Читать книгу: «Der Professor mit dem Katzenfell», страница 3

Шрифт:

Schlichtkohl schüttelte den kahlen Kopf vor sich selber. Er versuchte zwar, sich objektiv zu betrachten; aber er bewertete stets sein »altes« Aussehen, das er Jahrzehnte lang verinnerlicht hatte, automatisch mit. Jeden anderen würde der Ersteindruck, den sein nackter Schädel erzeugte, daran hindern, sein Gesicht mehr als oberflächlich zu betrachten. Alle würden nur eine Bowlingkugel mit Augen, Mund, Nase und Ohren sehen – und zurückschrecken.

Wem würde auffallen, dass die spiegelnde Glatze, die sich wie die Kugel eines Deorollers wölbte, überhaupt nicht zu dem jugendlich straffen und wohltuend symmetrischen Gesicht passte? Dass es förmlich nach einem Haarschopf, Koteletten und Augenbrauen schrie, nach dem dunklen Schimmer eines unaufhörlich wachsenden Bartes an Wangen und Hals. Und natürlich nach Wimpern.

Der Professor beugte sich vor: Rechts hatte er noch zwei Wimpern, links sprossen drei aus dem Lidrand. Er traute sich nicht, sie zu berühren. Wahrscheinlich waren sie scheintot und würden sofort ausfallen.

Was ein paar tote Keratinfäden – mehr waren Haare ja nicht – ausmachten! Ohne Augenbrauen wirkte seine Stirn viel kantiger, die Augenhöhlen erinnerten an Krater, und die Lider sahen ohne Wimpern entzündet aus.

Mara hatte ihn zwar schon gekannt, als er haariger gewesen war, als man das bei Lehrstuhlinhabern für angemessen hielt; aber sie würde das bald vergessen haben. Oberflächlichkeit war eine der wichtigsten modernen Tugenden. Es war bedeutsamer, gut auszusehen, als intelligent zu sein, und eine gestylte und gepflegte Mähne machte ungleich mehr her als innere Werte. Ein kahler Albert Schweitzer hatte keine Chance gegen einen blond gelockten Brad Pitt.

Mit einem verächtlichen Grunzen wandte sich Schlichtkohl vom Spiegel ab und verließ das Bad. Er griff sich Sammi, die eben aus der Küche in Richtung Wohnzimmer schnürte und ein überraschtes »A!!!« ausstieß, und ging ins Schlafzimmer. Er setzte die Katze auf ihren Platz an seiner Seite und sprang ins Bett. Dann packte er den Wecker und schlug ihn dreimal kräftig auf den Nachttisch.

Das blöde Ding hatte um 6.15 zu Dudeln begonnen, drei Stunden vor der eingestellten Zeit. Wecken zur Unzeit war eine Krankheit, die das kleine 9,90-Euro-Radio in Schüben heimsuchte wie Malaria einen Afrikaner. Bisher hatte jedoch ein wenig sanfte Gewalt immer geholfen, die Mechanik zur Besinnung zu bringen.

Der Altorientalist drehte sich um und nahm seine Katze in den Arm. Er ächzte wohlig. Noch zweieinhalb Stunden Schlaf – welch unerhörter Luxus!

Sammis eisenharte Pfoten, die über ihn hinweg trampelten, rissen ihn aus dem Schlummer. Er schaute auf die roten Digitalziffern: 10.15 Uhr. Der Wecker gab keinen Ton von sich! Entweder war das Ding endgültig kaputt, oder er war an den Lautstärkeregler gekommen, als er es zur Wiederbelebung an dem Nachttisch gehauen hatte. Das gerändelte Plastikrädchen verstellte sich bei der leisesten Berührung, meist auf null.

Mit einem lautlosen Fluch fuhr Schlichtkohl aus dem Bett und in die Kleider. Er klaubte die getragene Wäsche des Vortags – Hemd, Socken und Unterhose – hastig vom Boden auf und scherte sich nicht darum, dass der Slip gleich doppelt falsch saß – links herum und seitenverkehrt. Es ging um Sekunden. Er durfte Mara unter keinen Umständen verpassen!

Mara! Ein Nachgeschmack des Traums fuhr ihm durch die Glieder, verwirrende Erinnerungen an leidenschaftliche Küsse und heißes Glück. Erschreckt drängte er diese Gedanken zurück, versuchte aber, sie auf keinen Fall zu vergessen. Wenn er nicht gerade träumte, war ihm schmerzhaft klar, dass er nicht den Hauch einer Chance bei der schönen Studentin hatte.

