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Das Rosenthal-Jahrzehnt – Teil 1 – 1972–1983

Entscheidend für meinen weiteren Lebensweg war 1971 die Begegnung mit Eugen Gomringer, dem Begründer der Konkreten Poesie, während und vor allem nach einer Lesung in Nürnberg. Wir kamen ins Gespräch, ich sagte, dass ich auch Autor sei und er fragte: »Und wovon leben Sie?« Etwas verlegen antwortete ich, dass ich derzeit als Werbetexter arbeite. Er lachte und meinte: »Das habe ich auch eine Zeit lang gemacht.« Das Eis war gebrochen und er fragte mich, ob ich eventuell Interesse hätte, für die Firma Rosenthal zu arbeiten, wo er als Kulturbeauftragter tätig war.

Gerne gab ich ihm meine Adresse und Telefonnummer, allerdings ohne einen Funken Hoffnung, jemals etwas aus Selb zu hören. Doch ich hatte mich geirrt. Einige Wochen später kam der Kontakt mit der Rosenthal-Werbeabteilung zustande und ich bekam einen Auftrag in freier Mitarbeit. Man war wohl mit meiner Arbeit zufrieden, denn nach einigen Monaten wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch für eine Festanstellung in die Firmenzentrale nach Oberfranken eingeladen. Im April 1972 begann ich meine Tätigkeit für die Rosenthal AG in Selb.

Was ich dort fand, hätte ich nie vermutet: eine kleine Stadt mit direkter Grenze zur Tschechoslowakei und damit zum sogenannten Ostblock und gleichzeitig ein Tor zur Welt der Kunst. Wobei »Welt« hier nicht nur im übertragenen Sinn gemeint ist. Ich arbeitete zuerst als Konzeptionstexter, später als Kreativdirektor und Allround-Kreativer. Darüber hinaus wirkte ich bei der Konzeption und Durchführung von Rosenthal-Kulturveranstaltungen mit Ausstellungen, Lesungen, Konzerten. Dies geschah in enger Zusammenarbeit mit Eugen Gomringer, der drei Türen weiter sein Büro hatte.

Damals arbeitete Rosenthal mit weit mehr als fünfzig (!) internationalen Künstlern und Designern zusammen. Es war meine Aufgabe, über diese sehr unterschiedlichen Künstler, ihre Stile und speziell ihre Entwürfe für Rosenthal zu schreiben. Die persönlichen Begegnungen, die Atelierbesuche vor Ort und die intensive Auseinandersetzung mit deren Arbeiten waren meine »ganz persönliche Akademie«. Das machte mich offen für ein breites Spektrum künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten und beeinflusste stark meine Sicht auf die Kunst und mein eigenes Tun.


Druckvorlagen erstellen und Korrekturen in den 1970er-Jahren.

Foto Hen Hermanns.

Der Flaneur in mir erhob sich zu dieser Zeit erstmals in die Lüfte und landete an Sehnsuchtsorten wie Amsterdam, Paris, London, Dublin und New York ebenso wie nach teilweise abenteuerlichen Anfahrtswegen in entlegenen Ateliers in Cornwall, Lappland, holländischen Dörfern und auf der schwäbischen Alb.

Ich lebte in jener Zeit zweigeteilt. Nie mehr gab es eine größere Diskrepanz zwischen meiner Innenwelt und meiner Außenwelt. Wobei sich die Innenwelt durchaus auch im Außen zeigte, wie bei dem von mir initiierten und organisierten Drei-Tage-Event »Junge deutsche Literatur in Selb«. Das von der Firma Rosenthal gesponserte Treffen fand überregional Beachtung. Es berichteten die Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Basler Nachrichten und viele andere mehr. Ein Fernsehteam der »aspekte«-Redaktion des ZDF begleitete die gesamte Veranstaltung und strahlte den Beitrag in seiner Juli-Sendung 1973 aus.


Von links: Benno Käsmayr, Volker Stockmeyer (†), Gerd Scherm (stehend), Fitzgerald Kusz, Günter Guben (stehend), Ossip Ottersleben, Katrine von Hutten (†), Gerd Wolter (†), Klaus Renner (†), Ludwig Fels (†), Manfred Ach. Foto W. Christian Schmitt.

