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Februar

Mit Genuss schob Heinrich von Strauch den Löffel mit dem letzten bisschen Ei in den Mund. Dann stellte er die Schale, in der ihm die zwei Eier im Glas serviert worden waren, auf das Tablett, das vor ihm auf dem Bett thronte. Er gähnte herzhaft und streckte sich. Im Salon hörte er die Pendeluhr schlagen und zählte mit. Konnte es sein, das es schon elf Uhr vormittags war? Er grinste zufrieden und bedauerte, dass er nun aufstehen musste. Um ein Uhr hatte er ein Mittagessen mit dem Ernstl Huber und dem Baron Epstein. In dieser Besprechung sollte festgelegt werden, welche begleitenden Maßnahmen anlässlich der Börseneinführung der Strauch & Compagnon Bank-Aktien zu ergreifen wären. Es ging um die Unterstützung durch die Presse, durch Agenten und um Scheinspekulationen. Kurzum, sie wollten das ganze Register an Maßnahmen ziehen, um den Preis der Aktie in lichte Höhen zu treiben. Eine langweilige Angelegenheit, dachte er und gähnte.

Es klopfte an seiner Schlafzimmertüre, Jean trat ein. Der Majordomus verbeugte sich und fragte:

»Darf ich abservieren, Euer Gnaden?«

Heinrich von Strauch nickte. Eigentlich wäre es jetzt ganz wunderbar, sich rüberzudrehen und noch ein Randerl zu schlafen. Jean hob das Tablett weg, trat einen Schritt zurück und sagte leise:

»Vielleicht sollten Euer Gnaden jetzt aufstehen.«

»Warum sollt’ ich das?«

»Weil die Rotunde unten am Weltausstellungsgelände eingestürzt ist.«

Mit einem Schlag war er hellwach. Kerzengerade saß er im Bett und starrte in das lederne, von unzähligen Furchen und Falten gezeichnete Gesicht, in dessen Mitte eine einstmals zertrümmerte und nun stupsartige Nase saß. Wie eine Bulldogge sieht er aus, dachte Heinrich von Strauch. Unberechenbar und bissig. Laut sagte er aber:

»Wer verbreitet so einen Blödsinn?«

»Na, die Leut’.«

»Welche Leute?«

»Na, unten auf der Straße alle. Ganz Wien redet davon, Euer Gnaden.«

Heinrich von Strauch atmete tief durch und schloss kurz die Augen, um nachzudenken. Dann befahl er:

»Hol’ Er mir einen Dienstmann und ruf Er mir einen Fiaker.«

Dann wandte er sich von Jean ab und rief:

»Resi! Wo bist du? Bring mir auf der Stelle mein Gewand. Und mein Schreibzeug!«

Die Tür zum Vorzimmer wurde geöffnet, Resi eilte herbei, machte einen artigen Knicks und flötete:

»Was für ein G’wand wollen S’ denn heute anziehen, gnädiger Herr?«

Er betrachtete Resis bakschierliche Erscheinung und bekam unglaubliche Lust, sie zu sich ins Bett zu ziehen. Doch er beherrschte sich und replizierte:

»Etwas Legeres.«

»Aber Sie treffen sich doch mit dem Baron Epstein heut’.«

»Daraus wird nix. Also hurtig. Bring mir das Schreibzeug und mein G’wand. Aber das Schreibzeug zuerst!«

Im Nachthemd saß er wenig später auf der Bettkante und kritzelte auf einen Bogen Briefpapier folgende Nachricht:

Lieber Ernstl,

wie man hört, ist die Rotunde eingestürzt. Als Mitglied des Finanz-Comités der Weltausstellungs-Commission halte ich es für meine Pflicht, mir ein Bild von der Lage zu machen. Bitte führe die Unterredung mit Baron Ep­stein ohne mich. Was immer Ihr an Maßnahmen beschließt, Ihr habt meinen Sanctus.

Dein Heinrich

PS: Bitte richte dem Herrn Baron aus, dass ich ihn herzlich grüßen lasse und ich mich für mein Fernbleiben entschuldige.

