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Читать книгу: «Geschichte der deutschen Literatur. Band 5», страница 5

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2.1.3 Das Programm der Modernen

Wie sieht nun das Programm des programmatischen Modernismus im einzelnen aus? Was läßt sich in den Debatten der ersten Generation von Modernen an Vorstellungen und Forderungen ausmachen, die die verschiedenen Gruppen und Grüppchen über alle Differenzen hinweg verbinden? Bei der Antwort mag uns ein weiteres poetologisches Gedicht aus der Frühzeit der Moderne helfen.

Modern
 
Modern! Modern! Was will das Wort denn sagen,
Das heut von Mund zu Mund geschäftig fliegt,
Mit lautem Weckruf stört das Wohlbehagen,
Das träg an der Gewohnheit Kette liegt?
Was will es uns für neue Botschaft bringen,
Was ist der Sinn, was ist des Pudels Kern?
Was will dies kühne, kampfesfreud’ge Ringen?
          Was ist modern?
 
 
Modern ist jener Drang zur Neugestaltung,
Der rücksichtslos die alten Formen sprengt,
Und allem feind ist, was in der Entfaltung
Des starken Geistes freie Tat beengt.
Modern ist jener Trieb, der eigenwüchsig
Dem Bann der Überlief’rung widersteht
Und sich nicht beugt in frommem Kinderglauben
Dem Götzenzauber der Autorität.
 
 
Modern ist jener schönste aller Züge
In unsrer Zeit freiblickendem Gesicht,
Der Zug, aus dem der Ekel vor der Lüge,
Aus dem die Liebe zu der Wahrheit spricht;
Der alle Täuschung haßt und überwindet
Der Schmeichelschönheit himmelblauen Dunst, –
Der nur die Schönheit in der Wahrheit findet,
Wahrheit im Leben, Wahrheit in der Kunst. (MM 133–134)
 

Auch das sind Verse aus dem Umkreis der Münchner „Gesellschaft für modernes Leben“; der Autor ist einer ihrer frühen Vorsitzenden, ein Theaterautor und Kritiker namens Julius Schaumberger (1858–1924). Wie bei Arno Holz und Bierbaum fungiert der Begriff „modern“ bei ihm zunächst und vor allem als ein „Weckruf“, mit dem die Zeitgenossen dem Trott der „Gewohnheit“ entrissen werden sollen, und wie dort wird diesem „Weckruf“ dadurch Nachdruck verliehen, daß ein schroffer Gegensatz zwischen dem Erbe der Vergangenheit und den Erfordernissen der Gegenwart aufgemacht wird.

Der „Bann der Überlieferung“

Die eine Seite bezeichnet das, was Schaumberger den „Bann der Überlieferung“ nennt, bezeichnet „Vergangenes“, das nicht vergehen will, das auch die Gegenwart bestimmen, sich auch dieser gegenüber mit „Autorität“ zur Geltung bringen will. Sein wichtigster Verbündeter ist die „Gewohnheit“. Sie macht aus der „Überlieferung“ einen Gegenstand des „Wohlbehagens“; als etwas Altbekanntes, Vertrautes erspart sie den Menschen ebensowohl das unangenehme Gefühl der Verunsicherung wie die unbequeme Anstrengung des Umdenkens, die mit dem Aufkommen von Neuem verbunden sind, und das pflegen sie eben mit „Wohlbehagen“ zu quittieren.

In Kunst und Literatur manifestiert sich der „Bann der Überlieferung“ vor allem in der „Autorität“ der „alten Formen“. Bierbaum nennt diese Formen „klassisch“ und „hellenisch“ und ordnet sie damit dem „Epigonenschweif der Antike“ zu. Zugleich macht er deutlich, daß sie ihre Pflege durch die „Formelnschule“ der Epigonen zu „papiernen“ „Phrasenhülsen“ hat erstarren lassen, die zu nicht mehr taugen, als – in Worten Schaumbergers – „der Schmeichelschönheit himmelblauen Dunst“ zu erzeugen, als einen „schönen Schein“ zu unterhalten, der zwar dem Bedürfnis nach „Wohlbehagen“ entgegenkommt, bei dem aber die „Wahrheit“ auf der Strecke bleibt, der letztlich nichts anderes ist als „Schminke“, „Täuschung“ und „Lüge“.

