Читать книгу: «Tetralogie des Erinnerns», страница 4

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Aus der Waschküche im Keller dringt der Lärm eines schrillen, heftigen Streites durch das hallende Treppenhaus bis in unsere Wohnung, und ohne die Worte zu verstehen, weiß ich, worum es geht. Blaß und verstört, mit rotumrandeten Augen, stürzt Mutter ins Zimmer und stolpert atemlos über die eigenen Worte: Lena hat den Kuchen gestohlen, schlimmer: Lena stiehlt von Anfang an aus der Speisekammer. Aber das Schlimmste: Lena schimpft und höhnt, sie habe ein Recht darauf, sie werde ausgebeutet und bekomme viel zu wenig zu essen, die Juden würden die »Volksgemeinschaft« betrügen und sie werde uns die »Partei« auf den Hals hetzen, um uns ein für allemal Mores zu lehren.

Kuchen, Konserven, Wurst und Käse haben schlagartig ihre Bedeutung verloren. Der Ärger wird zur Angst, und in der Vorstellung sehe ich schon die Braunhemden mit Fackeln und Knüppeln vor der Tür stehen. Ratlos überlegen die Eltern miteinander, mit Freunden und Bekannten. Den ganzen Tag über rasselt die Wählscheibe des Telefons und atemlos spricht Mutter in den Hörer. Abends klingelt sie bei den Nachbarn an, oben, links und rechts.

Erschöpft und aufgeregt gibt sie mir einen Gutenachtkuß. Die Neugier schwelt in mir, als ich einschlafe, den tröstenden Kissenzipfel in den Armen.

Unwirsch und mit verkniffenem Mund tobt Lena morgens durch die Wohnung. Vor ihrer Wut klirrt das Geschirr in der Küche, wir sind für sie Luft. Sie tritt heftiger gegen Stuhl- und Tischbeine, als ich es im schlimmsten Jähzorn je gewagt habe, und als das dumpfe Knallen des Teppichklopfers vom Hof herauf tönt, tun mir die Teppiche leid.

Mutter kocht das Mittagessen. Ihre Wangen sind erhitzt, als wäre es glühend heiß in der Küche, und bei jedem Schlag und Knall im Haus oder von draußen zuckt sie zusammen.

Schweigend helfe ich ihr beim Tischdecken. Als die Suppe in der Terrine auf dem Tisch dampft, ruft sie Lena zum Essen.

Leise schließt Mutter die Küchentür und überläßt die Suppe schlürfende Lena, die weder auf noch um sich schaut, sich selbst. Wir essen wortlos unsere Suppe und ich verstehe nicht, was die erwartungsvolle Stille zu bedeuten hat.

Als die Türklingel läutet, springt Mutter auf, als hätte sie auf einer Feder gesessen, läuft zur Wohnungstür und kommt gleich darauf mit den Damen zurück, die geheimnisvoll leise gehen und flüstern, allen voran Frau Huber, unsere immer lachende, mollige Nachbarin von oben, im grünen Dirndlkleid, aus dem ihr üppiger Busen mit dem goldenen Kreuzchen darauf quillt.

Teils im Zimmer, teils im Gang warten alle auf den Augenblick, in dem Frau Huber die Küchentür aufreißt. Lena würdigt sie keines Blickes. Den linken Arm hat sie um den Teller gelegt, als müßte sie ihn gegen Diebe verteidigen. In ihrer rechten Hand die Gabel, mit der sie, ohne den Arm anzuheben, den Berg aus Sauerkraut, Kartoffeln und Fleisch mit großen Bissen in den Mund schaufelt.

