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Mitunter auch in kritischer Distanz zu Daniel Boyarin hat vor allem Peter SchäferPeter Schäfer (u.a. Jewish Jesus) in jüngerer Zeit anhand einiger Beispiele illustriert, dass und wie rabbinische Texte als Reaktion auf die christliche Herausforderung gelesen werden können.

Erwähnt werden soll hier auch der Sammelband von Lieve Teugels und Rivka UlmerLieve Teugels und Rivka Ulmer (Midrash and Context). Er enthält Beiträge zum hellenistischen und christlichen Kontext des rabbinischen Midrasch, darunter von Matthew Kraus (zur Vulgata), von Joshua Moss (zur Bedeutung des Tempels) oder von Annette Yoshiko Reed (zum Vergleich von BerR und Augustinus).

Vergleichende StudienVergleichende Studien existieren z.B. zu den rabbinischen und neutestamentlichen Gleichnissen (Dschulnigg), zu Halacha bzw. Midrasch bei Paulus (Tomson, Halakha; Grohmann, Aneignung, S. 169–187), zu rabbinischen und neutestamentlichen Auslegungsmethoden (vgl. schon Bonsirvens Studie zu Paulus und der rabbinischen Exegese); David Wenkel untersucht die Bezüge von gezera schawa und dem Hebräerbrief. Informativ ist die umfassende Sammlung und Analyse von Robert PriceRobert Price (New Testament), die sich allerdings auf Evangelien und Apostelgeschichte beschränkt.

Zu den Bezügen zwischen den Rabbinen und den Kirchenvätern sind nicht zuletzt die Studien von Philip S. AlexanderPhilip S. Alexander (Intertexts), Burton VisotzkyBurton Visotzky (Fathers of the World; Jots and Tittles), Judith |9|Baskin (Contacts), Adam KamesarAdam Kamesar (Church Fathers) und Annette Yoshiko Reed (Reading Augustine) zu nennen. Informativ ist die kleine Monografie von Marc HirshmanMarc Hirshman (Rivalry). Darin widmet er sich den Kirchenvätern in Palästina zwischen dem 3. und 5. Jh. im Vergleich mit rabbinischen Texten dieser Ära. Er analysiert Texte von Justin, Origenes und Hieronymus, stellt vorsichtige Vermutungen über mögliche Kenntnisse der jeweilig anderen Überlieferungen an und reflektiert über Polemik, aber auch über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Midrasch und antiker Rhetorik.

Eine andere Form des „Vergleichs“ wird in den Untersuchungen Steven FraadeSteven Fraades deutlich. Er betreibt „comparative Midrash“, um Spezifika der verschiedenen exegetischen Gattungen der jüdischen Gemeinden der Antike zu beschreiben. Weitere Werke dieser Richtung umfassen James Kugels In Potiphar’s House – wo die Motive der narrativen Erweiterung biblischer Erzählungen in exegetischer Literatur, aber auch im Koran oder der Kunst, untersucht werden – und The Bible as it was u.a. Für eine vergleichende, allerdings innerrabbinische und auf die Dokumente ausgerichtete Midrasch-Lektüre plädiert Jacob Neusner, der einige Bände zu diesem Thema vorlegte.

Das Thema der mündlichen ÜberlieferungThema der mündlichen Überlieferung und die Performanz-Frage stehen im Zentrum einiger Beiträge zu Midrasch (u.a. Martin Jaffee, Torah in the Mouth; Steven Fraade, From Tradition to Commentary; vgl. auch Goldberg, Sprechakt, und Nelson, Orality).

Oft befasst sich die Forschung mit einzelnen Midrasch-KompilationenMidrasch-Kompilationen, wie sie etwa BerR oder EkhR darstellen. Umfassend sind die Untersuchungen zu PesR (seltener zu PesK), in Bezug auf Werke der gaonäischen Periode (z.B. Tanchuma) nicht zuletzt zu PRE.

ARN, gewissermaßen ein Midrasch zum Mishnatraktat Avot, bildet die Textgrundlage für einige Beiträge zum Thema Ethik im rabbinischen Judentum, wie Jonathan Wyn Schofers Buch The Making of a Sage.