Ein „Drang zur Neugestaltung“

Dem wird ein „Drang zur Neugestaltung“ gegenübergestellt, der den „Bann der Überlieferung“ zu brechen sucht und überhaupt aller „Autorität“ den Kredit aufkündigt. Nicht „Gewohnheit“ und „Konvention“, sondern das Ungewöhnliche, Unkonventionelle soll nun die Sache von Kunst und Literatur sein, was immer darüber aus dem Bedürfnis des Publikums nach „Wohlbehagen“ werden mag. Das heißt vor allem, daß die „alten Formen“ „gesprengt“ werden sollen, auch bestens beleumdete und bewährte Formen, ja gerade sie; daß neue, „eigenwüchsige“ Formen geschaffen werden sollen, Formen, die allein dem „Heute“, allein der Lebenswirklichkeit des modernen Menschen verpflichtet wären. Was an neuen Werken entsteht, soll – so das Bild von Hauptmann – wie ein Baum „getrennt stehen“ und einzig „Kraft aus der Erde“ dieser Lebenswirklichkeit „saugen“, soll nicht mehr nach dem Himmel der klassischen Kunst schielen, soll in jeder Hinsicht selbständig, eben „eigenwüchsig“, autochthon sein.

Dabei soll auch auf jene Erwartung keine Rücksicht mehr genommen werden, die in der Vergangenheit mehr als alles andere den Zugang zur Kunst bestimmt hat: die Erwartung, im Kunstwerk etwas Schönem zu begegnen. Schönheit soll, wenn überhaupt, dann nur noch dort zur Darstellung kommen, wo es das Streben nach Wahrheit zuläßt. Hier wird der Bruch mit dem „Epigonenschweif der Antike“ besonders deutlich. Die Griechen und alle, die sich an ihren Begriffen von Kunst orientierten, huldigten dem Gedanken der Kalokagathie, der Vorstellung, daß alles Wahre schön und alles Schöne wahr sei. In der Moderne wird das Verhältnis von Schönheit und Wahrheit mehr und mehr ein prekäres; der „schöne Schein“ der Kunst steht nun immer schon in dem Verdacht, „Täuschung“ und „Lüge“ zu sein und nichts anderem zu dienen als der Anbiederung beim Publikum, als der „Schmeichelei“ und dem Erzeugen eines dickbramsigen, indolenten „Wohlbehagens“. Das bedeutet freilich nicht, daß man sich ein für allemal von dem Ziel verabschiedet hätte, „dem Schönen das Wahre (zu) versöhnen“; die Frage nach der Schönheit bleibt offen, aber sie bezeichnet nun eben ein Problem.

„Elan vital“

Bei der Entwicklung dieser Vorstellungen bedienen sich die Modernen einer Sprache, die überall das Dynamische ihrer Bestrebungen hervorkehrt. Da wird von dem Willen zur „Neugestaltung“ als von einem „Drang“ und einem „Sprengen“ von „Formen“ gesprochen, da ist von „Kampf“, „Begeisterung“ und „Wagemut“ die Rede, von einem „auferstehungsgewaltigen“ „Schwellen“, „Aufbrechen“ und „Herausdrängen“, „Rauschen“ und „Brausen“, von „Hämmern“ und „Klopfen“, „Treiben“ und „Sausen“. Es soll nun um ein dichterisches Wort gehen, das als Wort bereits die Züge einer „Tat“ hätte, das die „freie Tat“ eines „starken Geistes“ wäre. In solchen Wendungen kommt zum Ausdruck, daß sich die neue Kunst durchaus als ein dynamisches Unternehmen verstanden wissen will, als ein Schauplatz dessen, was der zeitgenössische französische Philosoph Henri Bergson (1859–1941) den „élan vital“ nennt, als ein Ort, wo sich mit der Kreativität des Menschen die schöpferische Kraft des Lebens überhaupt entfaltet, wie sie sich in einer drängenden, treibenden Bewegung äußert, die unentwegt alte Formen zerbricht und neue Formen aus sich entläßt und die durch nichts zum Stillstand zu bringen ist. Die neue Kunst will in diesem Sinne vor allem eine lebendige Kunst, und das heißt für sie zugleich: eine junge Kunst sein.

2.2 Jugend-, Lebens- und Nietzsche-Kult

Das Schlagwort „jung“

Wenn wir die Zeugnisse noch einmal Revue passieren lassen, in denen wir uns die Programmdebatte der Zeit um 1890 vergegenwärtigt haben, so werden wir bemerken, daß in ihnen das Wort „jung“ fast genauso oft vorkommt wie das Wort „modern“. Arno Holz, der gleich im ersten Vers seines „Buchs der Zeit“ bekennt: „noch sproßt der Bart mir nicht ums Kinn“, feiert die neue Zeit als eine „junge Zeit“, und Bierbaums Muse spricht von sich als von einem „Mädel von heute“, das heute lebe und „jung“ sei, das „die wagemutigen Jungen“ liebe und das sich überhaupt allem verbunden fühle, „wonach das Junge strebt“.

