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DIAMANTEN, GANOVEN UND EIN HAUCH VON EL DORADO

Nichts geht über einen guten Start ins große Lateinamerika-Abenteuer – und schlimmer hätte er kaum verlaufen können!

Ich warte auf meinen Rucksack am Gepäcksband des Maiquetía-Flughafens von Caracas in Venezuela. Bald taucht er auf und mich selbst bedauernd muss ich feststellen, dass er ein stattliches Gewicht aufzuweisen hat. Alles, was ich in den nächsten vier Monaten benötigen werde, habe ich hineingepfercht. Der Inhalt des Rucksacks muss für alle Lebenslagen herhalten. Ich will durch den Regenwald und durch die Wüste wandern, will hinauf auf die höchsten Gipfel des südamerikanischen Kontinents, will die zauberhafte Atmosphäre der Karibik erfühlen und zu ihren farbenfrohen Riffen hinabtauchen – und für alles will ich gut gerüstet sein. Viele Ziele, viel Gepäck – das geht wohl nicht anders.

Ich schultere meine überdimensionale Last und verlasse das Flughafengebäude. Ein Taxi? Nein, zu teuer! Zu Fuß verlasse ich das Gelände und steuere auf die Autobahn zu, wo ich mit einem lokalen Bus weiterkommen will. Ein Kleinbus hält neben mir, zwei junge Männer sprechen mich an. „So wie du mit all dem Gepäck hier herumläufst, bist du ein Ziel für Kriminelle. Pass auf!“ Ich bin total verwundert, gebe aber nicht viel auf diese Warnung, kann sie angesichts der freundlichen Menschen gar nicht verstehen und schlendere unbeeindruckt weiter zur Busstation. Der Hektik der Millionenstadt will ich noch für eine Weile fernbleiben und so fahre ich in das kleine Städtchen Macuto, direkt am Strand der Karibik gelegen.

Meer, einladende Strandbars, Kinderlachen – ich will noch vor dem Abend etwas von dieser entspannten Freizeit-Atmosphäre erhaschen. Schnell finde ich ein komfortables Zimmer für wenig Geld und bin schon in Badeklamotten auf dem Weg ins große Treiben. Da hält mich die Wirtin zurück. „Um elf Uhr abends musst du zurück sein, dann versperren wir alles.“ In einem Strandort voller Leben? Wo bin ich hier gelandet? In einem Kloster? In einer Jugendherberge mit vorsintflutlicher Hausordnung? Diskutieren will ich nicht, dazu ist der Nachmittag schon zu weit vorgerückt.

Minuten später plätschere ich im lauwarmen Nass der Karibik. Danach tauche ich ein in das quirlige Treiben an der Strandpromenade, trinke einige Gläschen an einer der belebten Strandbars, wo man schnell ins Plaudern kommt mit den umgänglichen Einheimischen. Ich genieße den Abend in vollen Zügen und fühle, wie sich nun alles in mir entspannt nach all der Aufbruchshektik der letzten Tage. Den Zapfenstreich habe ich längst vergessen.Als sich jedoch die Zeiger der magischen Elf-Uhr-Marke nähern, mischt sich eine seltsame Unruhe in das fröhliche Treiben. Binnen Minuten ist die umtriebige Menschenmenge von der Strandpromenade verschwunden, Türen fallen in ihre Schlösser, dicke Eisengitter werden vor die Eingänge geschoben, die Lichter verlöschen. Plötzlich bin ich allein. Gespenstisch wirkt das Ganze, fast unheimlich. Etwas anderes als der Heimweg bietet sich nun auch mir nicht mehr an und so erreiche ich meine Bleibe gerade noch rechtzeitig, ehe sie mit schweren Gittern und Ketten verrammelt wird. Warum all die Angst, von der vor Minuten noch nichts zu spüren war? In welches Horrorszenario mag sich dieses fröhliche Städtchen während der Nachtstunden verwandeln? Ich werde es nicht erfahren. Ausgepowert von der langen Reise genieße ich den Schlaf des Gerechten.