1973 gab ich auch meine erste Anthologie heraus: »Militante Literatur«. In meinem Nachwort »Über diese Anthologie« schrieb ich:

»[…] Äußerer Anlass für die vorliegende Arbeit war ein Aufruf in der BILD-Zeitung: ›Jagt die geistigen Hintermänner der Baader-Meinhof-Bande!‹ Damit begann die Treibjagd, Heinrich Böll war ihr prominentestes Opfer. Einigen, z. B. Anfried Astel, wurde aus fadenscheinigen Gründen gekündigt, anderen wurden Lesungen untersagt, wieder andere wurden sogar von Spezialkommandos heimgesucht, ihre Publikationen beschlagnahmt, ihre Korrespondenz durchwühlt und ihr Adressenmaterial fotokopiert. Betroffen waren die Autoren, die man als ›links‹, ›engagiert‹ oder ›kritisch‹ apostrophiert. Für mich war nun die Frage ›Gewalt in der Literatur – ist das möglich?‹ […] Literatur wird zumindest so ernst genommen, dass Autoren verfolgt werden, dass der Verfassungsschutz einem Aufruf der Springer-Presse nachkommt und die günstige Gelegenheit nutzt, mit unliebsamen Systemkritikern aufzuräumen …«


Im gleichen Jahr bekam ich noch eine ganz besondere Aufgabe: Der ZERO-Künstler Otto Piene hatte für die Fassade des Rosenthal-Verwaltungsgebäudes eine spektakuläre Gestaltung entworfen, wobei er das gesamte Gebäude zum Träger mehrerer riesiger Regenbogenbilder machte. Otto Piene war damals Professor für »environmental art« (Umweltkunst) am M.I.T., Cambridge, Massachusetts, USA, soweit ich weiß, der erste Lehrstuhl dieser Art weltweit. Ich wurde sein Projektassistent vor Ort in Deutschland und kümmerte mich vor allem um das große Happening zur Einweihung, als dessen Höhepunkt Otto Piene ein so genanntes »Sky Ballett« mit fünfzehn Meter langen Schläuchen in den sieben Regenbogenfarben konzipiert hatte. Diese wurden mit Helium gefüllt, vertäut und über der Fassade aufsteigen gelassen. Das war logistisch meine bis dato größte Herausforderung – angefangen von der Materialbeschaffung bis zu all den Genehmigungen der deutschen und tschechoslowakischen Behörden, im Grenzland in der Nähe des Eisernen Vorhangs ein solch großes Objekt in den Himmel steigen zu lassen.

Die Begegnung mit Piene und seinen Arbeiten beeinflusste mich stark und veränderten meine Perspektive auf die Kunst entscheidend. Wichtig war nun nicht mehr nur, was in Galerien passiert, sondern auch die Zusammenhänge mit der Natur.

Der achte Schöpfungstag

Sich den Regenbogen herbeimalen

gegen schwarz-weiße Ängste

der Hoffnung Farbe geben …


Detail des Rosenthal-Verwaltungsgebäudes in Selb. Foto Rosenthal.


Einweihung des »Regenbogenhauses« in Selb. Mitte: Philip Rosenthal, rechts mit Sonnenbrille Gerd Scherm.

Foto Rosenthal.


Persönlicher Dank auf einer Textilgrafik von Otto Piene: »für Gerd Scherm in dankbarer Freude über die Geburt des gemeinsamen SELBER REGENBOGENS herzlich Piene 3 XI 73«. Foto privat.


Das Regenbogenhaus bei Regen im Mai 2021. Foto Florian Miedl.