So hat man denn auch von den Münchner Modernen bald als von Jung-München, von den Wiener Modernen als von Jung-Wien und von den Berliner Modernen als von den Jüngstdeutschen gesprochen, in Erinnerung an die Jungdeutschen der Epoche des Vormärz. Die neue Kunst will eine junge Kunst sein, zu verstehen ebensowohl als eine Kunst der Jugend wie als eine neuerliche Jugend der Kunst. Die Vorherrschaft der alten Männer soll gebrochen, die Vergreisung der Kunst, ihre Erstarrung in Traditionen und Konventionen überwunden werden. Es dauert nicht lange, bis die Bestrebungen der Modernen mancherorts überhaupt unter den Begriff des Jugendstils22 gefaßt werden.

Aufwertung der Jugend

Auf solche Weise haben Kunst und Literatur an einer Entwicklung teil, die sich seinerzeit nicht nur in der Kultur, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bemerkbar macht. Denn in der Phase der Modernisierung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erreicht ist, erfährt der Lebensabschnitt der Jugend eine Aufwertung, die manche geradezu von der Entdeckung, ja von der Erfindung der Jugend hat sprechen lassen.23 Es sind die Jahre, in denen die sogenannte Jugendbewegung Gestalt annimmt, und mit ihr eine Jugendkultur, in der die Jugendlichen auf Distanz zur Welt der Erwachsenen gehen und unter sich sein können, in der sie sich ganz den spezifischen Bedürfnissen und Interessen ihrer Altersstufe hingeben können; man denke nur an die zahllosen Pfadfinderbünde und Sportvereine, die damals gegründet worden sind, oder an die Einrichtung besonderer Jugendherbergen.24 Zugleich lassen sich die ersten Anfänge jenes Jugendkults beobachten, der aus der Kultur der Moderne ebensowenig wegzudenken ist wie die Jugendkultur, nimmt jenes Klima Gestalt an, in dem man meint, einem Menschen in fortgeschrittenem Alter keinen größeren Gefallen tun zu können, als ihn mit dem Prädikat der Jugendlichkeit zu beehren.

Nun haben Kunst und Literatur seit jeher eine besondere Vorliebe für die Jugend gehabt. Wo man die Welt im Licht des Staunens, der „ästhetischen Thaumaturgie“ erkundet, wie das die erste, wichtigste Quelle der künstlerischen Produktion ist, da gerät man wie von selbst an die Lebensphase, in der sich das geistige Erwachen des Menschen vollzieht, in der er staunend die Welt für sich entdeckt, die erste große Liebe erlebt und die ersten wichtigen Lebensentscheidungen trifft, zumal hier auch am ehesten ein Stoff zusammenkommt, mit dem sich ein Publikum beschäftigen und unterhalten läßt. Und auch das Ausgehen auf Schönheit führt die Kunst zur Jugend, wird sie bei ihr doch besonders leicht fündig. Jenseits von Kunst und Literatur ist die Situation allerdings bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer eine andere gewesen; da hat die Gesellschaft der Jugendphase keineswegs eine besondere Bedeutung zuerkannt, hat sie den „Mannesjahren“ und dem Alter stets eine höhere Wertigkeit als der Jugend zugesprochen, wegen der größeren Lebenserfahrung, dem größeren Wissen und Können und der größeren Reife des Urteils, die dem Menschen im Laufe der Jahre zuwachsen.

Das ändert sich nun eben am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Modernisierung hat hier ein Tempo erreicht, das alles Wissen und Können so schnell veralten läßt, daß der Einzelne dabei nicht mehr mithalten kann, daß das, was er sich im Laufe seines Lebens an Kenntnissen und Fähigkeiten erworben hat, irgendwann nicht mehr zu gebrauchen ist, daß er seine Lebenserfahrung überlebt. Auch hat die solchermaßen in permanenter Runderneuerung begriffene Welt kaum noch Verwendung für eine gereifte Urteilskraft; weit lieber ist ihr eine „Schwarmintelligenz“, bei der die Urteilskraft durch „Networking“ ersetzt ist. Und so wird hier aus dem jugendlichen Mangel an Erfahrung, an Wissen, Können und Urteilskraft die Tugend der Offenheit für das Neue. Die moderne Welt braucht den Einzelnen als unbeschriebenes Blatt, braucht ihn als einen Menschen, der noch nicht festgelegt ist, der weder durch eingeschliffene Gewohnheiten noch durch gefestigte Überzeugungen daran gehindert wird, bei allem mitzumachen, was gerade an Novitäten aufs Tapet kommt. Sie braucht Flexibilität und Mobilität, Vitalität und Dynamik, und die finden sich am ehesten bei der Jugend.