Als die Nachbarin und die anderen Frauen in der Küche stehen, blickt Lena unwirsch vom Essen auf. Frau Hubers lachend gesprochene Worte: »Aber Lena, ich glaubte, man lasse dich hier verhungern« bringen die Gabel zum Stillstand. Eine Donnerwolke zieht über ihr Gesicht, der Mund ist ein verkniffener Spalt. Böse erhebt sie sich, umklammert die Gabel mit der Faust und sticht sie wie eine Heugabel mit Schwung ins Sauerkraut. Drohend schaut sie sich um, stößt Flüche aus, die ich noch nie gehört habe, reißt die braune Schürze vom Haken und ohne sie in den geflochtenen Koffer zu stecken, drängt sie uns in der Küchentür beiseite. Mit einem donnernden Schlag wirft sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloß. Im leeren Treppenhaus hallt ihr Fluch wider: »Juda verrecke!«

Bleich, mit Gesichtern, auf denen die Fröhlichkeit erloschen ist, gehen die Frauen hinaus. Mutters geflüsterte Worte des Dankes bleiben in der Luft hängen.

SCHULZEIT

Im Korridorspiegel erkenne ich mich kaum wieder. Das Weinen steht mir näher als das Lachen. Nur oben am Kopf sind noch Haare, aber darunter hat der Friseur mit seiner Haarschneidemaschine ein Stachelschwein aus mir gemacht. »Für die Schule muß es kurz und schneidig sein«, hatte er zu meiner Mutter gesagt. Bevor sie sich’s überlegen konnte, hatte er, ohne weitere Worte zu verschwenden, mir einen deutschen Schopf geschnitten. Auf den weißen Frisierumhang fallen braune Strähnen wie Herbstblätter und ich schließe die tränennassen Augen, um meine Verwandlung nicht ansehen zu müssen.

Auf dem Heimweg spüre ich den kalten Wind auf der nackten Kopfhaut und es scheint, als sei mir die Mütze auf einmal zu groß geworden. Harro, der Nachbarsjunge, Sohn des Chefmonteurs der Opel-Garage, in der Vaters Auto steht, kommt auf seinem fliegenden Holländer zu uns herangebraust. Auch er hat einen frischgeschnittenen Stachelkopf und ich bilde mir ein, daß er über meine viel zu große Mütze lacht, obwohl er sonst sehr nett ist. Ich zerre an Mutters Hand, um so rasch wie möglich im Treppenhaus vor fremden Blicken sicher zu sein und beruhige mich erst, als die Haustür ins Schloß fallt.

Mit einer knisternden, in braunes Packpapier gewickelten Überraschung lockt sie mich vom Korridorspiegel fort. Auf dem großen Eßzimmertisch liegt das graue Leinentischtuch, das Großmutter monatelang mit Blumen bestickt hat, angespannt murmelnd, die bebrillte Nase bei jedem Stich dicht am Tuch. Schrill ruft sie aus ihrem Sessel, das neue Tischtuch müsse erst zusammengefaltet werden, bevor ich die Schnüre des Pakets aufknüpfen darf. Durch das Papier hindurch dringt der aufregende Geruch frisch gegerbten Leders, und mit ungeduldigen Fingern entferne ich die braune Umhüllung von dem schönsten Schulranzen, den ich jemals angefaßt habe.

Sprachlos streichle ich das wunderbare, genarbte Leder, verfolge mit dem Zeigefinger die glatten, reckteckigen Bahnen auf der Klappe und stecke den Kopf in die Tasche hinein, um den würzigen Geruch tief einzusaugen. Auf dem Boden liegt ein langer hölzerner Federkasten. Erst nach vielem Probieren und Fummeln gelingt es mir, den geheimnisvollen Verschluß zu öffnen. Niemand im Zimmer kommt auf den Gedanken, daß man den Schiebedeckel zuerst halb herausziehen muß.

Glatt und schwer liegt der Kasten in meiner Hand, ein gefährliches Stück Holz. Farbstifte und ein Federhalter klappern in den Fächern. Einzelne Federn mit einer kleinen Kugel an der Spitze, ein Stück Sämischleder und ein wunderbar weicher grüner Radiergummi liegen in ihrem Geheimversteck verborgen.