Es ist interessant, welche Wandlung das Symbol Regenbogen binnen eines halben Jahrhunderts erfahren hat. Anfang der 1970er-Jahre stand er für Naturverbundenheit und war quasi das Markenzeichen der gerade erblühten Environmental Art, der Umweltkunst. Diese Bedeutung ist heute gänzlich aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden. Jetzt, fünfzig Jahre später, steht das Symbol für die LGBT-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender, deutsch lesbisch, schwul, bisexuell und transgender). Der Regenbogen wurde hart formuliert okkupiert, umgewidmet und sexualisiert. Aus dem nach der Sintflut eine neue, bessere Welt verheißenden Regenbogen wurde eine Kriegsflagge im Kampf für eine gerechtere Gesellschaft. Was die alte und die neue Bedeutungsebene verbindet, ist das Zeichen der Hoffnung, die in diesem Symbol steckt: nach schlechtem Wetter ein Zeichen am Himmel, das bessere Zeiten verheißt.

Durch das kulturelle Engagement der Firma, die »Rosenthal Feierabende« mal im großen, mal im kleinen Rahmen, kamen auch immer wieder Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach Selb. Eindrücklich in Erinnerung habe ich den Auftritt von Wolf Wondratschek. Er saß während der ganzen Lesung auf der Bühnenkante, teils im Schneidersitz, teils ließ er seine schuhlosen Füße baumeln. Besonders amüsierte das Publikum, dass er eine rote und eine blaue Socke trug. Es dauerte wohl zwei, drei Gedichte, bis sich die volle Konzentration der Zuhörer einstellte. Hinterher ließ ich mir noch mein Exemplar von Wondratscheks Erstling »Früher begann der Tag mit einer Schußwunde« signieren. Zu meiner Überraschung schrieb er mir ein bisher unveröffentlichtes Gedicht ins Buch. Er gehört zu den Autoren, denen ich als Leser bis heute treu geblieben bin.

Von den vielen, die in Selb aus ihren Werken lasen, hinterließ Gabriele Wohmann bis heute eine dunkle Spur in meinem Gedächtnis. Sie las aus ihrem Roman »Ernste Absicht«, in dem es um die Krebserkrankung, um »die lebendige Sterberei« der Ich-Erzählerin geht. Eine Zuhörerin fragte am Ende, ob das Werk autobiografisch sei, und bekam keine Antwort. Obwohl mein Stiefgroßvater an Krebs gestorben war, berührte mich das Thema und auch wie es dargebracht wurde nicht.

In meiner Altersklasse starb man anders, erzählten uns die Medien und verwiesen auf die neuen Legenden, die Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison hießen.

Ich sprach mit Gabriele Wohmann nach der Lesung über die dunklen Seiten in der Literatur, über die Schatten des Lebens, die sich in Worten spiegeln, die man gar nicht schreiben möchte. Doch sie nagen, sie beißen dich, bis du ihnen letztendlich in deinen Texten freien Lauf lässt.

Viele Jahre später ereilte auch mich die Diagnose Krebs, doch da war ich bereits ein anderer Mensch in einer anderen Zeit.

Intermezzo Philip Rosenthal

»Who will take care of the world when I am gone?«


Philip Rosenthal in seinem Büro in der Hauptverwaltung (später Regenbogenhaus) in Selb.

Foto Rosenthal.

Das Besondere an Philip Rosenthals Büro in der Hauptverwaltung war, dass fast alle Wände mit Tafelfolie tapeziert waren. Dort skizzierte er Ideen, wichtige Daten und oberhalb der noch extra eingelassenen Tafel wechselnde Sprüche, Aphorismen, echte und vermeintliche Lebensweisheiten wie: »Es gibt kein WENN und kein ABER, nur ein WIE« oder »Wer zu spät an die Kosten denkt, ruiniert sein Unternehmen; wer zu früh an die Kosten denkt, tötet die Kreativität« oder »Erfolg im Leben ist etwas Sein, etwas Schein und sehr viel Schwein«.

Sinn dieser »Philigramme« war wohl, die vor ihm sitzenden Mitarbeiter zu motivieren. Den stärksten Eindruck hinterließ bei mir »Who will take care of the world when I am gone?« (Wer wird sich um die Welt kümmern, wenn ich gestorben bin?).