Bedeutsam sind Neubewertungen von klassischen MidraschimNeubewertungen von klassischen Midraschim, so Visotzkys Untersuchung zu WaR, die diesen Midrasch als faszinierendes Sammelwerk zeigt, das als Zeichen einer fundamentalen Änderung in der jüdischen Frömmigkeit gelesen werden kann, die in einer Distanzierung von den Themen um den Tempelkult und einer konsequenten „Rabbinisierung“ des Buches Levitikus besteht. Die Monografie befasst sich mit der Struktur des Werkes, der thematischen Einheit der 37 Kapitel, mit einzelnen sprachlichen Aspekten sowie mit der vermittelten Anthropologie und Theologie.

Die Hermeneutik der halachischen Midraschim der Schule JischmaelsSchule Jischmaels, Mechilta und SifBem, wird von Azzan Yadin in seinem Buch Scripture as LogosScripture as Logos untersucht. Yadin arbeitet äußerst textimmanent und erlaubt sich Kritik am Dialog zwischen Midrasch |10|und literaturwissenschaftlicher Theorie, wie dieser von Handelman oder Hartman/Budick vertreten wird. Ein wichtiges Anliegen Yadins ist zu zeigen, wie die halachischen Midraschim der Schule Jischmaels die Freiheit der Lesenden steuern bzw. in Grenzen halten. 2014 folgte mit Scripture and Tradition. Rabbi Akiva and the Triumph of Midrash eine vergleichbare Studie zu Sifra.

Unter den Subgattungen des Midrasch, die als Mikroformen oder literarische Formen bezeichnet werden können, nimmt das Gleichnis (Maschal)Gleichnis (Maschal) einen besonderen Platz in der Forschung ein (vgl. die Arbeiten von Stern). Das mehrbändige Projekt von Thoma/Lauer/Ernst, Die Gleichnisse der Rabbinen bietet Übersetzung und Klassifikation von Gleichnissen in exegetischen und homiletischen Midrasch-Kompilationen. Alan Appelbaum (King-Parable) widmet sich dem Maschal im 3. Jh., wobei er bei der Frage nach einer antirömischen bzw. antikaiserlichen Tendenz u.a. auf postkoloniale Studien verweist.

Jüngere Arbeiten beschäftigen sich auch wieder intensiver mit der Form der Peticha (Proömium)Peticha (Proömium) und den so genannten homiletischen Midraschim (vgl. Kap. VII.3).

3. Edition und Rekonstruktion

Die Rekonstruktion nicht erhaltener haggadischer MidraschimRekonstruktion nicht erhaltener haggadischer Midraschim ist eine wichtige Aufgabe der Midrasch-Forschung, bleibt aber trotz der enormen technologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte ein Desideratum, wie Myron Lerner in einem Beitrag zu den Estermidraschim beobachtet. Was kritische Ausgaben angeht, werden vor allem SynopsenSynopsen als fertige Publikationen oder als Vorarbeiten für Editionen, wie Chaim Milikowskys Transkription von WaR (vgl. http://www.biu.ac.il/JS/midrash/VR/) oder Louis Barths versuchte DigitalisierungDigitalisierung der PRE (vgl. http://www.usc.edu/projects/pre-project/index.html) veröffentlicht. Unbedingt zu erwähnen ist das Midrash Project des Jerusalemer Schechter InstituteJerusalemer Schechter Institutes (http://www.schechter.edu). Dieses will wenigstens acht kritische Midrasch-Editionen herausbringen bzw. Midraschsynopsen online zugänglich machen. Die Ausgaben sollen das beste Manuskript, alternative Lesarten, einen Kommentar und eine Verweisliste auf rabbinische Parallelen enthalten. Bislang ist eine Ausgabe von Midrasch Samuel erschienen (Hg. B. Lifshitz) sowie Zeilensynopsen zu Midrasch Ester (Hgg. J. Tabory/A. Atzmon), Qohelet Rabba (S. Baruchi) und Schir ha-Schirim Rabba (Hg. T. Kadari). Erarbeitet werden weiters Rut Rabba (Hg. M. Bialik Lerner) und Echa Rabba (Hg. P. Mandel).

|11|Einige ÜbersetzungenÜbersetzungen, hauptsächlich ins Englische (vgl. Neusners Analytical Translations) sind in den letzten Jahren erschienen; ins Deutsche wurden die MekhJ (Stemberger), SifBem, SifZ, die Estermidraschim, die PRE, das Alphabet des Ben Sira oder kleinere Midraschim des Mittelalters (Börner-Klein) übersetzt.