Schon früh am nächsten Morgen treibt es mich hinauf in die 1000 Meter hoch gelegene Hauptstadt. Ich brauche ein Visum für Guyana und dieses kann ich nur in Caracas bekommen. Auf der Botschaft läuft alles wie am Schnürchen. Nach einer Stunde habe ich den begehrten Stempel im Pass und freue mich auf einen geruhsamen Bummel durch das kleine Altstadtviertel. Von geruhsam keine Spur! Zum Heulen ist das Ganze, und das liegt sicher nicht an den historischen Bauten im spanischen Kolonialstil. Unruhe macht sich in den Gassen breit, Demonstranten ziehen lautstark durch das Viertel, Polizisten sind an jeder Ecke postiert. Ich meine, dass mich das Ganze nichts angeht, mache einen großen Bogen um den herrschenden Trubel und will mich auf meiner Sightseeing-Tour davon nicht weiter stören lassen.

Mit einem Mal kommt Bewegung in das aufgeheizte Treiben. Es knallt, Rauch steigt auf, die Menschen rennen in Panik davon, die meisten von ihnen direkt auf mich zu. Verheult sind sie alle und auch mir kommen gleich die Tränen. Die Menge reißt mich mit. Vor mir suchen einige Zuflucht in einer offenen Garage und ziehen schnell den Rollbalken herunter, ich kann gerade noch hineinschlüpfen. Vom Regen in die Traufe! Drinnen ist alles noch viel schlimmer, das Gas hat sich schon breitgemacht, in dem geschlossenen Raum glaube ich zu ersticken. Das ist nicht zum Aushalten! Ich reiße den Rollbalken wieder in die Höhe, halte die Hände vors Gesicht und renne, entfliehe, so schnell ich kann, dem gashaltigen Tumult. Einige Hausecken weiter habe ich es geschafft. Das Tränengas ist nicht mehr zu spüren und ich kehre dem wenig gastlichen Altstadtviertel den Rücken. Die Lust, meine Eindrücke mit meiner Kamera zu verewigen, ist mir gründlich vergangen.

In Gato Negro ergattere ich den letzten Sitzplatz in einem klapprigen Bus, der hinunter zur Küste fährt. In rasender Fahrt quietscht sich das Gefährt die kurvenreiche Straße hinab, das vorwiegend weibliche Publikum quietscht nicht minder auf seinem Weg von den Großstadt-Märkten heim zum häuslichen Herd. Gerade bin ich den reizenden Rauchwolken der Altstadt entkommen, da qualmt es schon wieder. Diesmal sind es die Bremsen des Busses. Dem Fahrer gelingt es im letzten Augenblick, sein Vehikel sicher an den Straßenrand zu lenken und es dort zum Stehen zu bringen, da lodern schon die ersten Flammen auf.

Die Venezuelanerinnen sind schöne Frauen, doch meist kurz an Wuchs. Diesen scheinbaren Mangel versuchen sie mit High Heels im XXL-Format zu beheben. Normalerweise berührt es mich wenig, wenn die Ladies auf Stelzen durch die Gegend trippeln. Anders ist es jedoch, wenn ich auf meinem Sitzplatz eingeklemmt bin, der Bus brennt und die geschätzten Damen es nicht fertig bringen, mit ihrem extravaganten Schuhwerk das Gefährt in annehmbarer Zeit zu verlassen. Hysterisches Kreischen, Stolpern, Fallen – nichts geht weiter und der beißende Rauch kratzt schon mächtig in meiner Kehle. Bevor ich mich unweigerlich dem Grill ausgeliefert sehe, hebe ich zwei der reizenden Ladies hinaus auf die Straße und dann kann auch ich endlich hinausspringen, fühle frische Luft auf dem Gesicht – durchatmen!

Augenblicke später hält ein anderer Bus neben uns, bereit, gestrandete, noch nicht gegarte Passagiere an Bord zu nehmen. Nun bin ich deutlich im Vorteil. Mit wenigen Schritten springe ich in den Bus, während die aufgeregte Damenschar einen verzweifelten Wettlauf auf Stelzen veranstaltet, um die letzten freien Plätze zu ergattern.