Diese Art der Selbstironie, oft auch mit Überschätzung gepaart, war Teil seiner Persönlichkeit. Aus der Distanz betrachtet, sehe ich ihn heute als Feudalherrscher mit großem sozialem Engagement, quasi ein Gutsherr, ein Landlord, der sich ehrlich um seine Domestiken kümmerte. Er sah sich als Mittelpunkt des Rosenthal-Universums und konnte sehr unangenehm werden, wenn es nicht nach seinem Kopf ging. Dass Anfang der 1970er-Jahre die Haushaltsbranche dümpelte und die Rosenthal Technik AG* die Firma über Wasser hielt, empfand er als persönliche Beleidigung.

* Meine Aufgaben bei Rosenthal umfassten nicht nur den Haushaltsbereich, Kunst-Editionen und Kulturveranstaltungen, sondern auch das weite Feld der technischen Keramik. Im Alltag augenfällig sind keramische Isolatoren, ebenso häufig, aber unsichtbar sind die keramischen Körper von elektrischen Widerständen, die milliardenfach von Rosenthal produziert wurden. Lebensmittel- und Arzneimühlen bestehen aus abriebfreien keramischen Werkstoffen gleichermaßen wie die dort verwendeten Mahlmedien. Menschliche Endoprothesen aus Aluminiumoxidkeramik wurden bei Rosenthal ebenso gefertigt wie Fadenführer für die Textilindustrie, wo wegen der hohen Verarbeitungsgeschwindigkeiten jede Metallführung in kürzester Zeit durchgesägt wäre. In der Wärmetechnik, dem Maschinenbau, der Medizintechnik, der Energieübertragung, der Elektrotechnik, der Elektronik – überall kamen Rosenthal-Produkte zum Einsatz.

Anfang der 1970er-Jahre erwarb Rosenthal zur Erweiterung des Fertigungs-Know-hows die Firma »Advanced Material Engineering« in Providence, Rhode Island, USA.

Ich selbst war eine Zeit lang immer wieder in einer Kreativgruppe im Rosenthal-Institut für Werkstofftechnik tätig, die neue Einsatzmöglichkeiten und Anwendungsgebiete finden sollte.


Messestand der Rosenthal Technik AG auf der Hannover Messe 1974: Der erste »schwebende« Messestand. Foto Rosenthal.

Bereits 1963 führte Philip Rosenthal ein Beteiligungssystem für Arbeitnehmer durch Mitbestimmung und Vermögensbildung ein. Auf diese Weise waren 1969 bereits 5,5 Prozent des Firmenkapitals in den Händen von sechzig Prozent der Belegschaftsmitglieder. Dieses ungewöhnliche Modell wurde bundesweit von der Presse aufgegriffen und die regierenden Sozialdemokraten wurden auf Rosenthal aufmerksam. Der damalige Kanzler Willy Brandt konnte den Manager überreden, in die SPD einzutreten und für den Bundestag zu kandidieren. 1969 folgte Philip Rosenthal dieser Einladung und wurde im selben Jahr als Direktkandidat im Wahlkreis Goslar-Wolfenbüttel in den Bundestag gewählt. Im September 1970 wurde er Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unter Karl Schiller und sollte für die Vermögensbildung der Arbeitnehmer zuständig sein. Aber bald kam es zu Differenzen zwischen Rosenthal und seinem Minister.

Die beiden »Alpha-Tiere« kamen miteinander nicht klar. Rosenthal trat dann im November 1971 wegen Differenzen mit Schiller über das Tempo der Umsetzung seines wichtigsten Anliegens, der Arbeitnehmerbeteiligung am Produktivvermögen, vom Amt des Staatssekretärs zurück.

Der Ministerkollege Erhard Eppler brachte es auf den Punkt, als er sagte: »Der Schiller hat einen Unternehmer erwartet und bekam den Rosenthal; der Rosenthal hat einen Sozialdemokraten erwartet und bekam den Schiller.«

Als ich zu 1972 Rosenthal kam, befand sich der Chef gerade mitten im Bundestagswahlkampf und er schaffte es, sein Direktmandat zu verteidigen.

In den beiden nächsten Wahlkämpfen 1976 und 1980 war ich dann stark beteiligt.