„Jung“ vs. „modern“

Auch wenn die Verfechter einer neuen Kunst mit dem Begriff der Jugend letztlich in die gleiche Richtung zielen wie mit dem der Modernität, verleiht er ihrem Programm doch einen anderen Akzent. Das Wort „modern“ ist, wie wir gehört haben, ein Kunstwort der lateinischen Gelehrtensprache, eines, das sich zunächst in den romanischen Sprachen eingebürgert hat, und von ihnen aus dann auch in der deutschen; das Wort „jung“ hingegen ist ein urdeutsches Wort, ist germanischen Ursprungs. Auch bezeichnet „jung“ in seiner ursprünglichen Bedeutung etwas Natürliches, eine Phase in der Entwicklung der Lebewesen, die sie von Natur aus durchlaufen; „modern“ hingegen ist nicht nur ein Kunstwort, sondern meint auch etwas Künstliches, zielt es doch auf den neuesten Stand in der Entwicklung dessen, was die menschliche Gesellschaft an „zivilisatorischen Realitäten“ aus sich hervorbringt.

Hinzu kommt, daß man seinerzeit weithin der Überzeugung ist, die Deutschen hätten eine besondere Neigung zur Natur und einen besonderen Sinn für alles Natürliche, und das sei ein Zug, der sie gegenüber anderen Nationen auszeichne, der sie insbesondere von ihren unmittelbaren Nachbarn, den Franzosen, unterscheide, die sich eher über ihre Teilhabe an der künstlichen Welt der Zivilisation definieren würden – ein zentrales Bestandstück des nationalromantischen Denkens, das sich im 19. Jahrhundert in den Köpfen festgesetzt und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein seinen Platz im geistigen Hausrat der Deutschen behauptet hat.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß es seinerzeit durchaus einen Unterschied macht, ob eine moderne oder eine junge Kunst gefordert wird. Wer den Aufbruch in ein neues Zeitalter der Kunst als Aufstand gegen eine überbildete, überkünstelte Kultur und Rückkehr zur Natur verstanden wissen will und wer überdies ein solches Verständnis des Neubeginns als eine genuin deutsche Zutat zum Geschäft der Modernisierung begreift, der wird dem Begriff der Jugend den Vorzug vor dem der Modernität geben. Dazu wird er um so mehr geneigt sein, wenn er sich dessen bewußt ist, daß nicht nur das Wort „modern“, sondern auch die Sache, die es bezeichnet, aus dem Ausland nach Deutschland gelangt ist, daß nämlich die beiden Bewegungen, in denen die moderne Kunst und Literatur Gestalt annimmt, der Naturalismus und der Symbolismus, von Frankreich ausgegangen sind und insofern einer Übersetzung ins Deutsche, einer Transformation in den Kontext der deutschen Kultur bedürfen. Der Siegeszug des Begriffs Jugendstil zeigt an, daß das Ringen um eine neue Kunst und Literatur in der Tat bald schon als ein ureigenstes Anliegen der Deutschen begriffen worden ist.

Die Spannung zwischen den Forderungen der Modernität und der Natürlichkeit

Das Neben- und Gegeneinander der beiden Schlag- und Machtwörter „modern“ und „jung“ verweist auf eines der zentralen Probleme, an denen sich die Modernen in ihren Programmschriften abarbeiten, auf die Spannung zwischen der Forderung nach Modernität und der nach Natürlichkeit. Die Welt ist modern geworden, und auch die Kunst soll nun modern werden; das heißt: sie soll sich in einer Welt einrichten, die sich mehr und mehr von der Natur entfernt und den Kunstprodukten des menschlichen Verstandes, den Konstrukten von Wissenschaft, Technik und Industrie überantwortet hat. Zugleich soll sie aber auch dem Verlangen nach Natürlichkeit zu neuerlicher Geltung verhelfen. Gerade als ein „Mädel“, das „vom Scheitel bis zum Fuße modern“ ist, fordert Bierbaums Muse von der Kunst „Natur! Natur!“ – wie paßt das zusammen?