4. Sammelbände und Referenzwerke

Einige SammelbändeSammelbände zum Thema Midrasch sind in den letzten Jahren erschienen. Dazu zählt etwa Mark Lee Raphaels Agendas for the Study of MidrashAgendas for the Study of Midrash in the Twenty-first Century von 1999. Darin findet sich u.a. ein Beitrag von Fraade zu den Bezügen zwischen den Qumranfunden und Midrasch, einer von Dvora Weisberg zu Frauen in rabbinischer Darstellung oder ein Artikel von Bregman zu visuellen Elementen im Midrasch.

Drei weitere Bände, von Rivka Ulmer und Lieve Teugels 2005 (Schwerpunkt auf Philologie bzw. Textkritik), 2007 und 2008 herausgegeben, versammeln Beiträge des jährlichen Kongresses der Society for Biblical Literature. 2006 wurden die Current Trends in the Study of MidrashCurrent Trends in the Study of Midrash von Carol Bakhos ediert. Diese Bände enthalten in der Regel Beiträge zu klassischen rabbinischen Midrasch-Kompilationen, aber auch zum Weiterleben von dem, was als „midrashic dimension“ bezeichnet wird, in verschiedenen Gattungen der jüdischen (und sonstigen) Literatur des Mittelalters und der Neuzeit.

The Literature of the SagesThe Literature of the Sages, der zweite Teil eines Projekts, dessen erster Teil 1984 erschien, umfasst drei ausführliche Kapitel zu Midraschim. Myron Lerner befasst sich dort mit den so genannten haggadischen Midraschim: Die „departmental analysis“ stellt einen Ansatz dar, bei dem mehrere Midraschim, die dasselbe biblische Buch auslegen, als Korpus untersucht werden: Die erhaltenen Texte werden nach formalen Kriterien in Kategorien unterteilt, beschrieben, die Sekundärliteratur referiert (vgl. Schäfers Editionen von Hechalot-Literatur und Reegs Midrasch von den zehn Märtyrern, Lerners Beitrag zu den Estermidraschim).

2005 erschien die von Jacob Neusner und Alan Avery-Peck herausgegebene Encyclopedia of MidrashEncyclopedia of Midrash. Die zwei Bände umfassen 56 Artikel, die allgemeine Themen (mündliche Tora, Liturgie etc.), dem rabbinischen Midrasch vergleichbare Phänomene in der jüdischen und christlichen Literatur, die rabbinische Lektüre biblischer Bücher sowie die Theologie der klassischen Midraschim behandeln.

2011 erschien in Israel eine Einführung in Midraschliteratur von Anat Reizel (Hebr.).

|12|Ein Klassiker im deutsch- und englischsprachigen Raum ist Günter Stembergers Einleitung in Talmud und MidraschEinleitung in Talmud und Midrasch, die im dritten Teil eine konzise Darstellung der meisten Midraschim und die dazugehörige vermutlich ausführlichste Bibliographie enthält. Vom selben Autor erschien 1989 ein Buch zu Midrasch, das nach einer kurzen Einführung zahlreiche Textbeispiele anführt und kommentiert, die entweder repräsentativ für die drei klassischen Midrasch-Gattungen – d.h. die halachischen, exegetischen und homiletischen Midraschim – sind oder eine literarische Form wie die nacherzählte Bibel, wie sie in späteren Werken der rabbinischen Literatur verwendet wird, illustrieren. Die 2010 erschienenen zwei Sammelbände Judaica MinoraJudaica Minora enthalten einige Artikel Stembergers mit Bezügen zum Midrasch. Ebenfalls zahlreich sind die Beispiele in Jacob Neusners What is Midrash?What is Midrash? und A Midrash Reader.