Er faltete den Bogen zusammen, steckte ihn in ein Kuvert, entzündete eine Kerze, ließ das Wachs schmelzen und auf die Rückseite des Kuverts tropfen, um dann sein Wappen in das weiche Wachs zu pressen. Als er dies erledigt hatte, waren Unterwäsche und Socken bereits neben ihm auf dem Bett. Vor dem Bett stand Resi mit Hose, Hemd und Sakko. Gerade als er pudelnackt in die Untergatte24 steigen wollte, klopfte es. Ungeniert rief er: »Wer stört?«

Jean öffnete die Tür und meldete ohne mit der Wimper zu zucken: »Euer Gnaden, der Dienstmann is’ da.«

Heinrich von Strauch schlüpfte in die Unterhose, griff nach dem Brief auf seinem Nachtkästchen und befahl: »Gib Er diesen Brief dem Dienstmann. Er soll ihn dem Oberkellner Franz im Restaurant Sacher persönlich überbringen und ihm ausrichten, dass er den Brief dem Herrn Direktor Huber geben soll, der heute für ein Uhr Mittag einen Tisch reserviert hat. Hat Er verstanden?«

»Jawohl, Euer Gnaden.«

»Gut. Er kann gehen. Resi, komm, zieh mir die Socken an!«

*

»Wo geht’s hin, Euer Gnaden?«

»Zum Weltausstellungsgelände im Prater.«

»Am End’ gar zur Rotunde? Die soll eing’stürzt sein.«

»Hat Er das auch schon gehört?«

»Ganz Wien red’ von nix anderem.«

Der Fiakerkutscher schloss den Wagenschlag hinter ihm.

»Also dann, fahr’ ma, Euer Gnaden!«

Der Fiaker ruckelte los, und Heinrich von Strauchs gute Laune, die er noch vor einer halben Stunde gehabt hatte, war perdu. Nun hatte sich in seinem Inneren ein gewaltiges Sorgengewitter zusammengebraut. Eine riesige schwarze Wolkenwand, die ihn niederdrückte. Wenn die Rotunde, das zentrale Bauwerk der geplanten Weltausstellung, tatsächlich eingestürzt war, dann gute Nacht. Dann konnte die Weltausstellung keinesfalls mehr wie geplant am 1. Mai ihre Pforten öffnen. Das würde katastrophale Folgen für die gesamte Wirtschaft und natürlich auch für die Börse haben. Und das ausgerechnet jetzt, wo die Aktien seiner Bank an der Börse lanciert würden. Nicht auszudenken, wenn die Aktien in einen Baisse-Strudel gerieten und nicht nur seine Bank, sondern auch seine Baugesellschaften sowie seine Maklerbank und die Büros seiner Agenten mit in den Abgrund rissen. Heinrich von Strauch begann zu schwitzen, obwohl es ein sehr kalter, wenngleich auch sonniger Wintertag war. Angst. Nackte Angst hatte ihn gepackt. All das, was sein Vater über Jahrzehnte aufgebaut hatte, würde er in einem halben Jahr verspielt haben. Niemand würde mehr mit ihm Geschäfte machen. Er wäre ein lebendiger Leichnam, ein Aussätziger, den alle mieden. Schüttelfrost erfasste ihn, und er verschränkte die Arme vor der Brust. Er zog den Kopf ein und wärmte seinen Nacken im Pelzkragen seines Mantels. Er schloss die Augen, zog den Zylinder tief ins Gesicht und verkroch sich in einer Ecke des Fiakers. Schließlich hörte er den Kutscher:

»Euer Gnaden, die Rotunde steht noch. Das is alles a riesengroßer Blödsinn, was da g’redet worden is.«

Heinrich von Strauch erwachte aus einer Schockstarre und schaute beim Fenster hinaus. Und tatsächlich: Vor ihm ragte das gewaltige stählerne Kuppelgerüst der Rotunde unbeschädigt in den strahlend blauen Winterhimmel. Der Fiaker fuhr im Schritttempo, da er sich den Weg durch Tausende Schaulustige bahnen musste, die zu Fuß in den Prater gegangen waren, um die eingestürzte Rotunde zu begaffen. Die Menschenmenge stand da und starrte das unbeschädigte Bauwerk an, als ob es das achte Weltwunder wäre. Er ließ den Kutscher anhalten und stieg aus. Den Kopf hoch erhoben, den Blick auf das Stahlskelett der Kuppel gerichtet, bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Hinter sich hörte er den Kutscher rufen:

»Euer Gnaden, was is jetzt? Sie müssen noch die Fuhr bezahlen.«

Ohne sich umzudrehen, rief er:

»Wart’ Er da! Wir fahren wieder zurück.«

Erhaben und unversehrt stand sie da: die Rotunde, das Wahrzeichen der Weltausstellung. Das Symbol des wirtschaftlichen Aufschwungs Österreich-Ungarns. Unbeirrbar – einem Schlafwandler gleich – ging Heinrich von Strauch auf das gigantische Bauwerk zu. Plötzlich hörte er eine Mädchenstimme neben sich:

»Aua! Sie Grobian, Sie!«

Wie aus einem Traum erwachend, schüttelte er den Kopf und sah in das ganz entzückende Gesicht eines Mädels, das ärgerlich die Brauen zusammenzog. Gentleman, der er war, murmelte er:

»Oh, pardon.«

»Das hilft ma nix. Sie trampeln auf meinen Zecherln umadum und sagen dann nur oh, pardon!«

Entzückend die Kleine, dachte er und sagte höflich: »Verzeihen Sie vielmals. Ich wollt’ Ihnen wirklich net wehtun.«

»Das haben S’ aber. Der ganze Haxen tut ma weh. So arg sind S’ mir auf die Zech’n g’stiegen.«

»Das tut mir aufrichtig leid. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten? Damit ich Sie stützen kann.«

»Das ist wohl das Mindeste, was Sie tun können.«

»Was erwarten Sie denn?«

»Na, dass Sie mich mit an Fiaker heimfahren. I kann kaum hatschn25.«

»Es ist mir eine Freude, Sie heimzubringen. Kommen S’, mein Fiaker steht da hinten irgendwo.«

Die Kleine, sie hieß übrigens Rosalia, nannte eine Adresse in der nahen Leopoldstadt, und Heinrich von Strauch befahl dem Kutscher, zuerst dorthin zu fahren. Entspannt sah er beim Fenster hinaus und genoss die Fahrt durch den wunderschönen Wintertag. Auch das Mädel bereitete ihm Vergnügen. So eine kleine freche und wirklich hübsche Person! Als sie über den Praterstern fuhren, sagte er plötzlich:

»Mein Fräulein, was halten S’ davon, wenn ich Sie noch ein bisserl spazieren führe? Fahr ma doch die Prater Hauptallee entlang bis zum Lusthaus. Heut’ is so schön, das ladet zu einer Spazierfahrt ein.«

»Sie sind ja ein ganz ein Schlimmer. Zuerst trampeln S’ auf mir umadum, und jetzt wollen S’ mit mir spazieren fahren … Na, von mir aus. Fahr ma!«

Er machte ein Fenster des Fiaker-Coupés auf und rief nach vorn:

»Umdrehen, umdrehen! Wir machen noch einen kleinen Ausflug in die Prater Hauptallee zum Lusthaus.«

Nach einigen Sekunden drosselte der Fiakerkutscher den Trab seiner Pferde und rief:

»Sehr wohl! Ganz wie Euer Gnaden wünschen!«

Der Fiaker wendete und fuhr in die Prater Hauptallee. Hier herrschte reger Kutschenverkehr, denn auch andere wohlbestallte Herrschaften hatten an diesem strahlend schönen Tag Lust auf eine kleine Praterpartie bekommen. Er fixierte das Mädel vis-à-vis. Wie alt sie wohl war? Achtzehn, neunzehn oder gar schon zwanzig? Sie hatte eine kindliche Figur, die Mimik ihres Gesichtes war aber die einer Erwachsenen. Als sie merkte, dass er sie beobachtete, streckte sie ihm plötzlich einen Fuß hin. Dabei rutschte ihr Rock nach oben, und er hatte freien Ausblick nicht nur auf ihre Stieflette, sondern auch auf ein wohlgeformtes Damenbein, das fein bestrumpft war.

»Da! Da, schaun S’ her! Da sind Sie mir draufgestiegen. Wie ein Elefant. Meine Zecherln sind ganz marod.«

Sie zog das Bein ein, bückte sich, schnürte ihre Stieflette auf und ließ sie auf den Boden der Mietdroschke fallen. Dann legte sie ihren bestrumpften Fuß ungeniert in Heinrich von Strauchs Schoß.

»Zur Wiedergutmachung müssen S’ mir jetzt meine Zecherln massieren. Aber vorsichtig! Sie ungestümer Elefant, Sie!«

Er betastete den zarten Frauenfuß und dachte sich: O, là là! Er streichelte zuerst die Zehen, dann den Rist und die Ferse, schließlich die Wade hinauf zum Schenkel.