Das tat ihm weh und erleichterte ihn zur gleichen Zeit; denn Bemühungen von Universitätslehrern um sexuelle Kontakte mit Studierenden waren zwar alltäglich, aber dennoch schlechter Stil.

Er stopfte das Hemd in die Hose, zog das Jackett über, schlüpfte in die Schuhe und rannte zur Tür. Dort angekommen, drehte er um, galoppierte zur Anrichte zurück, steckte Geldbeutel, Schlüsselbund und Brillenetui ein, schleuderte die Keilschrift-DVD mit den neusumerischen Wirtschaftsurkunden, Prozessdokumenten und Rechtstexten aus den Stadtstaaten Umma und Ur in seine Aktentasche, lief aus der Wohnung, machte nochmals kehrt, grapschte seine Armbanduhr vom Nachttisch, warf sie in die Sakkotasche, hetzte zum Ausgang, knallte die Tür zu, schloss sie ab und hastete polternd die acht Treppen zum Ausgang herunter. Es war 10.24 Uhr.

Er stürzte sich in einer scharfen Rechtskurve auf die Himmelstraße und lief los. Kaum in Fahrt, streifte er schon eine alte Dame, die aus der Naturheilpraxis im Tiefparterre eines Nachbarhauses trat und plötzlich stehen blieb, ein wenig mit der Aktentasche, rief ihr eine Entschuldigung über die Schulter zu, überquerte die Rehmstraße, ohne auf Autos zu achten und bog in einer Schräglage wie ein Skirennfahrer beim Abfahrtslauf der Winterolympiade nach links in die Alsterdorfer Straße ein. Er schlängelte sich durch Auslagen von Obsthändlern und Blumenläden, die den größten Teil des Trottoirs versperrten – ihm war nie aufgefallen, welche Unzahl von Floristen sich auf diesem nur etwa 250 Meter langen Straßenstück konzentrierte! – umkurvte die Tische von Coffeeshops und Kneipen und nahm die Kurve an der runden Sparkasse in die Bebelallee, als wäre es der letzte Schwung vor dem Ziel eines olympischen Wettkampfs.

Er gab sein Letztes, als er die Überführung der Hochbahn wie eine nietenpockige und verrostete Verheißung vor sich erblickte, überholte zwei Jogger in bunten Trainingsklamotten, sprengte die altmodischen Schwingtüren der U-Bahn-Station Hudtwalckerstraße auf und hetzte die Treppen empor, weil er oben einen Zug halten hörte. Mara!

Er schoss durch eine weitere Schwingtür auf den Bahnsteig, aber es war der falsche Zug – Richtung Ohlsdorf. Schwer atmend registrierte Sebastian Schlichtkohl mit Erleichterung, dass die Anzeigetafel die Ankunft seines Zuges in einer Minute ankündigte. Er sah auf die große runde Bahnsteiguhr: 10.28 Uhr. Er würde es wohl schaffen.

Als er in die Bahn Richtung Kellinghusenstraße stieg, fiel ihm ein, dass er sein Handy und seine Baseballmütze vergessen hatte, mit der er seit ein paar Wochen das spiegelnde Rund der Glatze zu tarnen suchte. Und, beim Sonnengott Nanna, er hatte die Zähne nicht geputzt! Bei dem Pesthauch, der manchmal morgens seinem Munde entwich, würde er unbedingt reichlich Abstand zu Mara halten müssen, falls es zu einem persönlichen Gespräch kam – was bei einem Seminar ja immer möglich war!

Rasiert war er ebenfalls nicht. Aber seitdem sein Bart nicht mehr wuchs, war das zeitraubende allmorgendliche Ritual überflüssig geworden – der einzige Vorteil von Alopecia areata!

Schlichtkohl blieb an der Tür stehen, denn es waren nur zwei Stationen bis Hoheluftbrücke, wo er in den Bus umsteigen musste. Dort angekommen, sprang er aus dem Wagen, rannte zur Treppe, stürzte sie in Dreistufensätzen hinab und schoss zur Straße, wobei er seine liebe Not hatte, drei Kindern auszuweichen, die ihm, Pommes Frites aus dem Hamburger-Laden am Fuß der Station kauend, in den Weg liefen.

Die Fußgängerampel war rot, aber obwohl kein Bus in Sicht war, rannte Schlichtkohl zur Haltestelle in der Straßenmitte. Er versuchte, sich zu beruhigen. Es war 10.36 Uhr, und er hatte jede Menge Zeit. Aber nach dem Telefongespräch mit Hasenklee und dem Traum, dessen Bilder und Gefühle sich immer wieder in sein Bewusstsein zu drängen versuchten, war das schwer. In seinem Innern brodelte es weiter.