Das Problem ist alles andere als neu; es begleitet Kunst und Literatur spätestens seit dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung. Denn schon die Aufklärung ist ebensowohl für Fortschritt wie für Natürlichkeit eingetreten. Es war sie, die dem Prozeß der Modernisierung die entscheidenden Impulse gab, und zugleich sorgte sie dafür, daß der Ruf „Natur! Natur!“ in allen Bereichen des kulturellen Lebens eine Schlüsselstellung erlangte. Und das war für sie durchaus kein Widerspruch – im Gegenteil: nur beides zugleich machte Sinn für sie. Denn unter Fortschritt verstand sie wesentlich den Versuch, das, was der zivilisatorische Prozeß bis dato an Fehlentwicklungen gezeitigt hatte, was er an ungerechten Verhältnissen und überkünstelten, vertrackten Lebensformen, was er an Entfremdung über die Menschen gebracht hatte, im Rückgang auf die Natur zu korrigieren.

Dabei wies sie Kunst und Literatur eine entscheidende Rolle zu; als Mimesis, „Nachahmung der Natur“ sollten sie die Menschen erneut mit den natürlichen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens und mit ihrer eigenen Natur bekannt machen, mit dem, was am Menschen selbst Natur ist. Dem ist die Literatur dann in der Tat weithin gefolgt, nicht nur zu Zeiten der Aufklärung, sondern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, bis zu Klassik und Romantik und bis zu deren epigonalen Nachfolgern. So kam es, daß der „Busen der Natur“ für hundertfünfzig Jahre zu einem bevorzugten Aufenthaltsort der Literatur wurde.

Es ist also nichts Neues, wenn sich die Autoren, die um 1890 die Literatur der Moderne auf den Weg bringen, zugleich zur modernen Welt bekennen und diese mit dem Ruf nach Natur konfrontieren. Neu ist allerdings, daß sie dieser Ruf nicht mehr zu den „grünen Stellen“ (F. Th. Vischer)25 auf der Landkarte der Moderne, in die Rückzugsgebiete der „freien Natur“ führt, daß sie das, was sie Natur nennen, inmitten der „zivilisatorischen Realitäten“ selbst, mitten im „Dickicht der Städte“ aufspüren wollen. Wenn Bierbaums Muse von der Poesie „Natur! Natur!“ fordert, dann meint sie damit, daß sie sich in die „Düsternisse sozialer Not“ vorwagen, also die Brennpunkte des sozialen Wandels aufsuchen soll. Wie kann sie hoffen, daß die Kunst gerade hier wieder in Fühlung mit der Natur kommen würde?

Die Frage stellt sich vor allem gegenüber den Modernen, die sich der Bewegung des Naturalismus anschließen. Denn gerade sie haben sich mit besonderer Energie und Konsequenz an die Darstellung von „zivilisatorischen Realitäten“ gemacht. Da bekennt man sich also zu einem „Naturalismus“, schreibt man sich die Natur auf die Fahnen, und ist doch ständig in den „großen Städten“ und ihrem „Volksgewühl“ unterwegs, bewegt sich immerzu zwischen Fabriken und Maschinen, Eisenbahnen, Dampfschiffen und Telegraphendrähten – wie geht das zusammen?

Vitalismus

Die Antwort liegt in einem Begriff, der in den Programmschriften der frühen Moderne nicht weniger häufig anzutreffen ist als die Begriffe der Modernität und der Jugend: in dem des Lebens. „Natur“ zu „singen“ heißt für Bierbaums Muse, „durch das bunte Heute (zu) schweifen“ und „des Lebens lachende Blumen (zu) greifen“, heißt „all-alles was lebt mit Herzblut (zu) tränken und aus in goldnen Schalen (zu) schenken“. Unter dem Titel „Natur“ geht es zunächst und vor allem um das „Leben“, und gelebt wird überall, wo Menschen sind, in den „großen Städten“ nicht weniger als in der „freien Natur“. Was das Leben ausmacht, läßt sich mithin überall aufsuchen, wo Menschen ihr Dasein fristen, auch in den „Kohlengruben“ und Maschinensälen der modernen Welt, in ihren Bahnhöfen und Straßenschluchten, Mietskasernen, „Gefängnissen“ und „Spitälern“. Ja im „Dampf und Kohlendunst“ der Moderne, unter den erschwerten Bedingungen einer mehr als fortgeschrittenen Zivilisation kommt man dem Geheimnis des Lebens womöglich eher nahe als „auf rein botanischem Gebiet“ (Wilhelm Busch), in den klinisch reinen Lebensräumen der „freien Natur“. In diesem Sinne wird der Begriff des Lebens, wird der Vitalismus zum Dreh- und Angelpunkt im Weltbild der frühen Moderne; davon wird noch ausführlich zu handeln sein.