Plötzlich gurrte das Mädel:

»Wo haben S’ denn Ihre Finger? Mein Fuß ist weiter unten und net dort, wo Sie jetzt sind.«

»Und was ist, wenn mir das sehr gefällt. Das Platzerl, wo ich jetzt bin?«

»Sie sind ein Wüstling! Ein ganz ein Schlimmer!«

Statt ihm aber ihr Bein zu entziehen, lehnte sie sich zurück und ließ ihn weitermachen. Plötzlich hielt er inne, öffnete das Coupéfenster und rief nach vorne: »Beim nächsten Seitenweg biegen wir bitt’ schön ab. Fahr’ ma einfach ein bisserl in die Au hinein. Dorthin, wo net so viel Verkehr ist.«

»Wie Euer Gnaden wünschen.«

Als der Fiaker mitten in der Au zu stehen kam, weit weg von der stark befahrenen Hauptallee, stieg Henrich aus, ging zum Kutscher, holte einen Fünfguldenschein aus seinem Portemonnaie und befahl ihm:

»Gehen S’ doch a Viertelstund’ spazieren. Dafür bekommen S’ die fünf Gulden extra.«

Der Fiaker kletterte von seinem Kutschbock, schnappte den Schein und sagte grinsend:

»Stets zu Diensten, Euer Gnaden.«

Und während er die beiden erhitzten Rösser mit Kotzen26 abdeckte, war Heinrich von Strauch schon wieder drinnen im Coupé, wo er umgehend damit fortfuhr, Rosalias bezaubernde Waden und Schenkel zu erkunden.

Später, als die tief stehende Wintersonne die kahlen Bäume des Praters lange Schatten werfen ließ, ging es in gemächlicher Fahrt die Prater Hauptallee zurück. Er hatte seinen Kopf an Rosalias Brust gelehnt und gab sich einem Tagtraum hin. Das Mädel kraulte ihn am Kopf. Eine Liebkosung, die ihm sehr behagte. Schließlich beugte sie sich zu ihm. Aber statt ihm ein Busserl auf die Wange zu geben, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Dem Fiaker hast du fürs Spazierengehen fünf Gulden gegeben. I hätt’ gern zehn Gulden, gell? Weil i ja einiges mehr geleistet hab’ als der.«

Heinrich von Strauch musste lachen. Ihre Chuzpe gefiel ihm. Und so zwickte er den weiblichen Frechdachs in die Seite und replizierte:

»Wo du recht hast, hast du recht.«

*

Liebtraud von Strauch war aufgeregt. Dieser Gemütszustand hielt bei ihr nun schon seit Tagen an. Genauer gesagt seit jenem Nachmittag, als ihre liebe Freundin Helene von Dombusch sie nachmittags besucht hatte. Und als sie so dasaßen und über mehr oder weniger Belangloses plauderten, war es plötzlich aus Liebtraud herausgeplatzt. Die Klage, dass ihr Herr Gemahl überhaupt keine Notiz mehr von ihr nähme und dass sie sich völlig einsam und darüber hinaus auch nutzlos fühle. Helene hatte nach Liebtrauds Klage eine Zeit lang geistesabwesend an ihrem Tee genippt und nichts gesagt. Das führte dazu, dass die Hausherrin befürchtete, ihre Offenheit sei der Freundin peinlich. Als sie sich dafür entschuldigen wollte, antwortete diese plötzlich:

»Geschätzte Liebtraud, nach kurzem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Sie etwas Neues wagen müssen. Etwas, das Sie mit Freude erfüllt und das eine sinnvolle Tätigkeit darstellt. Mein Vorschlag: Machen S’ doch einen Salon.«

Dieser freundschaftliche Rat hatte Liebtraud zutiefst aufgewühlt. Ihre ersten Reaktionen waren eine Mischung aus Begeisterung und Zweifel. Hatte sie die nötige Bildung und geistige Größe, um einen Salon führen zu können? Würde sie einer Frau von Wertheimstein jemals das Wasser reichen können? Oder war ihr Wunsch, einen eigenen Salon ins Leben zu rufen, nur ein Anfall von Größenwahn und Selbstüberschätzung? Andererseits hatte ihr Vater seinerzeit, um der geliebten Tochter ein solides geistiges Fundament für ihr zukünftiges Leben zu gewährleisten, die besten Lehrer ins Haus geholt. Ja, sie hatte Latein gelernt und konnte sowohl Cicero als auch Tacitus oder Ovid zitieren. Sie war in Französisch unterrichtet worden und hatte später dann sowohl Voltaire als auch die Komödien Molières im Original gelesen. Apropos Molière: Da fiel ihr Eduard von Bauernfeld ein. Der war ihrem Urteilsvermögen nach so etwas wie ein österreichischer Molière. Den könnte sie doch einladen! Der würde vielleicht aus einem seiner neuen Stücke rezitieren. Andererseits war Bauernfeld Stammgast im Salon der Frau von Wertheimstein. Aber all das wollte sie nicht alleine entscheiden. Nein, das musste sie unbedingt mit Heinrich besprechen.