Ende 2013 brachten Michael Fishbane und Joanna Weinberg eine Sammlung wichtiger Beiträge zum Thema Midrasch unter dem Titel Midrash UnboundMidrash Unbound heraus. In vier Teilen, die von den Anfängen bis zum modernen Chabad-Chassidismus chronologisch fortschreiten, wird das Phänomen Midrasch in seiner Bandbreite im historischen Wandel ausführlich beleuchtet.

5. Midraschdefinitionen jüngerer Zeit

In der Forschung der letzten Jahrzehnte findet sich eine ganze Reihe von Interpretationen und DefinitionenInterpretationen und Definitionen von Midrasch, die nicht selten als Widerschein wissenschaftlicher Zeitströmungen zu lesen sind (vgl. den Überblick bei Bakhos, Matters; Grohmann, Aneignung, S. 107–129). In der Vielzahl der Definitionen ist zu bemerken, dass manche sich stärker auf die literarische Struktur, andere mehr auf die aktualisierende Funktion, nicht selten gepaart mit der Bedeutung für die religiös-kulturelle Entwicklung des Judentums konzentrieren. Im Folgenden seien einige Ansätze kurz beschrieben. Gewisse Übereinstimmung herrscht in der Funktion des Midrasch für die Gemeinde und die GottesbeziehungFunktion des Midrasch für die Gemeinde und die Gottesbeziehung. Diese wurde bereits von Renée Bloch (Midrash) oder Roger Le Déaut (A-propos) betont. Auch Addison Wright (Literary Genre) hob die Bedeutung von Midrasch als religiöse Schrift hervor. Großen Einfluss übte Isaak HeinemannIsaak Heinemann (Darche ha-Aggada) mit seiner maßgeblich betonten Funktion der Haggada als „schöpferische Geschichtsschreibung“ und „schöpferische Philologie“ aus. Daran orientiert formuliert Ithamar GruenwaldIthamar Gruenwald, dass Midrasch den Versuch darstelle, „Schrift als die normative Konstante des Judentums zu behaupten“ (Midrash, S. 6), über Brüche und Krisen hinweg |13|und als intellektuelle Herausforderung, die Mut und religiöse Sensibilität verlangt. In seinem Bemühen, die „mentale Haltung oder Disposition“ zu beschreiben, die er mit dem Stichwort „midrashic condition“ verbindet, greift er auf Heinemanns Konzept zurück und spricht davon, dass nicht der bloße Akt des Verstehens zähle, sondern die Schaffung von Bedeutung, die mit den Bibelversen verbunden sei. Gruenwald gesteht den Midraschautoren großen Spielraum in der Macht über den Text zu, die jedoch durch die Tradition beschränkt sei, die auf die göttliche Inspiration der Schrift und grundlegende moralische Haltungen sowie die Bedeutung des Kultes Wert lege.

Uneinigkeit herrscht darüber, ob Midrasch eher Ein literarisches Genre oder eine Methode des Textzugangesein literarisches Genre oder eine Methode des Textzuganges ist. Addison WrightAddison Wrights Definition geht von einem literarischen Genre aus, das aktualisierende Bedeutung hat. Schrifttext und Kommentar müssen dabei getrennt sein:

Als Name einer literarischen Gattung bezeichnet das Wort Midrasch eine Komposition, die einen Schrifttext der Vergangenheit verstehbar, gebrauchsfähig und relevant für die religiösen Bedürfnisse einer späteren Generation zu machen sucht. Es ist so eine Literatur über eine Literatur […]. Ein Midrasch ist immer explizit oder implizit in den Kontext des biblischen Texts gestellt, den er kommentiert. (Literary Genre, S. 143)

Midrasch ist demnach Auslegung von Schrift um der Schrift willen. Das Genre Midrasch beschränkt sich nach Wright aber nicht nur auf jüdische Texte, sondern kann beispielsweise auch auf pagane ägyptische Prophetentexte mit ähnlicher Struktur angewendet werden. Auch christliche Rezeption der hebräischen Bibel lässt er als Midrasch gelten. Andere Schriften, die Text und Kommentar aus seiner Sicht zu wenig trennen, schließt er jedoch vom Genre Midrasch aus.