Die 102 kam um 10.39 Uhr, und Schlichtkohl ließ sich aufatmend in einen Sitz fallen. Als der Gelehrte zusammen mit einer Horde von Studenten und Studentinnen am Grindelhof ausstieg, seiner gewohnten Haltestelle, war es erst 10.47 Uhr. Er überquerte die Grindelallee. Weil es bis zum Allendeplatz nur ein Katzensprung war, schritt er ruhig aus, obwohl ihm das Hemd am Rücken klebte und das schmale Vorderteil seiner Unterhose samt »Eingriff« ganz und gar in den Spalt zwischen seinen Hinterbacken gerutscht war und dort unangenehm scheuerte und zwickte. Dennoch ging er so, wie er glaubte, dass ein Lehrstuhlinhaber ging.

Um 10.52 Uhr passierte er die urtümliche Burgtoreinfahrt des aus grob behauenen Steinquadern errichteten Institutsgebäudes Allendeplatz 1 und stieß die altmodische Tür auf. Gemächlich nahm er den Gruß des Pförtners entgegen, überquerte die düstere Eingangshalle mit ihrem tückisch glitzernden schokoladenbraunen Linoleum und schritt an dem mit Zetteln übersäten Schwarzen Brett, das hier rot war, vorbei nach rechts zur Treppe, die zu den Seminarräumen im ersten Stock führte.

Er wollte gerade die Tür von Raum 107 öffnen, als sein Blick auf einen in Kopfhöhe kleinerer Menschen mit Tesafilm befestigten DIN-A5-Bogen mit dem Briefkopf des Fachbereichs Geschichte fiel. Da stand: »Die Lehrveranstaltung 08.229, HS »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Prof. Dr. S. Schlichtkohl), findet heute aus technischen Gründen ausnahmsweise in Raum Phil 1219 statt«.

Der Professor konnte es nicht glauben. Wer verlegte ohne Rücksprache mit ihm sein Hauptseminar in den Philosophenturm? Automatisch öffnete er die schwere Tür. Die Neonröhren an der Decke brannten, aber der Raum war leer. Irgendwelche technischen Mängel waren nicht erkennbar. Schlichtkohl stieß den allerschlimmsten sumerischen Fluch aus, den er kannte, und der nicht nur den Gott Gatumbu verunglimpfte, sondern zudem noch die Mutter des Königs Gudea von Lagaš als läufige Hündin bezeichnete.

Er rannte den Korridor entlang zur Treppe, schoss grimmig an dem verdutzen Pförtner vorbei (der Idiot hätte ihm ja Bescheid sagen können, dachte Schlichtkohl erzürnt), wendete sich vor der Tür nach rechts und rannte mit flatternden Rockschößen los. Ein paar Studenten lachten hinter ihm her. Der Philosophenturm lag auf der anderen Seite des Universitätskomplexes und war einen guten Kilometer entfernt, und es war – er zerrte seine Uhr aus der Sakkotasche – 10.56 Uhr. Das würde verdammt knapp werden!

Völlig außer Atem und schweißnass erreichte Schlichtkohl den so unphilosophisch aussehenden riesigen rechtwinkligen Kastenbau aus den 60er Jahren. Er schoss durch eine der Drehtüren in die unsinnig hohe Lobby, lief zu den Lifts und stürzte in eine der Kabinen. Es war zehn Minuten nach elf. Unglaublich – er hatte es doch noch geschafft!

Im zwölften Stock eilte der Professor zu Raum 19. Er wollte gerade die Klinke herunterdrücken, als sein Blick auf einen Zettel fiel. »Das aus AP 1 107 verlegte Hauptseminar »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Prof. Dr. S. Schlichtkohl) findet heute ausnahmsweise im Raum Phil 814 statt«, stand da.

Ungläubig öffnete der Professor die Tür. Der Raum war leer. Er drehte sich benommen um, ging zu den Aufzügen, fuhr in den achten Stock und begab sich zu Raum 14. Wie er geahnt hatte, klebte wieder eine Notiz an der Tür: »Die Lehrveranstaltung 08.229, HS »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Dr. S. Schlichtkohl), fällt heute wegen Krankheit des Lehrenden aus«.