Die ledernen Schulterriemen meines Ranzens sind steif und hart. Es kostet mich Mühe, den Haken des rechten Riemens ohne Hilfe in den Eisenring an der Unterseite einzuhängen, aber nach einigen vergeblichen Versuchen klappt es. Stolz laufe ich mit meiner neuen Schulausrüstung aus dem Zimmer zum Korridorspiegel und betrachte mich mit anderen, neuen Augen.

An dem Schulgebäude aus grauen, glitzernden Steinblöcken bin ich oft mit den Eltern oder an Marias Hand vorbeigekommen auf dem Weg zu meinem Freund Walter, dem Sohn des dicken Rabbiners, oder gelegentlich an Sonntagen, wenn wir uns von der seufzenden kleinen Bergbahn auf den Gipfel des Merkurs tragen ließen.

Auf den grauen Granitstufen, die vom Gehsteig zur breiten Terrasse hinaufführen, hinter der steinernen Balustrade und vor dem Bogen des dunkel drohenden Schuleingangs stehen viele Mütter mit Jungen, ebenso groß oder größer als ich, mit kurzgeschnittenem Haar; einige mit Ranzen aus Leder oder Leinwand, andere mit Leinenbeuteln oder Bündeln, die mit einer Schnur umwickelt sind. In den Armen halten sie große spitze Tüten aus bunter Seide, aus Karton oder braunem Papier, voll mit buntverpackten sauren Bonbons, Ostereiern und Zukkerwerk. Sie rufen einander zu, prahlen mit ihren Osterschätzen und tauschen Süßigkeiten aus.

Einige Mütter schwatzen laut miteinander, während ihre Söhne über der Balustrade hängen und die Sonntagskleider schmutzig machen.

Walter und ich stehen ohne Schultüten auf dem Gehsteig gegenüber der Schule. Unsere Mütter flüstern kaum hörbar, wir beschnüffeln unsere neuen Schulranzen. Seine abstehenden Ohren werden rot, als er nach dem österlichen Zuckerwerk schaut, und auch ich verspüre nagenden Neid.

Mit schmetternden Stimmen kommandieren die Lehrer die Jungen in Dreierreihen, und an der Hand unserer Mütter eilen wir die Treppe hinauf, um uns hinten anzuschließen. Ein Fotograf mit großem Stativ und Kamera drängt sich durch die Reihen in das Gebäude. Die Schüler verschwinden mit ihren Müttern und den Lehrern im dunklen Maul der Schule.

Wir, als letzte, werden an der Eingangstür von einem großen hageren Mann mit Glatze und grauem Haarkranz erwartet. Sein Schnurrbart ähnelt einer Bürste. Auf der glänzenden Nase klemmt eine Brille mit runden Gläsern. Er verbeugt sich ungelenk vor meiner Mutter, gibt ihr die Hand und stellt sich als Oberlehrer Kreis vor. Dann, als müßte er mühsam nach Worten suchen, bittet er sie und Walters Mutter, später am Tag oder besser erst morgen in die Schule zu kommen, jetzt gäbe es Schwierigkeiten, wegen den Klassenfotos ... jüdische Kinder ... »Sie verstehen ...« Wir gehen die Treppe hinunter und verabschieden uns mit wenigen Worten. Still gehe ich neben Mutter her. In meinem Ranzen klappert der Federkasten.

Unter all den auf uns gerichteten Augen erkenne ich nur Harros Gesicht. Wir stehen an der Klassentür, Walter und ich. Unsere Mütter reden leise mit Herrn Lehrer Kreis, während die Klasse uns betrachtet wie seltsame Fische in einem Becken. Die zwei unbesetzten Plätze liegen weit auseinander, Walter kommt nach vorn in die erste Reihe, ich etwa in die Mitte ans Fenster. Ich sehe nur ein Stück seines Hinterkopfes. Wir dürfen nicht nebeneinander sitzen.

Harro rettet mich aus meiner Einsamkeit und fragt, ob er den Platz tauschen darf mit dem mir fremden Nachbarn, der mir einen feindseligen Blick zuwarf, als ich mich neben ihn setzen mußte. In seinen neuen Lederhosen und echten Haferlschuhen stapft er stolz zu Harros Platz, froh, daß er nichts mehr mit uns zu tun hat.