Lieve TeugelsLieve Teugels diskutiert in ihrem Buch Bible and Midrash: The Story of „The Wooing of Rebekah“ (Gen. 24) (vgl. auch ihren Beitrag Midrash in the Bible) Ansätze von Addison Wright, Robert Le Déaut, Daniel Boyarin, Michael Fishbane, Jacob Neusner und Gary Porton und stützt sich auf die formanalytische Definition Arnold GoldbergArnold Goldbergs, die sie übernimmt und erweitert. Goldberg hatte in mehreren Aufsätzen unterstrichen, dass der Begriff Midrasch ausschließlich für die rabbinische Literatur zu verwenden sei und von seiner Form bestimmt werden müsse. Demnach ist Midrasch immer Erläuterung des zitierten Bibeltextes, des Lemmas (Lemma der Offenbarungsschrift). Der Midraschsatz besteht aus Lemma, der Operation und dem Ergebnis (Dictum), schematisch „L“ „on“ → „D“ oder „D“ ← „on“ „L“. Im Midraschschriften vorkommende Formen wie Maschal oder Maʿase (dazu mehr unter VI) |14|sind kein Midrasch, wohl aber tritt Midrasch in Mischna oder den Talmudim auf.

Teugels diskutiert auch die kritischen Ergänzungen Goldbergs durch Philip Alexanders Hinweis auf die „Methoden“ (Midrash and the Gospels) und sieht neben den formalen Kriterien für Midrasch ein Alleinstellungsmerkmal in der Mündlichkeit der Überlieferung und der Annahme der göttlichen Offenbarung. Midrasch ist ihrer Definition nach beschränkt auf „rabbinische Interpretation von Schrift, welche die lemmatische Form trägt“„rabbinische Interpretation von Schrift, welche die lemmatische Form trägt“ (Bible and Midrash, S. 168).

Und weiter:

Nach der Diskussion über die Natur des rabbinischen Midrasch möchte ich die Verwendung des Begriffes „Midrasch“ für jegliche Literatur außerhalb des rabbinischen Korpus zu verhindern suchen. Mein Hauptgrund besteht darin, dass es besser ist, gleichwertige aber unterschiedliche Dinge zu vergleichen, als sie alle auf einen Haufen zu werfen und damit zu enden, dass man nichts mehr zum Vergleichen hat. Wenn wir Bibelauslegung innerhalb der Schrift (innerbiblische Exegese), die Auslegung des Alten Testaments im Neuen Testament, die Bibelauslegung in Qumran, in der Literatur des Zweiten Tempels, bei Philo etc., all diese unterschiedlichen Arten von Bibelauslegung getrennt betrachten, haben wir etwas zu vergleichen. Wenn wir alle diese Formen der Bibelauslegung „Midrasch“ nennen, machen wir die Dinge unklar. (Bible and Midrash, S. 169)

Dieses pragmatische Argument hat einiges für sich und wurde z.B. 2006 vom „international research project for the study of the Rewritten Bible“ übernommen. Erkki Koskenniemi und Pekka Lindqvist halten im ersten Band der akademischen Reihe Studies in Rewritten BibleStudies in Rewritten Bible fest,

dass das Wort Midrasch für frühe jüdische Exegese verwendet oder besser auf rabbinische Exegese beschränkt werden soll, dabei z.B. der kompakten Definition von Lieve Teugels folgend. (S. 18)

Die Goldbergschülerin Rivka UlmerRivka Ulmer hat 2006 in einem Beitrag mit dem Titel The Boundaries of the Rabbinic Genre Midrash ebenfalls jegliche Verwendung des Begriffes Midrasch außerhalb des rabbinischen Kontextes abgelehnt. Midraschim seien „nachbiblisch und auf den biblischen Text […] bezogen, bedienen sich typischerweise namentlich genannter Ausleger (der Rabbinen) und spezifischer Auslegungsregeln (der Middot)“ (Boundaries, S. 63). Ulmer sieht Midrasch vor allem als Ausdruck der rabbinischen Theologie und weniger als exegetische Methode. Midrasch als „literarisches Genre“ ist für sie durch die soziale Gruppe, die es schafft, definiert. Mittelalterlicher „Midrasch“ sei durch eine Schwächung der Form gekennzeichnet. Ulmer betont die Voraussetzungen des Midrasch. Die Gegenwart der Rabbinen bestimmt den Kontext der Schrift, |15|auch wenn die Bedeutung der Schrift noch viele weitere Möglichkeiten beinhalten mag.