Sebastian Schlichtkohl zog mechanisch seine Uhr aus der Jackentasche. Es war 10.17 Uhr. Er hatte keine Kraft mehr, um die Tür aufzustoßen. Er war völlig durchnässt, Schweiß lief ihm in die Augen, und ihm war übel. Sport vor dem Frühstück hatte ihm noch nie gut getan. Er wankte den Korridor entlang bis zum Geschäftszimmer des Fachbereichs Geschichte, den man letztes Jahr in »Historisches Seminar« umgetauft hatte, und ließ sich auf einen der drei Stühle fallen, die vor dem Sekretariat standen.

Er hatte verloren! Wenn Mara geplant hatte, das Seminar zu besuchen, hatte sie aufgegeben und war weggegangen. Seine Kehle brannte, sein Herz klopfte laut, und in seinem Inneren wühlte ein dumpfer Schmerz, aber er war merkwürdig gefasst.

Das Mobbing ging also wieder los, und zwar in verschärfter Form. Bisher hatte man die Titel seiner Vorlesung und seiner Übungen im Vorlesungsverzeichnis geändert und dabei verunstaltet, falsche Zeiten und Räume abgedruckt oder einen Teil seiner Lehrveranstaltungen »vergessen«, seine Aushänge vom Schwarzen Brett entfernt und ihn mit Beschuldigungen überzogen. Ihm war vorgeworfen worden, eine Sekretärin beleidigt, eine Schwangere mit einem Lehrauftrag betraut und den Aushang eines Fachkollegen bekritzelt zu haben.

Er hatte zu den Vorwürfen nie Stellung nehmen können, war weder der Sekretärin gegenübergestellt worden noch hatte er die fragliche Bekanntmachung zu Gesicht bekommen. Es hatte niemanden interessiert, dass nicht er, sondern der Dekan Lehraufträge vergab, und dass er die Sekretärin überhaupt nicht kannte und nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Trotzdem war er auf Sitzungen der Fachkommission und des Fachbereichsrats beschimpft und vom Präsidenten und dem Personalrat gerügt worden.

Seine Einsprachen und Beschwerden hatten alles nur schlimmer gemacht, ebenso eine vorsorgliche Entschuldigung an die Adresse der Sekretärin, die ihm zunächst von der Fachbereichsführung dringend nahe gelegt, dann aber vom exakt gleichen Personenkreis wenig später als Eingeständnis seiner Schuld ausgelegt worden war. Er kannte die Spielregeln des Mobbing und des universitären Intrigenspiels einfach zu wenig, um sich richtig zu wehren.

Mit Aktionen wie der heutigen vergraulte man seine Studenten. Dabei war die Zahl der Studierenden, die seine Vorlesungen und seine Übungen belegt hatten und besuchten, stark zurückgegangen und sank weiter.

Das lag vor allem daran, dass Weberknecht, der einzige Altorientalist neben ihm und dummerweise gleichzeitig Chef des historischen Seminars, ihn gezwungen hatte, seine beiden beliebtesten Vorlesungen einzustellen, angeblich wegen zu geringer Nachfrage – obwohl sie viel besser besucht gewesen waren als Weberknechts eigene. Die erste hatte gelautet: »Die epochalen Erfindungen der Sumerer: das Rad, die Schrift, der Ackerbau und die Domestizierung von Haustieren, und ihr Einfluss auf die globale Menschheitsentwicklung von der vorchristlichen Zeit bis heute«, die zweite »Warum und wie epocheprägende Hochkulturen wie Sumer und Akkad in Vergessenheit geraten konnten und unter welch abenteuerlichen Umständen sie nach Jahrtausenden wiederentdeckt wurden«.

Beide Vorlesungen hatten von ungewöhnlichen Ereignissen und witzigen Anekdoten gestrotzt, die er sich ziemlich mühsam erarbeitet hatte. Die Studenten liebten ein wenig Unterhaltung beim Lernen.

Ein Semester hatten seine Vorlesungen im Vorlesungsverzeichnis gefehlt, dann waren sie wieder angeboten worden – mit unverändertem Titel – nur das Wörtchen »abenteuerlichen« fehlte, und es hieß stattdessen »unter welchen Umständen« – und, wie Schlichtkohl von Mara mitgeteilt worden war, so gut wie identischem Text. Der Referent hatte sich allerdings geändert. Der hatte August Weberknecht geheißen.