Unsere Mütter verschwinden im Gang, ein Gefühl banger Verlassenheit macht meine Knie weich. Harro ist ein magerer Trost. Die unwirschen Stachelköpfe meiner Klassenkameraden, der hochgewachsene, grauhaarige Lehrer mit den scharfen, alles bemerkenden Augen, das Bambusstöckchen in der Ecke, die sonderbaren Buchstaben auf der Tafel, die gerade stehen und anders aussehen als die, die meine Oma mich zu Hause gelehrt hat: eine unbekannte Welt voller Gefahren.

Die Pause, in der die Jungen Butterbrote tauschen, aber nicht mit mir. Im WC, wo wir in einer Reihe nebeneinander gegen eine schwarze Wand pinkeln müssen und nach dem Pimmel der anderen gucken, entdecke ich den Unterschied zu den Jungen anderer Religionszugehörigkeit, und sie den meinen. Danach bin ich Gehässigkeiten ausgesetzt, ein Los, das ich mit Walter teile.

Geschichten über Strafen mit peitschenden Bambusstäben treiben wie Unwetterwolken durch die Gänge, aber Herr Kreis rührt das Stöckchen nie an. Manchmal stellt er jemand, der zu laut war oder ihn geärgert hat, zur Strafe in die Ecke, aber wirklich unfreundlich ist er nie. Allmählich fühle ich mich weniger unsicher. Er läßt nicht zu, das wir verspottet und beschimpft werden, und hält Ordnung in der Klasse.

Die geraden dicken Buchstaben lerne ich rasch und zähle, die Zungenspitze zwischen den Lippen, Rechensummen fehlerlos zusammen. Manchmal helfe ich Harro insgeheim, muß aber in der Klassenecke dafür büßen, als Lehrer Kreis mich dabei ertappt.

Morgens, als ich noch neben Maria durch die lange, leere Stephanienstraße mit den alten, abblätternden Hausfassaden gehe, warten wir oft auf Harro, der aus dem großen Garagentor angerannt kommt. Wir hüpfen und springen vor ihr her, mit Mühe hält sie uns zurück. Wenn wir an der Realschule vorbeigehen, geben wir ihr die Hand, denn die großen Jungen in dieser Schule mit ihren Uniformen, ledernen Koppelriemen und Hakenkreuzbinden um den Ärmeln sehen uns wie ein Rudel Wölfe drohend an.

Wenn aus der Schmiede die kreischenden Geräusche der Drehbank oder das dumpfe Dröhnen des Ambosses zu hören ist, stecken wir die Köpfe um die Ecke durch die Tür der Werkstatt und grüßen Harros Onkel, der dort Chef ist. Mit tiefer, rollender Stimme wünscht er seinem Neffen einen guten Schultag und nickt mir zu, als gehörte ich ganz selbstverständlich dazu.

Maria bleibt am Fuß der Steintreppe stehen, die zur Terrasse vor dem Schultor fuhrt, und winkt uns nach, wenn wir ordentlich in Dreiherreihen durch die große Tür hineindirigiert werden.

Einige Klassenkameraden grüßen mich flüchtig, doch die meisten schauen durch mich hindurch. Die Jungen, die sich um Fritz mit den Lederhosen scharen, wenden den Kopf ab. Herr Kreis hat sie bestraft, als sie Walter und mir ein Bein gestellt und uns zu Stinkjuden erklärt haben.

Wir klappen die Holzsitze an den quietschenden Scharnieren herunter, schieben uns in die Bank und nehmen die Hefte und Federkästen aus dem Ranzen.