Das Timing war perfekt, weil ich ab 1976 nicht mehr fest angestellt war, sondern freier Mitarbeiter mit Beratervertrag. Oft wurde behauptet, dass Philip Rosenthal die Manpower des Unternehmens für seine Wahlkampfzwecke benutzte. Ich versichere, dass Philip Rosenthal meine Dienste immer aus seiner Privatschatulle bezahlte und meine Honorare nie zulasten der Firma gingen. Zum Beispiel war das Filmprojekt »Philip Rosenthal – Mensch, Unternehmer, Politiker« 1980 zu hundert Prozent von ihm selbst finanziert.

Mein Drehbuch entstand in enger Abstimmung mit ihm, dem Hauptdarsteller. Seine Sekretärin übernahm das Zeitmanagement und sorgte dafür, dass ihr Chef für die entsprechenden Drehtermine zur Verfügung stand.

Ich wirkte als Autor und Produzent und erstellte nach den Vorgaben Philip Rosenthals den Drehplan. Zur Seite standen mir ein erfahrener regionaler Kameramann, ein cleverer Beleuchter und ein versierter tschechischer Regisseur.

Der Film zeigte viele Facetten von Philip Rosenthal – unter anderem bei einem Gespräch über seine politischen Visionen in seinem Arbeitszimmer auf Schloss Erkersreuth, auf der Plassenburg in seinem Wahlkreis Kulmbach bei einer Veranstaltung mit der Cajun-Band »Le Clou« und bei seinem Lieblingssport, dem Rudern.

Dieser Drehtag ist mir eindrücklich im Gedächtnis geblieben.

Ein örtlicher SPDler hatte die örtliche Abteilung der DLRG (Deutsche Lebensrettungsgesellschaft) um Unterstützung gebeten und eine Stelle am Fluss Rodach ausgewählt, wo wir mit unserem Tross parken konnten. Die DLRGler sollten mit ihrem Außenborder mit dem Kamerateam hinter und neben Philip Rosenthal in seinem Ruderboot herfahren. Unser Plan funktionierte wunderbar. Ungefähr zehn Minuten lang. Dann tauchte ein VW-Bus der Polizei auf. Drei oder vier Beamte stiegen aus und fragten nach dem Verantwortlichen für den Filmdreh. Rosenthals Sekretärin gab mir einen Stoß in die Rippen und zischelte: »Los, Herr Scherm, melden Sie sich!«.

Derart motiviert ging ich auf die Beamten zu und bekannte: »Ich. Worum geht es?«

Ein Polizist wandte sich mir zu und sagte: »Uns wurde angezeigt, dass hier eine Gewässerstörung vorliegt. Das unerlaubte Befahren der Rodach mittels eines Motorboots.«

»Aber das ist doch die DLRG«, wandte ich ein. »Die dürfen das.«

»Nur bei Einsätzen und Übungen. Soweit ich das beurteilen kann, liegt hier weder ein Notfall vor, noch wurde eine Übung angemeldet.«

Eine ziemlich laute innere Stimme in mir verfluchte den DLRG-Chef, wie immer der auch genannt wurde, und sein Versäumnis.

Der Polizist bat mich in den VW-Bus, um meine Personalien für die Strafanzeige aufzunehmen. Auf meine Frage, wie er so schnell von unserer Aktion erfahren hat, antwortete er: »Der Eigner der Fischereirechte des Flussabschnitts hat uns bereits gestern informiert, dass für heute ein Filmdreh mit Einsatz eines Motorboots geplant sei.«

Das überraschte mich doch sehr. Von einem der örtlichen Helfer erfuhren wir später, dass die Fischereirechte bei einem Herrn XY liegen, der Mitglied der CSU ist und wohl das eine oder andere DLRG-Mitglied auch.

Die nächste Hiobsbotschaft folgte auf dem Fuß. Das Erscheinen der Polizei hatte den Steuermann des DLRG-Bootes derart abgelenkt, dass er dieses auf einen großen Stein im Fluss auffuhr. Dabei wurde die Schraube des Außenbordmotors stark beschädigt und unbrauchbar.