Teugels oder Ulmers Definition von Midrasch ist klar und eng umrissen: Da er durch die Hermeneutik und die Theologie der Rabbinen bestimmt ist, kann es keine außerrabbinischen Midraschim geben.

Gegenüber einem Verständnis von Midrasch als literarischem (rabbinischem) Genre wurde in verschiedenen Ansätzen dieser stärker als Eine Methode des Textzugangeseine Methode des Textzuganges begriffen. Deutlich haben dies Avigdor Shinan und Yair Zakovitch so zu beschreiben versucht:

Midrasch ist eine Methode des Textzugangs – abgeleitet aus einer religiösen Weltsicht und durch verschiedene Erfordernisse motiviert (historische, moralische, literarische etc.) –, die es ermöglicht und ermutigt, viele und sogar sich widersprechende Bedeutungen im Text zu entdecken, während die Intention des Autors oder der Autoren sich als schwer fassbar erweist. (Midrash, S. 258)

In diesem Zusammenhang sind die 1983 in der Zeitschrift Prooftexts erstmals erschienenen Two Introductions to MidrashTwo Introductions to Midrash von James KugelJames Kugel zu nennen. Er versteht Midrasch als „ein interpretatives Verfahren, einen Weg, einen heiligen Text zu lesen“ (Two Introductions, S. 91). Damit definiert er Midrasch als eine Hermeneutik, die er sowohl in den Targumim, dem qumranischen Genesis Apokryphon als auch dem mittelalterlichen Sefer ha-Jaschar wiederfindet, in Predigten, Gebeten und Gedichten, und natürlich im rabbinischen Midrasch, in Mischna und Gemara, „denn im Grunde ist Midrasch nichts Geringeres als der Grundstein des rabbinischen Judentums, und dabei so divers wie die rabbinische Kreativität selbst“ (S. 92). Kugel erkennt selbst, dass die weite Deutung von Midrasch als „Recherche, welche die Schrift interpretiert und in allen Arten von Kontexten Ausdruck findet“ (S. 92), zu breit angelegt ist, und widmet sich danach dem konkreten Vorgehen. Dazu gehöre die Erklärung von Problemen in den biblischen Versen, genauer in einzelnen Worten des biblischen Verses, etwas, das später Boyarin mit dem „filling of gaps“ bezeichnen wird. Nach Kugel ist Midrasch am Vers, nicht an größeren biblischen Einheiten orientiert, wobei der Kontext der Auslegung die ganze Schrift, der Kanon, ist, „eine Situation vergleichbar bestimmten politischen Organisationen, in denen es keine eigenen Staaten, Provinzen oder ähnliches gibt, sondern nur das Dorf und das Königreich“ (S. 93). Diese Interpretationen einzelner Verse seien unabhängig von größeren Einheiten zirkuliert, ähnlich wie moderne Witze, „und wie Witze wurden sie überliefert, modifiziert und verbessert, als sie […] durch das Lernen mit dem Bibeltext selbst überliefert wurden“ (S. 95).

|16|Daniel BoyarinDaniel Boyarins 1990 erschienene Studie Intertextuality and the Reading of MidrashIntertextuality and the Reading of Midrash greift Kugels Analyse positiv auf und ist deutlich von der Literaturtheorie der Zeit und ihren Proponenten wie Roland Barthes, Julia Kristeva oder Mikhail Bakhtin bzw. von der Intertextualitätskonzeption von Michael Riffaterre beeinflusst. Im Zentrum steht die Schrift als ein Dokument, das auf vielfältige Weise (polyvalent) ausgelegt werden kann und ausgelegt wurde. Im ersten Kapitel mit dem Titel Toward a New Theory of Midrash kritisiert Boyarin Heinemanns Ansatz der kreativen Geschichtsschreibung und will Midrasch

zuallererst als Lesen verstehen, als Hermeneutik, als in der Interaktion der rabbinischen Leser mit einem heterogenen und schwierigen Text begründet, der für sie sowohl normativ als auch göttlichen Ursprungs war. (Intertextuality, S. 5)

Boyarin richtet sich hier gegen eine Position der Auslegung von Midrasch, die dessen hermeneutisches Grundanliegen zuallererst und vorrangig als Reaktion auf zeitgenössische Probleme und Zustände versteht.