Dann taucht hinter dem kleinen Fenster in der Klassentür der Kopf unseres Lehrers auf. Die Tür ist noch nicht offen, als die ganze Klasse aufspringt und jeder sich neben die Bank stellt. Sobald er vor dem Katheder steht, heben alle Jungen außer Walter und mir den gestreckten rechten Arm und rufen einstimmig: »Heil Hitler, Herr Lehrer.«

Er hebt nur die Hand mit der uns zugekehrten Handfläche und murmelt wie zum Dank ebenfalls Heil Hitler.

Wochenlang hat die Klasse geübt, um das Zeremoniell wie ein Mann auszuführen. Fast unhörbar hat Herr Kreis für mich hinzugefügt, daß ich den Gruß nicht mitzumachen brauche. Die Lieder singe ich mit, wenn auch nicht aus voller Brust. Die feindseligen Wörter summe ich nur und stelle mich dumm, als verstünde ich nicht, was sie für uns bedeuten.

In der Pause rede ich mit Harro; unsere Wege trennen sich erst vor dem Garagentor. Sein Onkel, der Schmied, ist auf dem Heimweg eine Bake der Sicherheit.

Vater ist sehr selten daheim. Er macht weite Reisen mit großen Koffern voll Gardinenstoffen und bedruckten Tischtüchern. Seit er kein Geschäft mehr besitzt, sehe ich ihn die Woche über nicht. Die kurzen Karten, die er mit dicken Buchstaben schreibt, sagen nicht mehr, als daß es ihm gut oder mäßig geht, und in einer Art Geheimsprache teilt er Mutter mit, wie hoch sein Umsatz an diesem Tag, in dieser Woche war. Wenn er samstags oder sonntags zu Hause ist, machen wir einen Ausflug. Von dem schiefen Bergbähnchen, in dem man trotzdem gerade sitzt, wenn es vom dicken schwarzen Kabel hochgezogen wird, lassen wir uns auf den Merkur tragen, oft in Gesellschaft von Freunden meiner Eltern, die nie einen Spielkameraden für mich dabei haben. Im Café oben auf dem Gipfel langweile ich mich und darf mit Münzen, die mir Mutter gibt, ein buntbemaltes Blechei aus dem Automaten ziehen, in dem etwa hundert solcher Eier hinter Glas aufgestapelt sind. Die Spielzeuguhr, die in meinem Ei steckt, geht noch am selben Nachmittag kaputt.

Als meine Tante mit dem Lockenhaar aus Berlin im Hotel Gretel auf dem Fremersberg wohnt, ist sonntags ein Fest. Senta, meine Schäferhündin, darf nicht mit. Tantes Barsoi ist sehr scharf und bissig, obwohl er mir gegenüber ganz zahm tut.

Ich treibe mich in den Gängen und im Garten herum und werde in der Küche mit Torte und Eis vollgestopft, bis mir beinahe übel wird. Die dicke blonde Küchengehilfin bekommt dafür einen Verweis von Dodi, der Chefin, einer Bekannten meiner Tante und ihres Freundes. Sie nimmt mich mit auf die Terrasse, wo alle bei Kaffee und Kuchen sitzen und flüsternd über die Artikel in den Sonntagsblättern reden. Manchmal ist Vaters Stimme zu hören. Mutter zischt warnend seinen Vornamen, und gedämpft plätschert das Gespräch weiter dahin.

Jetzt gehe ich morgens immer allein zur Schule mit Harro, der vor der Garage auf mich wartet. Marias trauriges Gesicht, ihre Hand, die mir hinter den Scheiben von Vaters Auto Abschied winkt, erscheint jeden Abend beim Einschlafen vor meinen geschlossenen Augen. Ihr Weggehen schmerzt mich noch immer und ich bete jede Nacht darum, daß sie zurückkommt.

Mia, eine entfernte Verwandte aus Frankfurt, ist kein Ersatz für sie. Ihr molliges Gesicht ist freundlich. Mit dunklen Augen schaut sie in die Ferne, aber nicht nach mir. Ihr Zopf ist lang und dick und braun. Ich darf nicht daran ziehen. Manchmal nimmt sie mich sonntags auf einem Spaziergang mit, schneidet sogar eine Vogelpfeife aus Kirschholz für mich. Wenn sie ihrer Freundin begegnet, die auf zwei Kleinkinder aufpaßt, dann redet und redet sie immerfort, als wäre ich nicht vorhanden.

Beim schrillen Klingeln des Telefons am Sonntagmorgen springt Vater erschrocken aus dem Bett. Ich schlafe längst nicht mehr und betrachte die großen ovalen Fotos von Mutters Eltern, die über den rotgeflammten Kopfenden hängen. Seit Vaters Mutter bei uns wohnt, steht mein Bett vor dem hohen Fußende der elterlichen Ehebetten. Ich habe genügend Gelegenheit, das Porträt meines Großvaters zu studieren. Ich habe ihn kaum gekannt, aber seine Lieder in einer fremden, weichen Sprache, seine Späße und seine hell bimmelnde goldene Uhr leben verschwommen und warm in meiner Erinnerung fort.

Mit blassem, bestürztem Gesicht kommt Vater vom Telefon zurück, flüstert aufgeregt etwas zu Mutter und beide ziehen sich in größter Eile, fast ohne Worte an. Mia soll mit mir spazierengehen, sie müssen in einer dringenden Angelegenheit zu Tante Mina, Omas jüngster Schwester.

Es ist sonnig, aber kühl. In meiner neuen Lederhose, mit bloßen Knien, spaziere ich neben Mia zum Hügel hinter der Schule. Dort trifft sie ihre Freundin, und hinter dem Kinderwagen herlaufend reden sie pausenlos miteinander. Ich weiß nicht, was ich mit den kleinen Kindern spielen soll. Aus Langeweile reiße ich Gras und Blumen ab, blase auf den Halmen, werfe mit Kieselsteinen und spüre plötzlich ein ganz dringendes Bedürfnis. Ich schäme mich, es vor Mias Freundin offen zu bekennen und beschließe, allein nach Hause zu gehen. Zuerst gehe ich schnell, dann renne ich durch die Straßen, die am Sonntagmorgen wie ausgestorben sind, an Onkel Rudis Geschäft entlang zum Leopoldsplatz und am Kino vorbei in unsere Straße, als mir in meiner großen Not einfällt, daß niemand zu Hause ist und daß Tante Minas Wohnung um die Ecke mir Rettung verspricht. Ich hämmere an die Tür und läute, als stünde das Haus in Flammen.

Mit großen, erschrockenen Augen öffnet Irene, Tante Minas Tochter, die Haustür, und schlägt ängstlich die Hand vor den Mund mit den Kaninchenzähnen, als ich sie beiseite dränge und zum WC stürze.

Im Gang höre ich ein Durcheinander aufgeregter Stimmen, Mutter will zu mir herein und hören, was mit mir los ist. Sie ist verstört und hat verweinte Augen, und einen Augenblick lang fürchte ich, ich könnte schuld daran sein.

Als ich, beschämt über mein Mißgeschick, mit Mutter das Zimmer betrete, sitzen die Verwandten mit blassen Gesichtern und roten Augen um den Tisch. Fragend sehe ich Vater an, und fast tonlos sagt er zu mir: »Heute nacht haben sie Onkel Adolf nach Dachau abtransportiert.« Ich verstehe nicht recht, was er meint, weiß aber ganz sicher, daß es tausendmal schlimmer ist als das, was mir soeben passiert ist.

Vater reist am nächsten Montagmorgen später ab als gewöhnlich. Mutter sagt mit erstickter Stimme, sie habe Angst um seine Sicherheit, doch er winkt fast fröhlich ab und meint, ihm könne so etwas nicht passieren.

Ich würde heute gern die Schule schwänzen, aber beide finden, das könnte zu sehr auffallen.

Harro erwartet mich ungeduldig am Garagentor und runzelt die Stirn, weil ich zu spät komme. Auf dem Weg zur Schule erfahren wir, daß sein Onkel, der Schmied, nicht in der Werkstatt ist; der Geselle sagt, er sei seit gestern abend nicht zu Hause gewesen.

Auf dem Treppenabsatz vor der Schule stehen mindestens zehn Klassenkameraden in den braunen Uniformen des Jungvolks um Fritz herum. Die Koppeln blitzen, die braunen Hemden sind frisch gebügelt, als gäbe es in ihrem Club ein Fest. Sie schauen kriegerisch drein, und die älteren Jungen, ebenfalls in brauner Montur, geben sich ihnen gegenüber kameradschaftlicher als sonst.

Fritz ruft mir etwas zu, aber ich verstehe es nicht oder will es nicht verstehen. Beim Hineingehen in der Reihe zischt er so laut, daß sogar Herr Kreis hören kann, was er sagt: »Du kleiner Stinkjude, bist du taub? Wir werden dir die Ohren auswaschen.«

Während des Unterrichts kommt Unruhe auf, aber Herr Kreis greift kaum ein, als spürte er, daß da etwas schwelt, was er nicht löschen kann. In der Pause lungere ich in seiner Nähe herum und Walter tut es mir nach.

Bevor noch die Meute drinnen ist, sitzen wir als erste in der Bank. Harro flüstert vorsichtig, wenn die Glocke nach der letzten Stunde läutet, müßten wir uns so schnell wie möglich auf die Beine machen.

Ich passe beim Unterricht nicht auf und meine falsche Antwort löst höhnisches Gelächter hinter mir aus.

Der erste Glockenton ist noch nicht verstummt, als Harro und ich aufspringen. Den Ranzen unverschlossen unterm Arm geklemmt, rennen wir ohne Gruß zur Klasse hinaus, rasen die Treppe hinunter zur Tür, die gerade aufgemacht wird. Über die eigenen Füße stolpernd, mehr rutschend als laufend, erreichen wir über die Granitstufen vor der Terrasse den Gehsteig. An der Ecke der Stephanienstraße, wo der Weg steil ansteigt, ringen wir keuchend nach Atem und sehen, daß der Feind sich hinter uns vor der Schule versammelt; einige schnallen ihre Koppeln ab.

Während des Laufens schiebt Harro den schweren Federkasten auf den Boden des Ranzens, macht ihn zu und löst den Schulterriemen. Er ruft, ich solle dasselbe tun und die Tasche als Schleuder zur Verteidigung benutzen.

Mit klopfendem Herzen folge ich seinem Beispiel und versuche mit ihm Schritt zu halten. Langsam aber unaufhaltsam holt uns die braunrote Horde ein. Unsere Klassengenossen erscheinen uns wie Fremde, wie hungrige Wölfe im Schnee.

Die Schmiede gewährt keinen Schutz. Die Tür ist verschlossen und bleibt auch nach heftigem Hämmern zu.

Vor der Tür stürzen sie sich mit Kriegsgeschrei und sausenden Koppeln auf uns. Die Flucht nützt nichts mehr. Rasend lassen wir unsere Ranzen wie Mühlenflügel kreisen. Als ein Koppel mich trifft, schlage ich zitternd vor Wut, ohne den Schmerz zu fühlen, zurück. Das Schimpfen verstummt, der Kampf ist kalt und verbissen.

Zwei Passanten in Arbeitskleidung befehlen uns mit donnernder Stimme aufzuhören, und plötzlich ist alles vorbei.

Hinkend und blutend, voller Schrammen und Beulen setzen wir den Heimweg fort. Fritz und seine Meute bleiben stehen. Umzusehen wagen wir uns nicht.

Vor Kummer schluchzend vergrabe ich mein tränenüberströmtes, geschundenes Gesicht an Mutters Brust, als sie die Tür öffnet. Ich finde keine Worte.

Ein paar Tage später, fast wieder geheilt, warte ich am Garagentor auf Harro. Seine Mutter kommt heraus und sagt mit abgewandtem Blick, er sei allein gegangen. In der Klasse sitzt er auf einem anderen Platz, an der Tür, weit weg von mir.

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