Trost suchend wandte ich mich an den Kameramann und siehe da – er hatte fast zehn Minuten Ruderaufnahmen unseres Stars im Kasten! Immerhin ein Trost.

Zwei Tage später rief mich Rosenthals Sekretärin an, dass die Anzeige gegen mich zurückgezogen worden sei. »Der Philip«, sagte sie, »hat der Frau des Fischereirechte- CSU-Mannes ein Kaffeeservice zukommen lassen.«

Einige Tage später stand auf meinem Schreibtisch überraschend eine ziemlich lädierte, zerschrammte Schiffsschraube und fortan war ich Besitzer des hässlichsten, zugleich ungewöhnlichsten Stifteköchers der Rosenthal-Firmengeschichte.


Schloss Erkersreuth. Foto Florian Miedl.

Am Wahlsonntag 1980 gab es eine große Party im Keller von Schloss Erkersreuth. Ich übernahm den einsamen Fernseh- und Telefondienst im oberen Stockwerk.

Immer wenn neue Hochrechnungen gemeldet wurden, schrieb ich sie auf einen Zettel. Diesen brachte ich nach unten ins Gewölbe und gab ihn Philip Rosenthal, der kurz darauf blickte und mich dann bat, die Zahlen zu verlesen.

Die Stimmung war gut, der Sieg der regierenden SPD-FDP-Koalition unter Helmut Schmidt zeichnete sich früh ab. Später am Abend, als die Zahlen mehr und mehr zum Endergebnis wurden, fragte mich Philip Rosenthal: »Kein Anruf aus Bonn?«

»Kein Anruf, leider«, antwortete ich leise, damit mich die Umstehenden nicht hören konnten. Die Enttäuschung in seinem Gesicht werde ich nicht vergessen. Er hatte so sehr gehofft, dass Helmut Schmidt ihn zum Wirtschafts- oder Finanzminister berufen würde. Es war ein Glück für die Firma, dass er es nicht tat.

Im gleichen Jahr bekam ich noch einen weiteren ungewöhnlichen privaten Sonderauftrag: das autobiografische Manuskript »Einmal Legionär« von Philip Rosenthal Korrektur zu lesen, das 1981 als Buch erscheinen sollte. Verfasst hatte er das Originalmanuskript auf Englisch bereits 1944, als er für den britischen »Soldatensender Calais« arbeitete.

Eigentlich wollte der damals knapp Dreiundzwanzigjährige im August 1939 nach Abschluss seines Studiums in Oxford in die Mongolei. Doch als er auf dem Weg dorthin gerade das süße Leben in Frankreich erkundete, marschierten die Deutschen in Polen ein. Der junge Philip wollte gegen die Nazis kämpfen, die seinen Vater entmündigt und ihn selbst durch die Vereinnahmung der Firma um sein Erbe betrogen hatten. Doch bei den Briten war das für Nicht-Empire-Bürger unmöglich, weshalb er als Freiwilliger in Marseille in die französische Fremdenlegion eintrat.

Aber auch hier bekam er keine Chance, gegen die Deutschen zu kämpfen, denn unversehens stand er auf der falschen Seite. Nach der schnellen Niederlage Frankreichs unterstand die Legion auf einmal dem Vichy-Regime, das mit den Nazis kooperierte.

Philip Rosenthal beschloss zu desertieren. Dreimal scheiterten seine Fluchtversuche, immer wieder wurde er zur Strafe eingesperrt und schließlich landete er in einem Zwangsarbeitslager, wo er neun Monate in einem Steinbruch schuftete. Erst sein vierter Fluchtversuch am 23. Oktober 1942 gelang und er konnte nach mehr als drei Jahren die Fremdenlegion endlich hinter sich lassen und nach England zurückkehren. Dort arbeitete er als Bäckerlehrling, Sprachlehrer und Journalist. Schließlich war er in der Propagandaabteilung des Foreign Office unter anderem beim Soldatensender Calais tätig. 1947 ging er auf Wunsch seiner Mutter zur Wahrnehmung der Wiedergutmachungsansprüche der Familie nach Selb. 1950 trat er in die väterliche Firma ein, zuerst als Werbeleiter und später als Chef der Designabteilung. Auch wenn es nach außen oft so wirkte, als sei er der Inhaber, war Philip Rosenthal stets lediglich Aktionär und Angestellter der Firma.