*

Heinrich von Strauch biss in ein resches Buttersemmerl, griff mit schläfriger Zufriedenheit zum Kaffeehäferl, machte einen Schluck und stutzte. Hatte da jemand geklopft? Er kaute weiter und vernahm neuerlich ein leises Klopfen. Wer war das in aller Herrgottsfrüh? Nachdem das leise Klopfen ein drittes Mal erklungen war, rief er verärgert: »Wer stört?«

Vorsichtig wurde die Schlafzimmertür geöffnet, und zu seinem maßlosen Erstaunen sah er Liebtraud in der Tür stehen.

»Du hier? Was willst du?«

»Verzeih bitte mein Eindringen in deine Privatsphäre. Ich möchte dich nicht lange stören. Ich hab’ nur eine Frage an dich.«

»Brauchst du Geld? Wenn dem so ist, wende dich bitte an den Ernstl. Der soll dir geben, was du brauchst.«

»Darum geht es nicht.«

»Ah so? Na, jetzt machst mich aber neugierig. Also, sprich!«

Liebtraud trat einige Schritte näher, senkte den Kopf und sagte leise:

»Ich möcht’ … ich tät’ … ich würd’ … so gern einen … einen Salon ins Leben rufen.«

Henrich war verblüfft. Seine Frau wollte eine Wiener Salonière werden? Da musste er einen kräftigen Schluck Kaffee nehmen. Wie zum Kuckuck ist sie auf diese Idee gekommen? Andererseits: Eine ganze Reihe Bankiers hatte Frauen, die einen Salon führten. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee. Und so antwortete er:

»Na, dann mach ma einen Salon. Meinen Segen hast. Und was das Praktische und das Finanzielle betrifft: Wende dich bitte an den Ernstl.«

*

Mit fahrigen Bewegungen blätterte er die »Deutsche Zeitung« durch, unkonzentriert und gelangweilt. Doch plötzlich hielt er inne. Denn die Überschrift eines Artikels erhaschte seine Aufmerksamkeit:

Wiener Weltausstellung.

Heute, nachdem sich endlich der General-Director Baron Schwarz herbeigelassen hat, gegenüber dem Drängen des Parlaments und des Ministeriums ein Präliminare27 der Gesammtkosten der Weltausstellung vorzulegen, ist man erst in der Lage, sich eine Vorstellung von der Art der Manipulation zu machen, wie sie da unten in dem Bureau der Direction der Weltausstellung beliebt wurde. Die Zahlen dieses Präliminares sprechen es deutlich aus, daß man ohne jeden richtigen Kostenüberschlag geradezu ins Blaue hineinarbeitete und, erst als die von der Volksvertretung votierte Summe von sechs Millionen Gulden längst verausgabt und man schon gezwungen war, eine Anleihe von 400.000 fl.28 bei der Creditanstalt aufzunehmen, zu Kreuze kroch und eingestand, man habe sich verrechnet und bitte um weitere 9,700.000 fl.

Er ließ die Zeitung sinken und pfiff leise durch die Zähne. Nun war die Katze aus dem Sack. Was bereits seit Monaten in Wien getratscht wurde, lag schwarz auf weiß auf dem Tisch. Die Kosten für die Weltausstellung liefen aus dem Ruder. Ein Faktum, das seine miese Laune verfliegen ließ. Er bestellte beim Ober eine weitere Melange und widmete sich mit großem Vergnügen der Zeitungslektüre. Vor allem folgender Absatz zauberte ihm, der Rotzpip’n, ein boshaftes Lächeln auf das Antlitz:

Wenn man nun die Kosten des Präliminares durchgeht, so läßt sich freilich bei der bloßen Aneinanderreihung von Ziffern schwer ersehen, warum gerade so hohe Summen für den einen oder anderen Zweck nothwendig seien, ebenso schwer wäre es, ohne detaillirte Rechnungslegung das Gegentheil zu erweisen. Nichtsdestoweniger findet man darunter einzelne Posten, die Erstaunen erregen müssen. Während für die riesige Maschinenhalle 951.448 fl. eingestellt sind, wird für die Eindeckung der Höfe – und es wird nur ein Theil derselben eingedeckt – die enorme Summe von 580.000 fl. verlangt. Warum? Darüber gibt das Präliminare keinen Aufschluß, wie überhaupt für die Richtigkeit und Unerläßlichkeit der einzelnen fixirten Posten auch nicht die geringste Andeutung gegeben ist. Nachdem aber nach eigenem Zugeständnis des General-Directors bei der Pilotirung der Rotunde u. s. w. allerlei kostspielige Experimente gemacht wurden, so bleibt immerhin ein Zweifel an der Unerläßlichkeit mancher Ausgabe in der von der General-Direction geforderten Höhe offen.