Weberknecht und seine Chefsekretärin, Frau Hundt, steckten hinter den Intrigen, da war Schlichtkohl sicher. Sie wollten ihn wegekeln. Gründe gab es aus ihrer Sicht genug: Weberknecht fürchtete sein überlegenes Fachwissen, und er hatte wohl, in tiefen Gedanken versunken wie meist, ihn und Frau Hundt ein paar Mal auf dem Campus übersehen und nicht gegrüßt. Außerdem blieb er den geselligen Veranstaltungen des Seminar-Lehrkörpers fern, nachdem er beim ersten Kneipenabend beobachtet hatte, wie seine Fachkollegen Weberknecht in peinlicher Art und Weise hofiert und angeschleimt hatten. Er war ein Außenseiter, und das wurde durch die Alopecia areata jetzt für jedermann sichtbar.

»Der nächste bitte!« Schlichtkohl schreckte auf. Eine hübsche Studentin mit hüftlangen weißblonden Haaren schwebte graziös aus dem Sprechzimmer, und hinter ihr tauchte Frau Hundt in der Tür auf. Sie war weit jenseits 50, überschminkt und füllig, versuchte aber, sich mit Gewalt und einer platinblond gefärbten Mähne auf »jung« zu trimmen.

Der Versuch war ein Fehlschlag. Die Hundt sah aus wie ein vertrocknetes Alpenveilchen, das jemand mit Lackfarbe und Haarspray aufzumöbeln versucht hatte. Oder schlimmer. Schlichtkohl war zu erschöpft, als dass ihm ein Vergleich eingefallen wäre, der dieser Ungeheuerlichkeit gerecht wurde. Aber er war sicher, der alte Meskiaggascher, der König von Uruk, hätte die Hundt als Hexe steinigen lassen.

Die Chefsekretärin machte große Augen, als sie ihn sah. »Herr Professor Schlichtkohl«, flötete sie wie eine Amsel auf Kokain, »was tun Sie denn hier? Wir haben heute Sprechstunde für Erstsemester.« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge und setzte dann hinzu: »Wollen Sie eine Auskunft für Anfänger?« Ihr Lächeln hätte ausgereicht, um einen Anderthalb-Tonnen-Ochsen zu vergiften.

»Jawohl!« Schlichtkohl sprang zu seiner eigenen Überraschung so heftig auf, dass sein Plastikstuhl an die Wand des Korridors knallte. Erschreckt wich Frau Hundt ein paar Schritte zurück. Er folgte ihr in das Vorzimmer von Weberknechts Allerheiligstem. »Können Sie mir sagen«, begann er, «wieso die Teilnehmer meines heutigen Hauptseminars durch Aushänge mit dem Briefkopf dieser Geschäftsstelle übers ganze Universitätsgelände gehetzt und dann schließlich mit der Mitteilung konfrontiert wurden, ich sei krank?« »Ich bin nicht krank!« setzte er überflüssigerweise hinzu.

»Ja, ist es denn die Möglichkeit?«, säuselte Frau Hundt, die sich schon wieder gefangen hatte, und Schlichtkohl sah in ihren Augen Genugtuung und Schadenfreude aufblitzen. »Ja, das ist es, und Sie wissen genau, wa...« Dem Professor, der zuletzt deutlich lauter geworden war, blieb das Wort in der Kehle stecken. Die rechte Hand des Institutsleiters hatte auf ihrem Schreibtisch eine Ausgabe der Hamburger Morgenpost eben so herumgedreht, dass die Lettern für ihn nicht mehr auf dem Kopf standen.

Auf dem Titelblatt prangten ein Bild von Gotthard Hasenklee, und die fette Schlagzeile: »Professor von Schlepperschraube zerstückelt«. Darunter stand in kleinerer Schrift: »Hamburger Hochschullehrer trieb tot im Hafen. Bluttat oder Selbstmord?«

Kapitel 3

Das erste, was Sebastian Schlichtkohl sah, als er in die Tischbeinstraße einbog, war der blitzblanke Polizei-Mercedes, der sich auf der Straße vor Hasenklees Haus breitmachte. Obwohl die Dienstfahrzeuge der Ordnungshüter in ihren neuen Farben silber und blau nicht wie Polizeiautos aussahen – was um Himmels willen war am bewährten Grün der »grünen Minna« falsch gewesen, sodass man es aufgegeben hatte? – und somit verwechselbar geworden waren, war der Benz nicht zu übersehen: Als einziges Auto war er nicht auf dem Randstreifen der Straße geparkt, sondern stand auf deren schmaler Fahrbahn.

Der Professor war vom Bahnhof Hoheluftbrücke die acht Stationen bis nach Barmbek gefahren und dann zu Fuß gegangen, der Einfachheit halber die Fuhlsbütteler Straße herunter.