Am nächsten Morgen lande ich in Georgetown, der Hauptstadt von Venezuelas kleinem Nachbarn Guyana. Das Florentine’s gilt als gute Unterkunft, sauber und preiswert, also nichts wie hin! Suchend umkreise ich das kleine Gebäude. Eine Rezeption oder zumindest eine offene Tür scheint es hier nicht zu geben. Schließlich entdecke ich eine unscheinbare Pforte an der Seitenwand des Hauses und rüttle vergeblich daran – versperrt! Durch eine Luke sehe ich einen kleinen, stämmigen Jungen herbeieilen, bewaffnet mit einem riesigen Schlüsselbund. Ich kann hören, wie er ein Schloss nach dem anderen öffnet, wie er einen Balken nach dem anderen von der Türe wegschiebt. Schließlich finde ich Einlass und beziehe ein nettes, mit Plüsch überladenes Zimmer.

Eigentlich hätten nach diesem aufwendigen Schlüsselritual bei mir die Alarmglocken klingeln müssen, in meinem kindlich-naiven Vertrauen bemerke ich das jedoch nicht. Was soll mir schon passieren?

Ich nehme meine Kamera, schnalle den Bauchgurt mit all meinen Wertsachen um, schließlich steht noch der Geldwechsel an, und schlendere gut gelaunt durch die fast menschenleeren Straßen der Großstadt. Ein Foto hier, ein Foto da, die Banken halten noch Mittagspause, die Bewohner der Stadt ziehen es vor, die heißen Stunden des Tages in ihren Häusern zu verbringen. Drei dunkelhäutige Männer, alle etwa Mitte zwanzig, kommen des Weges und würdigen mich keines Blickes. Als sie auf gleicher Höhe mit mir sind, stürzen sie sich auf mich, versuchen, mich zu Boden zu reißen und an meine Habe zu gelangen. Zum Glück kann ich mich auf den Beinen halten. Da die drei nicht bewaffnet sind, lasse ich mich auf eine handfeste Schlägerei ein. Gleich am dritten Reisetag mein gesamtes Geld und meine Dokumente zu verlieren, das wäre der Super-GAU!

Ich spüre das Gezerre an meiner Habe, bekomme einiges an Schlägen ab, doch je länger diese Rauferei andauert, desto besser werden meine Karten. Autos halten an. Die Fahrer wagen sich zwar nicht heraus, scheinen die drei Jungs mit ihren Zurufen aber trotzdem mächtig zu stören. Die Burschen werden zunehmend nervöser, zwei von ihnen lassen ab von mir und laufen davon. Den dritten versuche ich festzuhalten, er kann sich losreißen und hetzt auf eine Slumsiedlung zu, ich voller Wut hinterher. Ein alter Mann tritt mir in den Weg. Mit sanfter Stimme sagt er: „Wenn du hier hineinläufst, bist du tot!“

Jetzt, wo die Jungs verschwunden sind, sammelt sich schnell eine hilfsbereite Menschenmenge um mich. Ich versuche, mich zu sortieren. Die Tasche meiner Hose ist zerrissen, doch meine Wertsachen sind noch alle da. Ich habe mein Hab und Gut retten können! Was ich erst später bemerke und was mich weit mehr schmerzt als die Schläge, die ich abbekommen habe, ist die Tatsache, dass meine Kamera zu Bruch gegangen ist. Zum Glück liegt noch eine zweite in meiner Unterkunft.

Minuten später taucht die Polizei auf, irgendjemand muss sie informiert haben. Und wie sie auftaucht! Vier Mann hoch, alle mit kugelsicherer Weste und geladenem Maschinengewehr! Sie lassen mich in ihren Wagen einsteigen und fahren mit mir zweimal um den Häuserblock, angeblich um die Täter aufzuspüren, doch die haben zurzeit natürlich Besseres zu tun, als selig durch die Gassen zu flanieren. Die reine Alibi-Aktion!

Trotzdem hinterlässt diese Pseudofahndung bleibenden Eindruck bei mir. Während der Fahrt richten immer zwei der Polizisten ihre Waffen hinaus auf die Straße. Wenn ein Passant dem Fahrzeug zu nahe kommt, zielen sie direkt auf ihn.

Langsam wird mir klar, in welche Stadt ich hier geraten bin. 100.000 Menschen leben in und um Georgetown, jeden Tag werden im Schnitt fünf von ihnen ermordet – ein gewaltig heißes Pflaster. Zum Glück beschränkt sich dieses Horrorszenario auf die Hauptstadt! Verlässt man diese, so findet man sich schnell in einer völlig anderen Welt – einer Welt ohne Kriminalität und Aggression, einer Welt ohne Belästigung und Rassismus, mit freundlichen Menschen und der Fröhlichkeit der Karibik.

Mich zieht es raus aus Georgetown. Ich will das Land Guyana erleben, nicht die sozialen Spannungen einer angsterfüllten Großstadt. Ich lerne Frank Singh kennen, einen ehemaligen Diamantensucher indischer Abstammung, der nun Trekkingtouren in die Regenwälder seines Landes organisiert. In den nächsten Tagen will er mit einem belgischen Pärchen zu einer sechstägigen Wanderung in den Dschungel aufbrechen. Ziel der Tour sind die berühmten Kaieteur-Fälle. Ich schließe mich der Gruppe an.

Am Morgen verlassen die beiden Belgier Kathleen und Mickey, Frank und ich die Hauptstadt. Wenig später finden wir uns in einer völlig anderen Welt wieder, einer Welt, die durch ihre Farbenpracht bezaubert – das Blau unendlich weiter Flüsse, der rote Sand, der alles zu bedecken scheint, das Smaragdgrün tropischer Vegetation. In das bunte Bild der Landschaft mischen sich kleine, farbenfrohe Dörfer voller Leben. Vorwiegend sind sie von Afroamerikanern bewohnt, doch zunehmend begegnen wir nun Ureinwohnern, meist aus dem Volk der Arawak oder der Patamona. Alles ist voll Leben, die Menschen versprühen Fröhlichkeit, nichts erinnert mehr an die lähmende, angespannte Atmosphäre von Georgetown.

Im Dörfchen Mahdia verabschieden wir uns für Tage von den Genüssen der Zivilisation. Das tun wir, wie könnte es anders sein, in der Dorfkneipe, wo wir schnell in eine muntere Runde hineingeraten, die biergetränkt ins Wochenende gleitet. Es fällt uns schwer, uns von der ausgelassenen Stimmung loszureißen und unser kurzes Gastspiel zu beenden. Wir leeren unsere Gläser, die vorgerückte Stunde treibt uns weiter.


Kleiner Laden in Mahdia – entspannter kann das Leben nicht sein.


Hauptstraße von Mahdia


Am Potaro-Fluss

Wenige Kilometer später endet die Piste am Ufer des Potaro, wo uns schon Melvil, unser Bootsmann, ein Indianer aus dem Volk der Patamona, erwartet. Im Licht der Abendsonne gleiten wir flussaufwärts nach Amatok. Amatok ist kein Dorf, es ist die Pforte zum Land der Goldschürfer und Diamantenwäscher und dient als Nachtlager für jene, die auf ihrem Weg aus oder in die Zivilisation hier gestrandet sind. Ein Gestell aus dünnen Baumstämmen, bedeckt mit einer riesigen Plastikplane – das ist der Komfort von Amatok. Mehr brauchen wir auch nicht, der Platz ist paradiesisch. Schnell knüpfen wir unsere Hängematten in das Holzgestell und eilen zum Fluss hinunter. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne berühren die Wasser des Potaro, als wir ins kühlende Nass eintauchen und die Hitze des Tages aus unseren Körpern fließen lassen. Bis spät in die Nacht hocken wir am Feuer, trinken Rum und lauschen andächtig den Geschichten der Abenteurer, die in der Nähe des Lagers leben und hier, abseits der Zivilisation, ein hartes Dasein fristen. Auch nach Jahren hoffen sie noch immer auf den großen Fund, der mit einem Mal ihr Dasein verändern soll. Frank hat uns eine Tour voller Abenteuer angekündigt. Ich spüre, dass er nicht zu viel versprochen hat.