Die Weltausstellung war ein finanzielles Fass ohne Boden. Die ursprünglich geplanten Kosten hatten sich mittlerweile fast verdreifacht. Und dieses Kapitel war sicher noch nicht zu Ende geschrieben. Genussvoll schlürfte er seine Melange und war sich sicher, dass bis zur Weltausstellungseröffnung am 1. Mai noch die eine oder andere Million dazukommen würde. Ein finanzielles Debakel, das sich natürlich auf die Börse auswirken würde. Dieser Umstand stimmte ihn geradezu heiter. Und während er in der Zeitung weiterblätterte, murmelte er:

»Gnade dir Gott, Heinrich von Strauch.«

*

»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Direktor.«

Ah, das rinnt runter wie Öl, dachte Ernst Xaver Huber, als er im Barbierstuhl Platz nahm. Ja, sein Leben hatte sich, seitdem er zum Direktor der neu gegründeten Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft bestellt worden war, in jeder Hinsicht verbessert. Zwar hatte das eine Menge mehr Arbeit eingebracht, aber auch jede Menge Anerkennung und mit dem Verkauf eines Teils seiner Strauch & Compagnon Bank-Aktien auch sagenhaft viel Geld. Das ermöglichte ihm ein wirklich komfortables Leben. Während Meister Pöltl mit dem Rasierpinsel Hals, Kinn, Oberlippe und Teile der Wangen einseifte, dachte er über seine Wohnungssituation nach. Sie war für einen erfolgreichen Mann wie ihn inakzeptabel. Schließlich wohnte er noch immer in der Wohnung seiner Eltern, die sich in einem alten Biedermeierhaus auf der Mölkerbastei befand. Die Wohnung war für bürgerliche Begriffe recht großzügig. Sie hatte drei Zimmer, Küche, Nebenräume sowie ein eigenes Badezimmer. Trotzdem: Als erwachsener Mann von beinahe vierzig Jahren bei seiner Mutter zu wohnen, war genant. Es war Zeit, sich nach einer repräsentativen Wohnung umzusehen, in der er auch Gäste empfangen und bewirten konnte. Mit einer eigenen Köchin und einem eigenen Dienstmädel. Er hatte schon ein ganz besonderes Objekt im Auge. Die Beletage jenes Hauses, das gerade fertiggestellt wurde und das sich in der Werdertorgasse befand. Das wäre kommod, sehr kommod sogar. Da hätte er wirklich nur ein paar Schritte hinüber zum Schottenring, wo sich einerseits der Firmensitz der Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft und andererseits die Börse befanden. Finanziell war das alles kein Problem, da er ein sparsamer Mensch war, der während der letzten Jahre gutes Geld an der Börse verdient hatte. Es war einzig eine Frage der Beziehungen. Denn das Haus war von der Wiener Wohnstatt Baugesellschaft errichtet worden, die jeweils zu fünfzig Prozent der Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft und Johann Ritter von Nordberg gehörte. Heinrich konnte er sicher ohne Schwierigkeiten davon überzeugen, dass er in dieses Prunkstück von einer Wohnung einziehen wolle. Das Problem war aber Heinrichs Schwiegervater. Der alte Nordberg hatte weder mit Heinrich von Strauch noch mit dessen Gefolgsleuten viel am Hut. Bei den Treffen der Eigentümer der Baugesellschaft zeigte er immer wieder seine unverhohlene Abneigung. Heinrich von Strauch ließ das völlig kalt. Andererseits konnte er es nicht unterlassen, seinen Schwiegervater immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Nordberg’schen Kiesgruben und Ziegelwerke an der finanziellen Nabelschnur der Strauch & Compagnon Bank-Actiengesellschaft hingen. Mit elegantem Schwung glitt Meister Pöltls Klinge über Hubers Wangen und Hals. Und plötzlich erinnerte er sich daran, dass Pöltl ihn vor einiger Zeit auf eine mögliche Geldanlage angesprochen hatte. Eigentlich wollte er dem Barbier keine Tipps geben, da die Börse im Moment sehr nervös war und oft irrational reagierte. Es war schon für einen professionellen Börsianer schwierig genug, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Für einen Amateur war es aber äußerst riskant. Deshalb murmelte er, als er fertig rasiert war:

»Ah, das war wieder ein Genuss. Apropos Genuss: Sie haben mich doch vor nicht allzu langer Zeit auf die Möglichkeit einer Geldanlage angesprochen. Nicht wahr?«

Pöltl nickte und tupfte mit einem warmen Waschlappen Hubers frisch rasierte Haut ab, sodass auch das kleinste Patzerl Seifenschaum verschwand.