So war er noch nie zu Gotthard gefahren, denn er hasste es, an überfüllten städtischen Rennpisten Autoabgase zu inhalieren, die stinkenden Fürze der Verbrennungsmotoren anderer Leute. Meistens nahm er die S-Bahn bis Alte Wöhr, von wo man nur fünf oder sechs Minuten gehen musste, oder er machte einen Spaziergang quer durch die grüne Lunge der Hansestadt. Von seiner Wohnung bis zu Gotthards Haus waren es – Luftlinie – ungefähr drei Kilometer. Wenn man nicht gerade auf vögelnde Schwule stieß oder sich in Drachenschnüren verhedderte, war es eine sehr angenehme Lustwandelei.

Aber der Marsch entlang der Fuhlsbütteler Straße, der sich länger hinzog, als er nach dem Studium des Stadtplans erwartet hatte, gab ihm Gelegenheit zum Nachdenken. Trotz der Giftgasinhalation.

Er war aus dem Sekretariat gestürmt, das Kichern der Hundt im Ohr, nachdem er die Schlagzeile der Morgenpost gelesen hatte – nicht, weil er an den Tod Hasenklees glaubte, sondern weil ihm die niederträchtige Falschheit der Vorzimmerziege körperliches Unwohlsein verursachte. Immer noch hallte ihre tückische Frage: »So eine schreckliche Tragödie! Kannten Sie den armen Kerl nicht persönlich, Herr Professor?« in seinem Schädel nach.

Natürlich war Hasenklee nicht tot. Er hatte um Viertel nach sechs mit ihm telefoniert, und die Ausgabe der Morgenpost, mit der Frau Hundt ihn zu schockieren versucht hatte, war zu diesem Zeitpunkt längst gedruckt gewesen. Aber was zum Teufel war passiert? Was hatte das alles zu bedeuten?

Die beiden Insassen des vor Hasenklees Haus geparkten Polizei-Mercedes, ein dicklicher Beamter und eine Beamtin mit schwarzem Zopf, standen vor der Treppe, auf der Leo gestorben war. Die Polizistin telefonierte mit ihrem Handy. Schlichtkohl setzte sein Briefträgergesicht auf, ging auf den Ordnungshüter zu und sagte in breitem Hamburgisch: »Jörn Carstensen vom Tierheim Säbener Straße. Ich soll hier ein ausgesetztes Haustier abholen. Dem armen Geschöpf ist doch nicht etwa was passiert, ich meine, weil Sie hier postiert sind?«

Er versuchte, das missionarische Sendungsbewusstsein an den Tag zu legen, das er bei Tierschützern beobachtet hatte. »Das Elend der Tiere ist riesengroß!« eiferte er. »Wissen Sie, wie viele Hunde und Katzen die Deutschen aussetzen, Jahr für Jahr? Hunderttausende, sag ich Ihnen! Es ist eine Tragödie! Jeder Fall ist ein Vertrauensbruch schlimmster Art, ein Betrug am Tier, eine Grausamkeit ersten Ranges! Hunderttausende Tiere werden fortgejagt, verlieren ihre geliebten Bezugspersonen und erleiden ...«

»Jajaja, ist ja gut!« Der Polizist verzog das Gesicht und hob die rechte Hand, als wolle er sich gegen die Wortflut schützen. »Ihrem Viech ist nichts zugestoßen, soviel ich weiß. Wir haben hier einen Einbruch mit Vandalismus, keine Tierquälerei!« »Bei Schönemann?«, fragte Schlichtkohl, entsetzte Vorahnung schauspielernd. »Neinnein, bei Hasenklee!« beruhigte ihn der Beamte. Er drehte sich um und ging zu seinem Benz. »Wir warten auf die Spurensicherung!«, brummte er dabei. »Nun holen Sie Ihr betrogenes Haustier schon!«

Schlichtkohl drängte die Versuchung zurück, den Ordnungshüter zu fragen, ob er die Morgenpost gelesen habe, erklomm die Treppe, durchquerte den Korridor und stieg in den dritten Stock. Die Tür von Hasenklees Wohnung war nur angelehnt. Niemand hielt Wache. Überall war Chaos. Schubladen waren herausgerissen und ausgeleert, Schranktüren standen offen, das Sofa war aufgeschlitzt und die wertvollen Bücher aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, die Gotthard so schätzte, waren aufgeblättert, ausgeschüttelt und auf den Boden geworfen worden. Die meisten lagen mit zerknüllten Seiten auf dem Gesicht. Sogar der Kühlschrank und der kleine Froster waren ausgeräumt worden, und die aufgetauten Lebensmittel trieften in einer rosafarbenen Plastikwanne vor sich hin.