Am nächsten Morgen sind wir begierig, endlich zu Fuß in den Dschungel aufzubrechen. Daraus wird nichts! Nur wenige Güter und Bräuche sind aus der Zivilisation bis hierher in die Wildnis vorgedrungen, doch die Sonntagsruhe hat es geschafft. Heute will und wird hier niemand arbeiten, Stillstand in Amatok! Kathleen, Mickey und ich nehmen es gelassen, die Umgebung hat genug zu bieten. Wir brechen auf eigene Faust auf, unser Forscherdrang wird auch am Sonntag nicht ruhen und voll auf seine Rechnung kommen.

Gleich hinter dem Lager erblicken wir die Ama-Fälle. In 20 Meter hohen Kaskaden stürzt der Potaro hier in die Tiefe. Unterhalb dieses Naturschauspiels queren wir den Fluss, folgen kaum erkennbaren Dschungelpfaden und geraten in die Welt der Gold- und Diamantensucher. Hin und wieder treffen wir auf einen mickrigen Bretterverschlag, die Unterkunft einer dieser wettergegerbten Gestalten in zerrissenen, kaum je gewaschenen Klamotten. Mit bescheidensten Hilfsmitteln verstehen sie es, in dieser alles überwuchernden Wildnis zu überleben und nach ihrem Glück zu schürfen. Selbst die menschliche Sprache scheint hier fast schon in Vergessenheit zu geraten, nur das Notwendigste wird ausgetauscht. Wortkarg, aber nicht unfreundlich laden sie uns zu selbst gedrehten Zigaretten und Rum ein. Welches utopische Lebenskonzept hat sie an diesen Ort verschlagen? Traum, Zuflucht und bitterer Fluch zugleich!

Der Pfad zu den Kaieteur-Fällen ist viel zu lang, als dass wir ihn zu Fuß in voller Länge gehen könnten. Hin und wieder werden wir Melvils schnelles Boot zu Hilfe nehmen, um unseren Weg abzukürzen. Solange wir dem Potaro folgen, wird er auch unser Gepäck transportieren. Wir werden es ihm danken, denn die verwachsenen Dschungelpfade würden mit schweren Rucksäcken für uns zur Hölle werden.

Doch vorerst versperren die Ama-Fälle jedes weitere Fortkommen auf dem Fluss. Zu viert schultern wir das schwere Boot, während Kathleen vor uns alle Hindernisse aus dem Weg räumt und uns vor Tücken auf dem kaum einsehbaren Untergrund warnt. In vierzig Minuten tragen wir das Boot auf einem ausgetretenen Pfad hinauf zum Ufer oberhalb der Fälle. Anschließend müssen wir noch den Motor und unser gesamtes Gepäck hinaufschaffen. Dann aber geht es erst so richtig los! Der Pfad zieht kaum erkennbar wie ein dünner Faden durch den alles bedeckenden Regenwald. Immer wieder kommen wir ins Stocken, müssen mit der Machete Hindernisse aus dem Weg schlagen. Auf schmalen, schwankenden Baumstämmen queren wir unzählige kleine Nebenflüsse des Potaro. Rechts des Pfades erblicken wir eine kleine Rodung mit einer riesigen Diamantenwaschanlage. Wie haben sie dieses Ungetüm in die Wildnis schaffen können? Der Maschinenlärm wirkt bizarr in diesem von Vogellauten beherrschten Regenwald. Wir sehen dem fremdartigen Treiben eine Weile zu, die Arbeiter lassen sich nicht stören, würdigen uns kaum eines Blickes.

Am späten Nachmittag erreichen wir das Lager Waratok. Noch viel kleiner als Amatok, finden wir dort nur einige in den Boden gerammte Holzpflöcke unter einem düsteren Blätterdach vor. Geschickt verwandeln Frank und Melvil mit wenigen Handgriffen, einigen Tauen und mitgebrachten Planen den regennassen Platz in eine wohnliche Stätte.