Philip Rosenthal war unkonventionell und unorthodox. Als Firmenchef drückte er seine eigene Rolle so aus: »Ein Manager ist ein Mann, der genau weiß, was er nicht kann, und der sich dafür die richtigen Leute sucht.«

Ja, ich war stolz, einer von den Leuten zu sein, die er ausgesucht hatte.

Man durfte sich von den Eigenarten und überraschenden Vorschlägen von Philip Rosenthal nicht irritieren lassen. Er war ein Exzentriker, der das Klischee der extravaganten Attitüden eines britischen Lords pflegte und der sehr gut wusste, wie sein provokatives Verhalten auf die Menschen wirkte. Er kannte die Regeln und Normen und die Erwartungshaltungen der Gesellschaft. Fünfmal verheiratet, davon zweimal mit derselben Frau – ein Skandal! Ein Unternehmer, der für Mitbestimmung und Mitbeteiligung ist – ein Verräter seines Standes! Ein Politiker, der zu Fuß durch seinen Wahlkreis wandert – damals unmöglich! Ein Millionär, der statt mit einer Segeljacht mit einem Einmannruderboot auf dem Mittelmeer unterwegs ist – absolut verrückt!

Der Mainstream war ihm verhasst und immer wieder in seinem Leben schwamm er gegen den Strom. Das sah man an seinem Lebensstil und das sah man an der Produktpalette seiner Firma.

Philip Rosenthal verfolgte stets hohe Ziele, was durchaus wörtlich zu nehmen ist.

Als Mitglied der Bayerischen Karakorum-Expedition im Jahr 1964 plante man die Besteigung des K2. Weil die pakistanischen Behörden jedoch die Lizenz zugunsten einer besser zahlenden japanischen Seilschaft annullierten, wagte man stattdessen die Erstbesteigung eines knapp 6000 Meter hohen, bis dahin unbezwungenen Himalajagipfels. Rosenthal benannte ihn nach seinem Sohn »Mount Turpin«. Auf den Namen seiner Tochter Sheila trug er zwei anschließend erstmals erklommene Gipfel als »Sheila-Peaks« in die Nanga-Parbat-Karte ein.

Später nutzte Philip Rosenthal eine Geschäftsreise nach Südamerika, um den Andengipfel Aconcagua zu besteigen, einen der höchsten Berge der Welt.

Rückblickend lebte Philip Rosenthal die vier klassischen Elemente der Antike in sich und in seinem Tun: das Wasser durch sein exzessives Rudern oder das Umschwimmen von Gran Canaria, die Erde durch Wandern und extremes Bergsteigen, die Luft als passionierter Flieger, wobei er durchaus schon mal eine Einpunkt-Landung auf dem Propeller hinlegte oder versehentlich jenseits des Eisernen Vorhangs in der Tschechoslowakei landete, und als letztes Element das Feuer, das sein Temperament symbolisierte, ständig präsent durch Pfeife oder Zigarre.


»Philip Rosenthal«, Porzellan-Bild von Andy Warhol, 1980. Foto privat.

Für seinen Abschied machte sich Philip Rosenthal schon früh Gedanken, für die Zeit »when I am gone«. So verbat er sich Trauerreden, weil bei denen seiner Erfahrung nach sowieso mehr gelogen wird als bei Wahlveranstaltungen. Für ihn war der Tod ein intimes Ereignis, das in erster Linie den Verstorbenen betraf. Er wollte im Vorhof von Schloss Erkersreuth beerdigt werden.

Seine schlichte Grabplatte ließ er bereits zu Lebzeiten bis auf das finale Datum vorbereiten und folgende Inschrift meißeln:

»Vom Porzellan / verstand sein sogenannter König / eigentlich wenig. /

Schon mehr der Bruder Rot / vom Menschen / und vom Ruderboot.«


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