»Wissen S’, ich hab’ schon was unternommen.«

»Ah so? Na, dann gratulier ich. Wo haben S’ denn investiert?«

»Da ich mich net auskenn’, hab ich mir was ausgesucht, was kein Risiko mit sich bringt.«

Huber musste laut auflachen und antwortete:

»Ah so? Ja, ist denn das bei Börsengeschäften die Möglichkeit?«

»I hab’ tatsächlich was g’funden. Eine Anlage ohne Risiko, die höchste Fructificirung bietet.«

»Sehr g’scheit. Darf ich fragen, wo Sie Ihr Geld angelegt haben?«

Pöltl massierte gefühlvoll Hubers Wangen mit Rasierwasser und antwortete stolz:

»Beim Bankhaus J. B. Placht.«

Huber musste schlucken. Mit Mühe verbarg er sein Entsetzen. Johann Baptist Placht war von allen Börsenspekulanten so ziemlich der windigste. Ach ja, höchste Fructificirung ohne Risiko! Das war sein Reklamespruch.

»Und warum gerade beim Placht?«

»Der zahlt jeden Monat bar aus. Bei einer Einlage von bis zu zweihundert Gulden bekommt man nach einem Monat sein Geld mit zwanzig Prozent Fructificirung zurück. Der Onkel meiner Frau hat’s so g’macht. Und ich mach es jetzt ebenso.«

Ernst Xaver Huber seufzte und dachte: Soll ich ihm sagen, dass der Placht ein aus der Armee unehrenhaft entlassener Offizier ist, der keine Ahnung vom Börsengeschäft hat? Huber zuckte resigniert mit der Achsel, zahlte und sagte beim Hinausgehen:

»Ich bitt’ Sie, passen S’ auf. Am besten wär’s, wenn Sie sich Ihr Geld so schnell wie möglich zurückholen täten. Der Placht ist nicht reell.«

»Und was geschieht mit meiner Fructificirung?«

Huber drehte sich um, atmete tief durch und nahm einen neuerlichen Anlauf, um den Friseur zur Vernunft zu bringen:

»Was der Placht macht, ist Folgendes: Er muss ständig neue Geldeinlagen lukrieren, um die Zinsen der bei ihm veranlagten Gelder bedienen zu können. Keines seiner rund vierzig Spekulationskonsortien arbeitet meines Wissens nach gewinnbringend. Deshalb muss er immer neues Geld aufnehmen, um die Verpflichtungen gegenüber seinen Anlegern erfüllen zu können. Das ist wie ein Schneeball, der zu Tale rollt. Er wird groß und größer, bis er schließlich als Lawine ins Tal donnert und alles vernichtet. Haben Sie mich verstanden, Maître Pöltl?«

Mit käsebleichem Gesicht starrte der Barbier dem im Schneetreiben verschwindenden Kunden nach, der in diesem Augenblick mehr einem Gespenst als einem Menschen aus Fleisch und Blut glich.

*

Im großen Salon strahlte der barocke Kachelofen wohlige Wärme aus. Da es in dem weitläufigen Haus still war, hörte Liebtraud das Knacken der mächtigen Buchenscheiter besonders deutlich. Sie saß bequem in einem Ohrensessel und hatte die Beine auf einem mit kostbarem Stoff tapezierten Fußschemel hochgelagert. In der Hand hielt sie einen Band mit Novellen von Ferdinand Kürnberger. Statt zu lesen, war sie in einen Tagtraum hinübergeglitten, in dem der Schriftsteller in ihrem Salon eine Lesung seiner Werke gab und hernach mit den von ihr geladenen Gästen aufs Lebhafteste parlierte. Ein Klopfen an der Tür des Salons ließ sie hochschrecken. Sie nahm die Beine vom Fußschemel, schlüpfte in ihre Hausschuhe und rief:

»Ja, bitte?«

Jean trat in den Salon ein und meldete:

»Gnädige Frau, der Herr Direktor Huber wünscht Sie zu sprechen.«

Liebtraud stand mit einem Ruck auf, nahm Haltung an, zupfte nervös an ihrer Frisur und antwortete:

»Ich lasse bitten.«

Huber trat ein, ging auf Liebtraud zu, ergriff ihre Hand und hauchte einen formvollendeten Handkuss auf selbige. Liebtraud lächelte.