Auch Jacob NeusnerJacob Neusner, der in seinen zahlreichen Publikationen immer wieder auch die Bedeutung des Midrasch thematisiert (Funktion, Struktur, Theologie etc.), was in diesem Buch nur ansatzhaft aufgezeigt und ihm damit auch nur in Teilen gerecht werden kann, neigt in seiner Deutung zu einem Verständnis, wonach Midrasch „einem Zweck dient, der nicht durch die Schrift, sondern durch den Glauben bestimmt ist, der sich in Entwicklung befindet und dabei ist, sich zu artikulieren“ (Midrash: An Introduction, S. xi). Für den Midrasch forme die Schrift ein „dictionary“, das zahlreiche Möglichkeiten der Auslegung biete oder eine Reihe von Farben, die für ein Gemälde zur Verfügung stehen.

Nach Boyarin ist Midrasch demgegenüber in erster Linie einmal als „Lesen eines Textes“ ernst zu nehmen, was er näher als „Interaktion der rabbinischen Leser mit einem heterogenen und schwierigen Text“ bestimmt. Midrasch setzt die literarische Aktivität als Reflexivität und Interpretation, die innerhalb der Bibel beginnt, fort und vergegenwärtigt die biblische Vergangenheit. Die Texte reflektieren also die historischen Entstehungsbedingungen einerseits, wie sie andererseits auch auf diese selbst zurückwirken. Zentrales Stichwort der Midraschanalyse Boyarins ist hier „Intertextualität“„Intertextualität“, deren Kennzeichen, ganz im Kontext postmoderner Literaturtheorie, von der bewussten und unbewussten Zitation vorhandener Texte und Diskurse bestimmt ist. Biblische Texte, und um sie geht es ja im Midrasch, werden aufeinander bezogen, stehen im beständigen Dialog. Die Rabbinen haben die Welt durch die Brille |17|der Bibel betrachtet, genauer gesagt durch „ihre ideologisch gefärbte Brille“ (Intertextuality, S. 15), denn kulturelle Codes bestimmen, bewusst oder unbewusst, die Erzeugung wie das Verstehen von Texten. Die intertextuelle Lesepraxis der Rabbinen baut auf innerbiblischer Lesepraxis auf. Der Bereich der Interpretation ist der biblische Kanon, in dessen Licht eine einzelne Stelle interpretiert wird. Daher ist Midrasch im Grunde „radikales intertextuelles Lesen des Kanons“ (S. 16), wobei die sich beim Lesen ergebenden Fragen, die so genannten gaps, eine zentrale Rolle spielen, welche nun gefüllt werden. Im Prinzip kann Midrasch daher als intertextuelles – also textlich dialogisches – Erklären von Unklarheiten, Lücken, offenen FragenErklären von Unklarheiten, Lücken, offenen Fragen, also der gaps verstanden werden.

Es wird etwas später noch zu zeigen sein, dass schon innerbiblisch eine große schöpferische Freiheit bestand, vorhandenes Traditionsgut weiterzuentwickeln und neuen Bedingungen anzupassen. Und es wird gezeigt werden, dass die rabbinischen Midraschim sehr wohl ein Gespür für die (Lösung der) im Bibeltext inhärenten Problemstellungen hatten. In den halachischen Midraschim (dazu mehr unter IX) zeigten sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen im Blick auf die Verwendung von außerbiblischer Halacha. Doch bleibt auch hier grundsätzlich zu betonen, dass das Ziel am Ende die Übereinstimmung mit der biblischen Botschaft ist.

Eine der bis heute am häufigsten zitierten Definitionen von Midrasch ist die von Gary PortonGary Porton aus seinem wichtigen Aufsatz Defining Midrash, die nach einem Bekenntnis zu einer notwendigen Klärung der „literarischen Aspekte“ folgt. Midrasch sei demnach

eine Literaturgattung, mündlich oder schriftlich, die in direkter Beziehung zu einem festgelegten, kanonischen Text steht, der vom Midraschist und seiner Hörerschaft als autoritatives und geoffenbartes Wort von Gott betrachtet wird, und in der dieser kanonische Text explizit zitiert oder klar auf ihn hingewiesen wird (S. 62; deutsch in: Midrasch: Die Rabbinen und die Hebräische Bibel, S. 134).