Nietzsche als Autorität der Moderne

Wer von den ersten Modernen beim Propagieren einer neuen Kunst und Literatur vor allem auf die Begriffe der Jugend und des Lebens setzte, der konnte sich dabei auf einen Philosophen berufen, der sich eben um 1890 anschickte, zu einer der maßgeblichen Autoritäten in allen Fragen von Kunst und Kultur zu werden: auf Friedrich Nietzsche.26 Wohlgemerkt: zu einer Autorität, zu einem Autor, den man beständig im Munde führt, weil man einer Position Gewicht verleihen und Diskussionen entscheiden kann, indem man sich auf ihn beruft – dem Institut der Autorität zu entkommen, ist offenbar nicht weniger schwierig, als die Mechanismen der Traditionsbildung außer kraft zu setzen. Schon Nietzsche hatte dazu aufgerufen, den „Bann der Überlieferung“ zu brechen und sich zu neuen Ufern aufzumachen, und schon er hatte dies im Namen des Lebens und der Jugend getan; daran ließ sich anknüpfen.

Nietzsches Begriff von Modernität

Eines allerdings haben die Modernen nicht von Nietzsche übernehmen können: seinen Begriff von Modernität. Denn modern nennt er eben jenes Übermaß an historischer Bildung, jene Übermacht von Tradition und Konvention, die er überwunden sehen will, und nicht etwa eine Haltung, die mit alledem Schluß machen will. Er kennt noch nicht die Vorstellung von „absoluter Modernität“, um die das Denken der Modernen kreist; sein Begriff von Modernität ist noch ein relativer, einer, der in die Dichotomie antik – modern eingebunden ist, wie sie in der „Querelle des Anciens et des Modernes“ zum Einsatz kam. Das mag auch daran liegen, daß seine Schriften bereits ein bis zwei Jahrzehnte früher als die Programmschriften der Modernen, in den Jahren 1872–1889 entstanden sind, also bevor der Begriff der Modernität auch in der deutschen Szene die geschilderte Umdeutung erfuhr.

Und so läßt sich seine Position durchaus noch als ein später Beitrag zur „Querelle“ verstehen, und zwar als Position eines „Ancien“, der den Schwächen der Moderne gegenüber an die Stärken der Antike erinnert. Anders als in der „Querelle“ üblich, bezieht er sich dabei freilich nicht auf die Phase in der Geschichte der Alten, die seit jeher als die Blüte- und Reifezeit ihrer Kunst und Kultur gilt, auf das „Goldene Zeitalter“ Athens, sondern auf das frühe, das dorische Griechentum, auf die Zeit, in der sich die Kultur der Griechen allererst selbst erschuf und noch weit davon entfernt war, sich historisch zu werden – mit einem Wort: auf die Jugendzeit des alten Griechenlands. Es ist sie, die er der Moderne als Gegenbild entgegenstellt, als Modell einer Kultur, die noch nichts von der unnatürlich-lebensfernen Künstelei weiß, an die sich die Moderne verloren hat, die wahrhaft kreativ, nämlich auf eine ursprüngliche, durch und durch originelle Weise schöpferisch ist, und damit zugleich wahrhaft lebendig. Solche historischen Reminiszenzen mochten sich die Modernen allenfalls gefallen lassen, ging es dabei doch nicht um das, was die Schöpferkraft der Griechen dem Abendland an Traditionen und Konventionen hinterlassen hatte, sondern um das Schöpferischsein selbst, und damit um das, was Kunst und Kultur jung und lebendig sein läßt.

