. Er wagte auch nicht, den Kopf zu drehen.

„Du würdest es auch nicht verstehen, Scherrer“, sagte sie. „Du bist Wissenschaftler. Du hast deine Skulpturen gesammelt, weil es dir Freude machte, Gegenstände in der Hand zu halten, denen andere Leben eingehaucht hatten. Du hast das Leben gespürt, aber du hattest selber genug Leben, um nur die Kälte des Steins zu fühlen. Nun hast du gemerkt, dass der Stein warm ist.“

Scherrer verspürte keine Lust, zu diskutieren, und überließ sich dem Schlaf. Die Gegenstände um ihn herum begannen zu leben. Die Katzenstatue vom Eingang seines Hauses, die Göttin Bastet, ging durch den Raum. Er sah die schlanke Figur, den angedeuteten Rock tief auf der Hüfte, aber den Kopf nur von hinten. Es kommt auf den Kopf nicht an, dachte er lächelnd im Schlaf. Es geht um den Körper, nur um den Körper. Geschmeidig schlich Bastet durch den Raum und berührte die kleine Göttin Selekit, die aus ihrem Schlaf erwachte. Ihre goldenen Flügel erhielten schwarz-weiße Federn. Die Flügel begannen zu schlagen, aber Scherrers Augen wurden abgelenkt. Die Kanopen auf dem Bücherregal erwachten. Wieder war es Bastet, die ihnen mit der Hand über den Kopf strich. So wie ich es vorhin getan habe, dachte Scherrer, als ich den Stein zum Leben erweckte. War ihm der Stein nicht warm vorgekommen?

Zu spät! Scherrer sank tiefer in den Schlaf. Er sah noch, wie sich die Köpfe der Kanopen bewegten, und hörte, wie die Katze sagte: „Wir haben kein Recht, uns in die Welt der Menschen einzumischen. Die Götter und die Menschen leben in unterschiedlichen Zeiträumen. Wir können sie nicht verstehen, und sie verstehen uns nicht.“

Er hätte zu gern gewusst, was die Kanopen antworteten, aber er hörte sie nicht mehr. Wohlige Dunkelheit umgab ihn.

Er erwachte, wie es ihm schien, kurze Zeit später. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Morgen erhellte schon den Raum. Alles war an Ort und Stelle. Die kleine Selekit breitete ihre goldenen Flügel aus wie immer. Goldene Flügel, nicht die Farben der Geierflügel, die er im Traum gesehen hatte. Er streckte sich. Seine Glieder schmerzten von der ungewohnten Lage. Die Uhr schlug sechs. Die Zeit anhalten, dachte Scherrer. Mein erster und mein letzter Gedanke. Wenn man das könnte! Ich will keine Ewigkeit. Ich will kein Leben, das hin und her pendelt zwischen der Wirklichkeit und dem Traum. Ich will nicht durch eine Scheintür zwischen den Welten hin und her wandern. Sei es nun eine bemalte Scheintür in einem Grab oder der Bildschirm an meinem Computer, der schwarz wird und trotzdem etwas zeigt, was ich nicht sehen kann. Ich will die Welt der Götter nicht, aber ich will auch nicht im Tod versinken, im Nichts. Ich will nicht vergehen! Die Zeit anhalten! War da nicht Anne Neidhardt mit dem geheimnisvollen Todesgen in der Arabidopsis? Hatte sie eine innere Uhr gefunden? Eine unsterbliche Pflanze? Ob es das gab? Potentiell war das möglich, den Pflanzen möglich. Auch Tiere und Menschen hatten innere Uhren. Wie war das, wenn man die Uhr anhielt? Ob das ginge? Leben ohne Tod. „Der Tod ist das Geheimnis des Lebens, denn nur mit ihm ist so viel Leben möglich“, sagte einst Goethe, der Denker, der ungewöhnliche Naturwissenschaftler, der Mann, der andere Wege ging. Ob ich auch andere Wege gehen werde?

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22 декабря 2023
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9783960085577
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