Vielfach wurde die Unschärfe und Unklarheit dieses Ansatzes kritisiert, vor allem in Bezug auf den Begriff „kanonisch“ und den expliziten Bezug auf die Einstellung der Leserinnen und Leser/Zuhörerinnen und Zuhörer. Wie kann man diese erfragen? Unabhängig davon eröffnet Porton eine relativ weite und offene Deutung, die auch Targumim, Rewritten Bible (Liber Antiquitatum Biblicarum, Genesis Apokryphon, Jubiläenbuch etc.) sowie die Pescharim von Qumran umfasst, auch wenn diese sich nach Porton in einer Reihe von Punkten von den rabbinischen Midraschim unterscheiden. In Definitions of Midrash hat er 2005 gleich zu Beginn des Artikels die Definition etwas geschärft:

|18|Rabbinischer Midrasch ist eine von den Rabbinen verfasste/zusammengestellte (composed) mündliche oder schriftliche Literatur, die ihren Ausgangspunkt in einem fixierten kanonischen biblischen Text hat. Im Midrasch wird dieser Originaltext, der als geoffenbartes Wort Gottes durch den Midraschisten und sein Publikum angesehen wird, explizit zitiert oder deutlich darauf angespielt. In der wissenschaftlichen Literatur, wie im Judentum selbst, wird der Begriff Midrasch auf drei verschiedene Arten verwendet: 1) bezogen auf eine einzelne exegetische Perikope […], 2) um die rabbinische Methode der Bibelauslegung zu beschreiben […] und 3) um die Zusammenstellungen der rabbinischen exegetischen Darlegungen zu bezeichnen, die in der Spätantike produziert wurden. (Definitions, S. 520)

Nach Porton besteht das Hauptanliegen des Midrasch, als eine von mehreren intellektuellen Auseinandersetzungen der Rabbinen mit der Schrift, darin, die enge Verbindung zwischen der rabbinischen Welt und der Welt der Tora darzulegen. Dazu kommt:

Die Rabbinen näherten sich der Tora mit all ihren intellektuellen und imaginativen Kräften an. Die Tora war ihr heiligstes Gut, und sie waren die Gestalter, Erhalter und Leiter dieser Kultur. Wenn die Tora auf das gesamte Leben einer Person Einfluss nimmt, dann sollten die Rabbinen fähig sein, sich ihr mit all ihrem Sein, mit ihren intellektuellen und rationalen Fähigkeiten wie auch mit ihrer imaginativen und spielerischen Seite anzunähern. Nur Midrasch legt Zeugnis von den gesamten intellektuellen Möglichkeiten des Verstandes und der Vorstellungskraft der Rabbinen ab. Je vertrauter ein Gelehrter mit der Tora wurde, der ultimativen Quelle seiner Heiligkeit, umso mehr Autorität und Status erhielt er innerhalb der rabbinischen Klasse und letztlich unter der jüdischen Bevölkerung. Fähig zu sein, der schriftlichen Tora neue Bedeutungen zu entlocken, oder die Möglichkeit zu haben, ihre explizite und implizite Bedeutung zu erläutern, erhöhte einen Rabbi unter seinen Kollegen. Midraschische Befähigung bestätigte und unterstützte den Anspruch des Rabbis, ein Rabbi zu sein. Seine Fähigkeit, mit der heiligen schriftlichen Tora zu arbeiten, kennzeichnete ihn als heiligen Mann. (Definitions, S. 526–527)

In Anbetracht dieser Forschungsgeschichte und der Definitionsversuche empfiehlt es sich, zwischen Midrasch/Midraschim als Textsorte/Schrift/Dokument und Midrasch als hermeneutischem Verfahren und auch Genre zu unterscheiden und dabei die Trägergruppe im Auge zu behalten. Auf der Basis der eben dargelegten Definitionsversuche und grundlegenden Beobachtungen zum Midrasch ist die Frage „Was ist Midrasch?“ in der Folge ausführlicher zu beantworten.

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9783846346754
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