»Mein lieber Ernst Xaver Huber. Schön, dass Sie, obgleich Sie ein vielbeschäftiger Mann sind, etwas Zeit für mich erübrigen.«

»Frau Baronin, das ist mir nicht nur eine Ehre, sondern auch ein ganz besonderes Vergnügen.«

Liebtraud sah, dass Jean die Tür geschlossen hatte, und sagte leiser:

»Sie haben mir unlängst erlaubt, dass ich Sie Ernstl nennen darf. Bleibt das dabei?«

»Selbstverständlich, Frau Baronin.«

»Sagen S’ bitte Liebtraud zu mir.«

Sie nahm Huber sanft beim Oberarm und führte ihn zu einer Sitzgruppe mit einem Tischchen, wo die beiden Platz nahmen.

»Darf ich Ihnen einen Tee offerieren? Oder wollen S’ einen Kaffee oder vielleicht ein Stamperl von was Scharfem? Bei dem grauslichen Wetter draußen wärmt so ein Stamperl den Magen. Oder wollen Sie vielleicht beides? Einen Tee mit Rum?«

Huber beugte sich vor und ergriff scheu die Hand der Dame, die sie ihm, ohne einen Moment zu zögern, überließ.

»Meine beste Liebtraud, wie komm ich nur dazu, dass Sie mich so verwöhnen?«

»Ich bitte Sie, mein Lieber! Das ist doch meine Pflicht als Gastgeberin. Also, was mögen Sie?«

»Na ja, einem Tee mit Rum wäre ich nicht abgeneigt. Bei dem kalten Wetter draußen.«

»Eine wunderbare Idee, der ich mich anschließe. Ich trink zwar normalerweise den Tee mit einem Alzerl Milch, aber heute nehm’ ich ihn mit Rum.«

Liebtraud kicherte wie ein Schulmädchen und fügte in vertraulichem Tonfall hinzu:

»Aber nicht, dass Sie die Situation dann ausnützen, wenn ich ein bisserl beschwipst bin.«

»Keinesfalls, meine Beste. Das würde ich mir doch nie erlauben.«

Liebtraud entzog ihm ihre Hand und flüsterte schmollend:

»Schade.«

Dann griff sie zur Klingel, läutete und gab Jean, der umgehend erschienen war, ihre Wünsche bekannt. Als der Diener den Salon verlassen hatte, räusperte sich Ernst Xaver Huber und fragte in einem betont sachlichen Tonfall:

»Meine Beste, womit kann ich dienen?«

*

Er fühlte sich überhaupt nicht wohl. Was war das nur für ein ekelhafter Tag gewesen! Begonnen hatte das Malheur, als er ganz entspannt im Restaurant Sacher speiste und sich auf einen gemütlichen Nachmittag und Abend bei seinem süßen Mädel freute. Ja, heute hatte er wieder einmal Lust gehabt, sich an Tonis jugendlichen Rundungen zu erfreuen. Am Abend hätte er sie dann noch ausgeführt. Hinaus in die Vorstadt, in ein Etablissement, in dem die feinen Binkel von Bankiers und die neureichen Spekulanten nicht verkehrten. Ganz besonders hätte ihn heute ein Besuch in Schwender’s Colosseum draußen in Rudolfsheim gereizt. Da fand ein Maskenball mit einem Doppelkonzert, Gesangsdarbietungen aller Art sowie mit einem Faschingstheater statt. Dieser Maskenball wäre sicher lustig und ein wunderbarer Abend gewesen. Mein Gott! Er liebte es, mit Toni zu tanzen. Mit ihr in den Armen zu einer flotten Polka oder einem Walzer inmitten lauter Maskierter über das Parkett zu fegen, war wunderbar. Stattdessen saß er voll Zorn und Bitternis im Fiaker und rollte heim. Nein, Toni war sicher sehr enttäuscht, und ihre schlechte Laune wollte er sich heute nicht mehr zumuten. Der gesamte Nachmittag war Zumutung genug gewesen. Nun sehnte er sich nach seinem Zuhause, dort würde er in den bequemen Hausmantel und die Patschen schlüpfen und der Resi auftragen, ihm unten im Badezimmer der Beletage ein heißes Bad zu richten. Dort würde er dann untertauchen und diesen Tag zu vergessen suchen.

»Kruzitürken! Wo fahren S’ denn hin?«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
299 стр. 16 иллюстраций
ISBN:
9783839265789
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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