Die Bilder aus der Gemäldesammlung seines Freundes, fast alles Originale, lagen auf dem Wohnzimmerparkett. Bei den meisten war die Rückseite aufgerissen.

Der PC im Arbeitszimmer, das man wegen der sich auftürmenden Bücherhalden kaum betreten konnte, war eingeschaltet, und seine CD-Schublade ausgefahren. Sämtliche Datenträger fehlten, sogar die Zip-Disketten und die alten Floppies in ihren Plastikboxen. Ihr Stammplatz, eine Plastikbox mit bräunlich-transparentem Kippdeckel, die im Bücherregal am Schreibtisch stand, war leer.

Schlichtkohl kam ein Gedanke. Als er bei seinem letzten Besuch ein wenig über die vergleichsweise winzige Kapazität der Discs und Disketten gemosert hatte, hatte ihn Gotthard am Arm genommen und ins Bad geführt. Er hatte eine dunkelblaue Blechdose vom obersten Regalbrett genommen, die so groß war wie ein Päckchen Zigaretten, nur ein wenig breiter, den Deckel aufspringen lassen und ihm das Kästchen vor die Nase gehalten. Drin hatten dicht an dicht Heftpflasterstreifen gesteckt. »Die leuchten im Dunkeln,« hatte Hasenklee gelacht, «Kitschpflaster aus den USA!« und den Inhalt der Dose auf seine Hand geschüttelt.

Neben den »Band-Aids« war ein schmaler, etwa kleinfingerlanger Gegenstand aus Metall ans Licht gekommen, der wie ein Minifeuerzeug aussah. »USB-Stick mit zwei Gigabyte!«, hatte sein Freund erklärt, »ersetzt rund 1400 Floppies!« Er hebe den Stick immer in der Pflasterdose auf. »Erstens sind verschiedene vertrauliche Dateien da vor meiner Putzfrau sicher, und zweitens verliere ich das winzige Ding nur, wenn es keinen festen Platz hat, der weit weg vom Schreibtisch ist!«

Der Professor ging ins Bad, das direkt neben dem Arbeitszimmer lag. Hier war wenig zerwühlt. Offenbar hatten die Vandalen das, was sie suchten, nicht in Rasierschaumtuben und Flacons mit Männerparfüm und Aftershave vermutet. Auf dem obersten Brett standen nebeneinander drei Pflasterdosen, aber nur eine war dunkelblau und enthielt bunte »Glow in the dark«-Pflaster, laut Aufschrift ¾ Inch mal drei Inch groß. Schlichtkohl stellte sie auf den Kopf und fühlte einen kleinen Gegenstand aus kühlem Metall in der Handfläche – den Stick!

Na also! Er steckte den Datenspeicher ein, verließ die Wohnung und stieg die sieben Treppen in den Keller hinab. Die Tür zu Hasenklees feuchtem kleinem Betonverlies war nicht verschlossen, und als er sie aufstieß, schlug ihm der Geruch von Schweinepisse entgegen. Schlichtkohl schaltete das Licht an und wartete, bis die altersschwache Neonröhre zu blitzen aufhörte und Licht spendete. Vor einem mit Sportschuhen, Inline-Skates, Tennisschlägern, Taucherflossen und Gummistiefeln vollgestopften Regal standen an der linken Wand ein großer Transportkäfig aus hellblauem Kunststoff, in den ein mittlerer Hund gepasst hätte, und ein riesiger IKEA-Plastikbeutel. Daneben lag ein zerknüllter 20-Kilo-Papiersack neben einem kleinen Berg graubraunen Futtergranulats.

Der Professor schaute in die Tüte aus dem Möbelhaus: In ihr steckte das größte Katzenklo, das er je gesehen hatte. Es besaß keine Abdeckung, mit besonders hohen Seitenwänden. Neben ihm lagen eine Bürste und ein Knäuel von Riemen, wohl ein Geschirr für Ausflüge mit dem Rüsseltier. Ein Brief von Gotthard war nirgends zu sehen.

Er schaufelte mit dem Deckel eines Schuhkartons einige Kilo des Granulats in den Futtersack zurück, verschloss ihn notdürftig und trug ihn zusammen mit dem IKEA-Beutel ins Freie. Als er, bepackt wie er war, mit dem Ellenbogen die Haustür von innen aufstieß, katapultierte er sie beinahe ins Gesicht einer attraktiven Brünetten, die in dem gleichen Moment das Haus betreten wollte.