Nietzsche und die Modernen

Wie dem auch sei – jedenfalls wird die Lektüre Nietzsches um 1890 zu einem absoluten Muß für alle, die up to date sein wollen. Das war vorher anders; da war die Wirkung Nietzsches noch äußerst überschaubar. Erst der Aufbruch in die Moderne schafft den Resonanzraum, in dem seine Schriften zur Wirkung gelangen, wie es umgekehrt diese Schriften sind, die den Programmen der Modernen ihre Konsistenz und Durchschlagskraft verleihen – eine Allianz, von der beide Seiten gleichermaßen profitiert haben. Und so wird Nietzsche zum wichtigsten Stichwortgeber und zur großen Inspiration, um nicht zu sagen: zum entscheidenden Bildungserlebnis für die Generation, die sich aufmacht, eine neue Kunst und Literatur zu schaffen. Es lesen ihn die Naturalisten, die Symbolisten und die, die dem Symbolismus die Gestalt des Jugendstils geben, auch die nächste Generation von Modernen, auch die Expressionisten und die Dadaisten werden ihn lesen, und so wird es bleiben durch die gesamte Geschichte der Moderne hindurch, bis hin zu den Protagonisten der Postmoderne-Debatte, für die seine Philosophie nicht weniger wichtig gewesen ist als für die ersten Modernen.27 Nietzsche ist und bleibt der Autor, mit dessen Studium man sich auf die Höhe des modernen Bewußtseins bringt.

Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinander dachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breit trat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles weitere war Exegese. Seine gefährliche stürmische blitzende Art, seine ruhelose Diktion, sein Sichversagen jeden Idylls und jeden allgemeinen Grundes, seine Aufstellung der Triebpsychologie, des Konstitutionellen als Motiv, der Physiologie als Dialektik – Erkenntnis als Affekt, die ganze Psychoanalyse, der ganze Existentialismus, alles dies ist seine Tat. Er ist, wie sich immer deutlicher zeigt, der weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche. (GBP 464)

So Gottfried Benn in dem autobiographischen Essay „Doppelleben“ von 1950; er will also selbst den Existentialismus, der um 1950 das Neueste auf dem Markt der „Ismen“ ist, bereits bei Nietzsche finden.

Nietzsches Kritik am Historismus

Was die erste Generation von Modernen bei Nietzsche sucht und findet, ist vor allem eines: eine philosophisch vertiefte Rechtfertigung des Bruchs mit der Überlieferung, die theoretische Sicherung ihres Versuchs, aus den soziokulturellen Mechanismen der Traditionsbildung auszubrechen. Nietzsche war wenn nicht der erste, so jedenfalls der schärfste Kritiker jenes Historismus, der im 19. Jahrhundert das kulturelle Leben beherrschte. Denn das 19. Jahrhundert setzte nicht nur auf den Fortschritt, sondern auch auf die Geschichte; wie es den Naturwissenschaften und der Technik mehr Raum gab als jedes Jahrhundert zuvor, so auch den historischen Wissenschaften und der Erinnerungskultur. In allen Bereichen der Kultur richtete es ständig den Blick zurück in die Geschichte, beschäftigte es die Menschen unausgesetzt mit den großen Zeiten, den Helden und Heldentaten der Vergangenheit, so wie in der Literatur mit der Dichtung und den Dichtern von Klassik und Romantik. Damit verband sich die Hoffnung, den Menschen in all der Bewegung, die durch den Fortschritt in die Welt gekommen war, einen Halt, eine Orientierung zu geben und die Dynamik der Modernisierung in geordnete Bahnen zu lenken – eine Rechnung, die nach Nietzsches Überzeugung nicht nur nicht aufgegangen war, sondern die verheerendsten Folgen gezeitigt hatte.

Die schlimmste Folge des Historismus ist für ihn „die historische Jugenderziehung des modernen Menschen“; so zu lesen in der „unzeitgemäßen Betrachtung“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ aus dem Jahr 1874. In ihr erblickt er eine Form der Erziehung, die den jungen Menschen dermaßen mit historischem Wissen eindeckt, daß in ihm jede spontane Lebensregung erstickt wird, die zu nichts anderem gut ist, als aus ihm einen „historisch-ästhetischen Bildungsphilister“, einen angepaßten Spießer zu machen. So plädiert er am Ende seiner „Kampfschrift“ für einen Aufstand der Jugend, der Schluß macht mit der historischen Bildung und eine Kultur auf den Weg bringt, die sich nicht mehr auf die „mittelbare Kenntnis vergangener Zeiten und Völker“, sondern auf die „unmittelbare Anschauung des Lebens“ gründet, die sich überhaupt von der „Krankheit der Worte“ befreit, die nicht mehr auf Theorien und „Begriffe“ setzt, sondern auf den „Instinkt der Jugend“, und damit auf den „Instinkt der Natur“.

Die zentrale These von Nietzsches „Kampfschrift“ ist der Gedanke, daß „die Übersättigung einer Zeit in Historie“, wie sie aus dem „Glauben an das Alter der Menschheit“, dem „Glauben, Spätling und Epigone zu sein“, erwachse, „dem Leben feindlich und gefährlich“ sei, weil sie die „Instinkte“ schwäche (NSW 1, 279). Die „Austreibung der Instinkte durch Historie“ (NSW 1, 280) hat für ihn gleich auf doppelte Weise schlimme Folgen: sie verhindert die Ausbildung „starker Persönlichkeiten“, und sie lähmt die produktiven Kräfte, die originelle, lebenskräftige kulturelle Leistungen entstehen lassen. So ruft er seinen Lesern zu:

(…) vergesst den Aberglauben, Epigonen zu sein. Ihr habt genug zu ersinnen und zu erfinden, indem ihr auf (das) zukünftige Leben sinnt; aber fragt nicht bei der Geschichte an, dass sie euch das Wie? das Womit? zeige. (NSW 1, 295)

In eben diesem Sinne erhebt er „Protest gegen die historische Jugenderziehung des modernen Menschen“, fordert er, „daß der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur im Dienst des erlernten Lebens die Historie gebrauche“ (NSW 1, 325).

Davon sind für ihn seine deutschen Landsleute besonders weit entfernt, haben sie sich doch seit langem schon in den „Widerspruch zwischen Leben und Wissen“ ergeben und vergessen,

dass die Cultur nur aus dem Leben hervorwachsen und hervorblühen kann; während sie bei den Deutschen wie eine papierne Blume aufgesteckt oder wie eine Ueberzuckerung übergegossen wird und deshalb immer lügnerisch und unfruchtbar bleiben muss. Die deutsche Jugenderziehung geht aber gerade von diesem falschen und unfruchtbaren Begriffe der Cultur aus: ihr Ziel, recht rein und hoch gedacht, ist gar nicht der freie Gebildete, sondern der Gelehrte, der wissenschaftliche Mensch(,) und zwar der möglichst früh nutzbare wissenschaftliche Mensch, der sich abseits von dem Leben stellt, um es recht deutlich zu erkennen; ihr Resultat, recht empirisch-gemein angeschaut, ist der historisch-aesthetische Bildungsphilister, der altkluge und neuweise Schwätzer über Staat, Kirche und Kunst, das Sensorium für tausenderlei Anempfindungen, der unersättliche Magen, der doch nicht weiss, was ein rechtschaffner Hunger und Durst ist. Dass eine Erziehung mit jenem Ziele und diesem Resultate eine widernatürliche ist, das fühlt nur der in ihr noch nicht fertig gewordene Mensch, das fühlt allein der Instinct der Jugend, weil sie noch den Instinct der Natur hat, der erst künstlich und gewaltsam durch jene Erziehung gebrochen wird. Wer aber diese Erziehung wiederum brechen will, der muss der Jugend zum Wort verhelfen (…). (NSW 1, 326)

Die Grundzüge der „historischen Jugenderziehung“ sehen für Nietzsche wie folgt aus:

(…) der junge Mensch hat mit einem Wissen um die Bildung, nicht einmal mit einem Wissen um das Leben, noch weniger mit dem Leben und Erleben selbst zu beginnen. Und zwar wird dieses Wissen um die Bildung als historisches Wissen dem Jüngling eingeflösst oder eingerührt; das heisst, sein Kopf wird mit einer ungeheuren Anzahl von Begriffen angefüllt, die aus der höchst mittelbaren Kenntniss vergangner Zeiten und Völker, nicht aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens abgezogen sind. Seine Begierde, selbst etwas zu erfahren und ein zusammenhängendes lebendiges System von eignen Erfahrungen in sich wachsen zu fühlen – eine solche Begierde wird betäubt und gleichsam trunken gemacht, nämlich durch die üppige Vorspiegelung, als ob es in wenig Jahren möglich sei, die höchsten und merkwürdigsten Erfahrungen alter Zeiten und gerade der grössten Zeiten in sich zu summiren. (NSW 1, 327)

Kein Wunder, „daß der Deutsche keine Kultur hat“ – „er (kann) sie aufgrund seiner Erziehung gar nicht haben“ (NSW 1, 328).

22.Dominik Jost: Literarischer Jugendstil. 2. Aufl. Stuttgart 1980.
23.Winfried Speitkamp: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1998.
24.Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920. Köln 1988.
25.Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. 3 Teile. Reutlingen Stuttgart 1846–1857. Teil 3, S. 1305.
26.Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart Weimar 2000.
27.Bruno Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde. Tübingen 1978. – Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart Weimar 1996. – Hans Ester, Meinert Evers (Hrsg.): Zur Wirkung Nietzsches. Würzburg 2001.
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 сентября 2023
Объем:
561 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783846342497
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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