„Tok“ heißt Wasserfall in der Sprache der Patamona. Überall, wo eine Ortsbezeichnung mit „Tok“ endet, ist eine dieser Naturgewalten vorzufinden. Der Wasserfall ist herrlich, um dort ein Bad zu nehmen, doch am nächsten Morgen müssen wir wieder Boot und Gepäck neben den stürzenden Wassern nach oben schleppen. Oberhalb der Fälle wandern wir weiter, immer nahe am Ufer des Potaro, zum Lager Tukai. Von einem Lager ist außer einer Rodung hier nicht mehr viel zu sehen. Frank drückt mir seine Machete in die Hand und bittet mich, im Wald zwei Bäume für den Lagerbau zu fällen. Ich tue, wie mir geheißen, verschwinde im Wald und lege tüchtig los. Naiv beginne ich beim erstbesten Stamm mit dem Hacken. Als ich durch bin, muss ich feststellen, dass sich der Wipfel des gefällten Stammes nicht von den Ästen der Nachbarbäume lösen lässt. Ich bekomme den Baum nicht frei, auch nicht mit Mickeys Hilfe. Das passiert uns noch ein zweites Mal. Erst dann werden wir klüger und testen die Bäume schon vor dem Fällen. So fälle ich am Ende vier statt der geforderten zwei Stämme. Zu guter Letzt zaubern wir ein wohnliches Lager auf die kleine Rodung und erfrischen uns in den Fluten des Potaro.

Am nächsten Morgen überwinden wir 400 schweißtreibende Höhenmeter auf einem erstaunlich guten Pfad. Dann wird das Gelände flach, leicht abfallend. Die Erwartung steigt! Endlich sehen wir sie, zuerst fast verdeckt durch das dichte Blätterdach, dann frei und ungehindert von einer kleinen, felsigen Plattform aus – die Kaieteur-Fälle, eine der höchsten frei fallenden Wassermassen der Erde. 230 Meter stürzen hier die Fluten des Potaro aus dem Bergland Guyanas in die Tiefebene. Wir können die Augen kaum abwenden von der Pracht dieses gewaltigen Naturschauspiels und werden noch Stunden an diesem Platz verweilen.

Vor dem Sonnenuntergang erwacht die spektakuläre Szenerie noch einmal zum Leben. Der Himmel wird fast schwarz. Tausende Schwalben tauchen über den Fällen auf, wie aus dem Nichts, flattern minutenlang über der Kante, wo das Wasser in die Tiefe abbricht, um dann, alle gleichzeitig, in einem rasenden Sinkflug in ihre Nester hinter dem stürzenden Wasser einzutauchen. Alles ist wieder still, nur ein buntes Ara-Pärchen kreist noch über den Fällen.

Der Wald um Kaieteur wurde seit jeher von den Patamona-Indianern bewohnt. Vor langer Zeit drängten Carib-Indianer in das Gebiet der Patamona, es kam zu Kämpfen zwischen den beiden Völkern. Immer wieder suchten ihre Anführer nach Möglichkeiten, die Konflikte beizulegen, doch der mühsam ausgehandelte Friede war stets von kurzer Dauer. Bei beiden Völkern galt das Gesetz, wenn ein Mensch einen Wunsch mit einem großen Opfer verknüpft, dann ist diesem Wunsch zu entsprechen. Als sich die Führer der verfeindeten Völker wieder einmal zu Verhandlungen trafen, führte Kai, der Häuptling der Patamona, sein Kanu zum Fluss, bat alle, dass Frieden zwischen den Patamona und den Carib herrschen möge, und ließ sich den Fluss hinuntertreiben, wo er mit dem gewaltigen Wasserfall in die Tiefe stürzte. Seit diesem Tag heißen die Fälle Kaieteur in der Sprache der Carib und Kaitok in der Sprache der Patamona und es herrscht Friede zwischen den beiden Völkern.


Kaieteur-Fall – Guyana

Wochen- und monatelang bin ich nun mit meinem Rucksack kreuz und quer durch den Kontinent gereist und habe die Vielfalt seiner Attraktionen genossen. Ich habe die Idylle weißer Strände und die Farbenpracht fröhlicher Fischerdörfer erlebt, bin hinabgetaucht zu den bunten Riffen und düsteren Schiffswracks in den lauen Gewässern der Karibik, bin tagelang auf Dschungel-, Wüsten- und Bergpfaden gewandert und in kleinen Schritten immer weiter in den Süden gelangt, wo ich auf die höchsten Gipfel dieses farbenfrohen Kontinents steigen will. Wie sehr ich doch dieses Wechselspiel unterschiedlichster Erlebnisse genießen kann!

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9783702232344
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