Die Dame war in dem Alter zwischen 30 und 40, das man unmöglich exakt bestimmen kann, und erschien dem Hochschullehrer wie eine Traumfee. Sie trug ein apartes weinrotes Kostüm, das vielversprechende Busenwölbungen und mindestens ebenso wohlgeformte Beine sehen ließ. Ihre Füße steckten in mondänen Schuhen in einem dunkleren Weinrot mit Bleistiftabsätzen und waffenscheinpflichtigen Spitzen. Zudem war sie von einer betörenden Parfümwolke umgeben. Sie bedachte den Gelehrten mit einem Augenaufschlag, für den Meskiaggascher sicherlich fünfhundert Rinder gegeben hätte.

»Oh, äh, Ent-Entschul-schuldigung!« entfuhr es dem Professor, der heftig erschrak. »Ich ... äh ...« Es war eine Schande für einen Lehrstuhlinhaber, aber er wusste nicht weiter. Doch die Dame, die der aufschwingenden Tür mit der Gewandtheit einer Tänzerin ausgewichen war, lächelte ihn huldvoll an und sagte: «Keine Ursache!«

Dann fragte sie, und ihre Stimme hatte etwas Maskulin-Rauchiges und Verworfenes, das Schlichtkohl im Verein mit den wabernden Duftwasserschwaden und seiner Unterzuckerung schwindlig werden ließ: »Wohnen Sie hier? Ich suche Familie Schlichting! Welcher Stock?«

»Tu–tut mir leid,« beschied der Gelehrte atemlos vom Schleppen und einem Blick in das tiefgründige Dekolleté der unbekannten Schönheit, dessen Fülle die Bluse nur mühsam zu bändigen schien, »keine Ahnung – ich hole nur, äh, ein, äh, ein Schwein ab!« »Dennoch herzlichen Dank!«, sagte die Erscheinung völlig unbeeindruckt und stöckelte die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ihr verlängerter Rücken bewegte sich in verführerischen Schlangenkurven.

Schlichtkohl riss sich von dem Anblick los, stellte seine Last vor die Tür und stieg, sich wegen seiner bleischweren Zunge und seines eklatanten Mangels an Charme verwünschend, in den Keller zurück, um den Käfig zu holen. Jetzt war das Ferkel dran. »Hallo Brunhilde«, sagte er. »Bist du okay? Alles in Ordnung?«

War es nicht typisch? Mit Schweinen konnte er reden – mit schönen Frauen nicht!

Als sich in der Plastikbox nichts regte, bückte sich Schlichtkohl, um durch das Gitter an der Vorderseite zu lugen – und fuhr zurück. Er hatte direkt in zwei Menschenaugen geschaut, zwei große tiefdunkle Menschenaugen mit blütenweißer Bindehaut und lang bewimperten pechschwarzen Lidern, die ihn argwöhnisch, klug und nachdenklich gemustert hatten.

Der Professor war dermaßen erschreckt und zugleich von den Augen bezaubert, dass er dem Rest des Schweinehauptes, der hochgereckten Schnauze mit schwarzer Rüsselscheibe, deren große runde Zwillingslöcher feucht glänzten, und die beiden Ohren, die wie Blätter einer dürstenden Sonnenblume herunterhingen, kaum Beachtung schenken konnte.

So fielen ihm nicht einmal die Locken sofort auf. Erst mit Verspätung dämmerte Schlichtkohl, dass der Kopf von Gotthards Pflegling in Gänze mit blonden Borstenkringeln bewachsen war. Oder hatte er sich getäuscht? Er riskierte einen zweiten Blick. Tatsächlich! Das Ferkel hatte eine Frisur, die ein wenig der von Howard Carpendale glich. Oder doch eher der von Marilyn Monroe? Auf seiner Stirn trug das Tier, es gab keinen Zweifel, monroefarbene Dauerwellen. Der dichte blonde Lockenpelz erstreckte sich – der Hochschullehrer beugte sich trotz schmerzender Knie noch weiter vor – über den ganzen Körper des Rüsseltieres. Brunhilde sah aus wie ein Schaf mit Schweinekopf.

»Runz!«, beschwerte sich basstief das Ferkel, dem entweder die Musterung unangenehm wurde oder dem die Gedanken des Lehrstuhlinhabers gegen den Strich gingen. Es warf seinen Kopf hoch und machte den Versuch eines Luftsprungs, wobei sein Rücken kräftig mit der Käfigdecke kollidierte. Es krachte und staubte. Die transportable Ferkelbox, stellte der Professor fest, war ein wenig eng für ihren stattlichen Inhalt.

382,18 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
362 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783844256567
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают