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Asteria & Ilios

Asteria, eine der Töchter des Giganten Alkyoneos, stürzte sich, als sie vom Tod ihres Vaters erfuhr, ins Meer. Franz war ziemlich sicher, dass das nur hier gewesen sein konnte. Hier in der Wohnanlage Asteria & Ilios, bestehend aus zwei Häusern mit sieben Wohnungen und einem spektakulären Zugang zum Meer. Über mehrere Felsterrassen, etwa zwanzig Höhenmeter über dem Meeresspiegel, ging‘s runter zum Wasser. Da gab es einige Stellen, von wo es sich hätte gut springen lassen. Asteria hieß das einstöckige Haus aus Marmor und Stein, das sich, nach traditioneller Architektur der Mani erbaut, mit seinen erdfarbenen Tönen nahtlos in die Landschaft einfügte. Die drei Deutschen logierten im ersten Stock in Zimmern mit zwei Balkonen und Panoramablick aufs Meer. Das Domizil für die nächsten zehn Tage. Werner hatte immer ein feines Näschen, wenn es darum ging Hotels, Restaurants, Urlaubsplätze zu finden.

Obwohl schon später Nachmittag, war es heiß und vor allen Dingen laut. Das Zirpen von Zikaden kannte Franz nur aus Filmen und aus kleinen, mit irgendwelchen Blumen verzierten Schachteln. Beim Öffnen einer solchen Schachtel fiel der Blick auf ein goldglänzendes, wackelndes Käfertier, das einen exotischen Ton von sich gab, der nur deshalb erträglich war, weil man ihn durch das Zuklappen des Deckels wieder abstellen konnte. Aber das, was Franz hier, in Asteria & Ilios, hörte, war schon eine andere Nummer. Man sah die Viecher nicht, vernahm nur ihren infernalischen Lärm, womit auch klar war, dass es sich nicht nur um drei oder vier Exemplare handeln konnte. Das war eine Armee. So viele Deckel zum Zuklappen gäbe es auf der ganzen Welt nicht. „Und däär gaanze Kraach alles nur wäägen Säx!“ So Natia, die Werner beschwor, den Besitzer der Anlage aufzufordern „… mit, mit ... wie heißt, Fraanzchään?“ Ein gedehnter Zischlaut entwich ihren Lippen und mit eingeknickten Knien und Hohlkreuz beschrieben ihre Arme, eine imaginäre Kalaschnikow haltend, einen zickzackenden Halbkreis in Richtung des Baumes, in dem sie die Krachmacher vermutete. „Flammenwerfer“, antwortete Franz. „Gänaau! Mit, mit eine Flammewäärfer soll er Tierchään wegbränne! Puff!“ Werner und Franz schauten sich amüsiert an, aber Natia war not amused – sie meinte es ernst.

In der Einfahrt zum Asteria stand, vom Staub grau, ein Jeep Cherokee mit Wiener Kennzeichen. Asozial geparkt, hingeworfen, wie ein zu schnell vom Leib gerissenes Hemd. Das Fahrzeug strahlte etwas Heimtückisches, Bedrohliches aus, ähnlich dem tarnfarbenen 56er Peterbilt Conventional 281 Tanklast-Truck, aus Spielbergs Film „Duell“, der sich eine tödlich endende Verfolgungsjagd mit einem roten PKW lieferte. Beim Anblick des Wagens überfiel Franz das dunkle Vorgefühl einer sich anbahnenden Katastrophe, dessen Ursprung er sich nicht zu erklären vermochte und das auch durch nichts zu begründen war, aber die Befürchtung, dass es Wirklichkeit und ihm zum Verhängnis werden könnte, schreckte ihn.

Es war am dritten Abend

Werner war noch unter der Dusche, Natia irgendwo in der Wohnung und damit beschäftigt, mit einem Anti-Insektenspray unter Betten, hinter Vorhängen und in allen nur möglichen Ecken und Nischen nach Stäch-Tierchäärn und anderen niederen Lebewesen Ausschau zu halten. Franz saß auf dem Balkon. Langsam versank die Sonne hinter einer Bergsilhouette des Golfes von Messenien. Wahrscheinlich ein Scheißdreck dagegen der vielbesungene Sonnenuntergang bei Capri, obwohl es sich ja im Grunde genommen um ein und denselben Stern handelt, der hier wie dort untergeht – dachte Franz. (Viele Menschen in Franzens Umgebung denken, dass Franz dazu neigt, Wirklichkeiten als eine subjektive Wahrnehmung zu konstruieren, ohne die er nicht unabhängig denken kann.)

Musik erklang. Verdis „La Traviata“. Noch während des Vorspiels zum Trinklied trat ein kleiner, braungebrannter Mann auf den etwa sechs Meter Luftlinie entfernten Balkon der Nachbarwohnung, in der einen Hand ein Tablet, in der anderen ein Weinglas. Laut, und mit lusttrunkenem Timbre stelzte er eine Balkonbreite der untergehenden Sonne entgegen, so, als wandele er auf einem roten Teppich, die letzten Strahlen des Sonnenscheinwerfers für seinen Auftritt nutzend. „Libiamo, libiamo ne‘lieti calici …“. Dann wusste er nicht mehr weiter, stolzierte mit dadaistischen Textfüllseln über den Balkon, verlor dabei das um die Hüften geschlungene Handtuch und lachte, als er Franz gewahr wurde, eine unglaubliche Lache, die dieser bis dato noch nie vernommen hatte. Und Franz hatte viele Lachen gehört, sich gemerkt und als Regisseur von seinen Schauspielern auch eingefordert. Laute, leise, verhaltene, verliebte, verzweifelte, verrückte, wahnsinnige …, aber eine solche Lache war ihm bislang noch nicht untergekommen. Das war kein Lachen nah am Herzen, das war ein Lachen weit weg in einer Wüste. Eine Ödnis, durch die ein wüster Lachsturm fegte. Eine Lache, als wären alle Lachen der Welt in einen großen Topf geworfen worden, und der Teufel persönlich hätte sie zu einer einzigartigen dämonischen Lache destilliert. Eine nahezu mörderische Lache, eine, wie Franz zu hören meinte, grund- und sinnlose Lache, ein nicht enden wollendes Schallgespenst, bei dem Tempelvorhänge zerreißen, Flugzeuge vom Himmel fallen, Schwangere Frühgeburten erleiden und Dreisternrestaurants sich in Dönerbuden verwandeln.

Während es auf dem Nebenbalkon noch lachte, lief in Franzens Kopf ein Film ab, der ihn an eine Lache mit Todesfolge erinnerte. Das war schon Jahrzehnte her und er meinte es längst vergessen zu haben. In den Herbstferien, irgendwann Ende der Fünfziger – Franz wurde noch Fränzeken gerufen – hatte ihn seine katholische Tante aus Oldenburg zu einem Erntedankfest bei einem Großbauern in der Nähe von Jade mitgenommen. Die große Scheune war bis auf einen Leiterwagen leergeräumt und der u-förmige Aufbau von Tischen und Stühlen, an denen Bauern aus der nahen und ferneren Nachbarschaft mit ihren Familienangehörigen, Freunden, Landarbeitern und Mägden saßen, erinnerte den späteren Franz an Filme von Fellini. Der Leiterwagen war mit Garben von Kornähren, violettem Heidekraut, Herbstastern und anderen Blumengebinden geschmückt und auf der mit Stroh zu einer Art Pyramide aufgepolsterten Ladefläche hatte man unzählige rotbäckige Äpfel, grüne, gelbe und rostfarben gesprenkelte Birnen aufgehäufelt, die sich wie Wurfgeschosse für eine Schneeballschlacht im Herbst anboten. Darüber wachend, Regimenter von Blumenkohl- und Wirsingköpfen, daneben riesige Kürbisse, Generälen gleich, aus deren Bäuchen Sellerieknollen als Offiziere aufmarschierten, dazu stramm stehende Pulks von Lauchstangen als Fußvolk; hängende Maiskolben und in ihrem grünen Kraut zu Sträußen gebundene Möhren stachen ihre orangefarbenen Wurzeln wie gespreizte Bajonette in die Luft. Dazu Kartoffeln, Bohnen, frische Zwiebeln zu unordentlichen Bergen aufgehäufelt und, und, und … und das Fränzeken war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. So viel Obst und Gemüse auf einem Haufen hatte er selbst auf dem heimischen Wochenmarkt noch nicht gesehen! In der Scheune wurde gefuttert und getrunken was die Küche her gab, und zu späterer Stunde lockerten sich die Zungen, wurden dröge Ostfriesen mit einem Mal redselig, ja, man hätte fast meinen können, sie entdeckten zum ersten Mal eine Lust am Sprechen, das über den gewöhnlichen Gebrauch von Worten beim Handel mit Kühen und Weizen hinausging. In der Lautstärke schon beim „Fortissimo Possibile“ angelangt, im Tempo eher im unteren Bereich eines schleppenden „Largo“, stieg irgendwann einer der betrunkenen Gäste auf den Tisch (es war der Totengräber, wie die Tante ihrem kleinen Neffen ins Ohr geflüstert hatte) und erzählte Witze, die das Fränzeken nicht verstand, wurden sie doch im friesischen Platt vorgetragen. Dem Lachen zufolge konnte es sich zudem nur um schmutzige Witze handeln, denn das Lachen der Männer stob, mehr ein- als zweideutig, grob über die Frauen hinweg, die sich verstohlen anschauten, die Augen senkten und als einzige kaum wahrnehmbare Gemeinsamkeit verschworen in sich hinein glucksten. Bei einem der Witze lachte der dem Fränzeken gegenübersitzende Bauer besonders laut. So laut und so außer sich, dass er keine Luft mehr bekam, aufstehen musste, dabei puterrot anlief, blau wurde, krampfhaft zuckte wie ein Huhn, dem man gerade den Kopf abgeschlagen hatte, schließlich röchelnd auf den Tisch fiel und einen gedachten Atemzug später mit dem schweren Oberkörper tot im Essen lag. Am energischen Händedruck der katholischen Tante hatte Fränzeken gemerkt, dass da etwas geschehen war, was nicht für seine Augen bestimmt war. Sie hatte den Jungen vom Tisch weggezogen, wie auch viele andere Kinder vom Tisch hinweg gezogen wurden. Manchen hatten Mütterhände die Augen verdeckt. Wie man später erzählte, hatte der Bauer seine Zunge verschluckt und war daran erstickt. Noch später erzählte man (dabei hinter vorgehaltener Hand den Witz noch einmal zum Besten gebend), der Hinnerk habe sich vor Lachen nicht mehr eingekriegt. Der hat sich einfach totgelacht, noch dazu über den Witz eines Totengräbers.

In der hereinbrechenden griechischen Dämmerung verschwammen die Konturen des Rumpelstilzchens immer mehr und seine Lache verstummte. Unscharf nahm Franz wahr, wie der Nachbar mit seiner Hand propellerartige Bewegungen vor seinem Unterkörper vollführte. Erneut ein infernalischer Lachtrompetenstoß. Natia war auf den Balkon getreten. Hatte der da drüben sie gesehen? „Fraanzchään. Was maachen Maann?“ (Pause). „Dräht seine Schwaanz oder waas?“ Pause. In solchen oder ähnlichen Situationen war sie in ihrer Direktheit unschlagbar. „Muss sein sehr laange Schwaanz.“ Pause. Ja, ja, französische Länge, dachte Franz. Da war doch mal was!? „Das ist schon etwas länger her“, antwortete es süffisant in ihm. „It is väry, väry hot in Greese! There you need väntilation!“ – Trompetenlacher – „Isn’t it so?“ wandte er sich an die hinzugetretene Frau; ebenfalls klein und braungebrannt, in der Dämmerung fast schwarz. Wieder ein Trompetenlacher, dazu weiterhin dieses propellerartige Drehen, diesmal Richtung Frau. Die Dämmerung verwischte deren Abwehrbewegung ins Vage. Eine Bewegung – wie es Franz schien – matten Überdrusses, gespielt empört, so, als sei diese Nummer mit und ohne Publikum schon tausend Mal durchkonjugiert worden, so, als habe sie es satt, immer wieder gespielt empört zu sein. Ein Feinwebschatten unterwürfiger Duldung ging von der Frau aus, den die hereinbrechende Dunkelheit umhüllte, schien die doch um die empfindlichen Laufmaschen in Frauenseelen zu wissen, zu wissen um diese mit Gewalt unterdrückten Schmerzen, die ab und zu aufbrechen, ein immer wieder sichtbarer Riss, manchmal mit Fingernägeln scharf vergrößert. Ein stummer Schrei, den sie nicht teilen wollte, schon gar nicht mit den Fremden auf dem gegenüberliegenden Balkon. Etwas Geheimnisvolles, nicht Ergründbares, etwas Gewaltsames ging von den beiden Menschen aus. Franz verspürte ein ähnlich unbestimmtes Gefühl wie vor drei Tagen beim Anblick des Jeeps mit dem Wiener Kennzeichen.

„Hau do you do?“, kam es vom Nachbarbalkon und riss Franz aus seinen Betrachtungen. „Good“, antwortete er. „Das heißt fine“, flüsterte Natia. „Fine“, sagte Franz. Sicherheitshalber schob er noch ein „formidable“ hinterher, was aber nicht nötig gewesen wäre. Der Mann drüben konnte wahrscheinlich genau so wenig französisch wie Franz. „Will you come over on a drink?“ Da Franz keine Lust auf irgendwelche Urlaubsbekanntschaften hatte, überließ er Natia die Antwort. „We’ll meet a friend in half an hour, but wait a minute, I will ask.” Natia verschwand in der Wohnung und kam mit Werner wieder, der ein lockeres „Hello“ auf den Nachbarbalkon würfelte und in perfektem Englisch die Situation erklärte, woraufhin ein Wörter-Sturzbach zurückkam, der Werner erschauern ließ. „Was spricht der denn für ein Englisch?“ Entweder schien der Nachbar Werners Satz gehört zu haben, oder er schoss den seinen einfach ins Blaue. „Seid’s Deitsche?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, schob er ein „Kummt’s rüber!“ hinterher, lachte infernalisch, küsste die Frau irgendwie, irgendwo und verschwand in der Wohnung. Mit einer hingewischten So-isser-halt-Geste, wobei sich ihre Schultern leicht hoben und wieder fielen, stand die Frau auf und folgte dem Mann schweigend.

Zehn Minuten später wurden die drei Urlauber aus Deutschland am Fuße der Steintreppe zur Nachbarterrasse vom vernehmlichen Bellen eines größeren Hundes gestoppt. Wie Franz sah, handelte es sich um ein ausnehmend schönes Exemplar eines Weimaraner Jagdhundes, mit rehgraubraunem Fell und, eher ungewöhnlich für diese Rasse, graublauen Augen. „Aus!“, bellte der Hundebesitzer, „Franz! Kummst sofort her!“ Franz war irritiert, und der Hund gehorchte. „Vor dem müsst keine Angst hab’n, der tut nix, will nur spül‘n!“ Standardsatz eines jeden Hundebesitzers, wie man hört, auch in Wien, dachte Franz, denn der Dialekt ließ keinen Zweifel an der Herkunft des Herrchens aufkommen. Herrchen hatte sich Shorts angezogen, darüber ein weites Hawaii-Hemd und grinste, als er Franzens verstohlenen Blick auf seinen Unterleib wahrnahm. „Naa, naa keine französische Länge, nur ein Stück Gartenschlauch!“ Er lachte eine Koloratur, drehte sich tanzend auf einem Bein und vollzog dabei erneut besagte Bewegung, jetzt im Duktus: Reingefallen. Ätsch! – Franz schaute auf den Mann, der ihm im Laternenlicht der Terrasse wie ein Privatdetektiv aus einem amerikanischen B-Movie vorkam. Mittelgroß, eher klein zu nennen, kleiner noch als er ihn auf dem Balkon wahrgenommen hatte. Schildkrötig der Kopf, eine fliehende Stirn, fettige, zurückgekämmte Haare kringelten sich auf dem Hemdkragen, dunkle, weit aufgerissene, koksig glühende Augen, in der überbissigen oberen Zahnreihe mittig eine Lücke, sardonisches Grinsen und immer wieder das krachend kranke Lachen. Die ganze Person strahlt etwas Wahnwitziges, Zügelloses aus. „Ein übersteigertes, fieberhaftes ICH reckt sich in einsamem Größenwahn der Welt entgegen.“, dachte und schrieb Franz in sein Tagebuch.

Im Nu waren Gläser geholt und gefüllt. „Kummt, setzt euch! – I bin der Kosta!“ Die Frau trat auf die Terrasse. „Und das ist meine Katharina!“ Im Folgenden bezeichnete er sie überwiegend als Frau Doktor, als seine Lebensgefährtin und rechte Hand in der Firma, eine studierte Hand, summa cum laude, wie er feixend betonte, kommt es doch im Gebrauchtwagenhandel, wie er leichthin bemerkte, immer wieder mal zu Unstimmigkeiten mit der Kundschaft, dabei bewegte er orakelnd seine Handflächen, und da ist eine Frau Doktor nicht mit Gold aufzuwiegen. „Stimmt’s Schatzi?“ Er gab ihr einen überfallartigen Kuss, lachte derb und prostete den Deutschen zu. „Und wer seid‘s ihr?“ Werner räusperte sich. „Jaaa, das ist mein Onkel Franz und das meine … Nichte Natia.“ Eine kakophonische Lachsalve, vermischt mit jeder Menge Speicheltröpfchen, spritzte aus dem Mund des Gebrauchtwagenhändlers. Der Namensvetter Franzens bellte. Das Herrchen bellte zurück. Der Hund verstummte. Franz betrachtete die Frau. Sie schaute ihn an. Wie Franz meinte, mit Wohlwollen. Aber vielleicht bildete sich das der alte Mann in ihm auch nur ein. Sie lächelte. Spöttisch, wie ihm schien. Ein Lächeln wie ein nachträglich eingefügtes, verlustig gegangenes Wort in einem Liebesbrief. Notwendige Ergänzung. Der Klarheit wegen. Bei Lichte besehen passte die Frau Doktor nicht in sein Beuteschema. Aber es war ja so gut wie dunkel. Alles an ihr war braun. Arme, Beine, der ganze Körper. Olivbraun mit Grünstich. Ein unwirkliches Braun, ein Braun, so einzigartig wie das Blau des Yves Klein, ein Braun, als hätte ein Maler es aufgesprüht und mit einem geheimnisvollen Öl lasiert; ein Braun, das sich mit der hereinbrechenden Dunkelheit verband und in wenigen Minuten zum Komplizen der Nacht werden würde. Die obere Reihe ihrer Zähne wie etwas nachträglich Eingezogenes. Fest aneinandergereiht, neu, eine helle, waagrechte Linie vor nächtlichem Hintergrund. Obwohl die Nachbarin ein weißes, weites Kleid mit großen gauguin‘schen Blumenmotiven trug, worunter Franz schwere Brüste vermutete, ging ein Hauch Männlichkeit von ihr aus. Vornehmlich der Kopf, mit den kurzen, schwarzen, nach hinten gegelten Haaren. Augen wie schwarze Laternen. Darüber Brauen, ungebärdig, aber mit Verve; sanft die kleine Nase, der kleine Mund, die Gesichtshälfte unter den hohen Wangenknochen etwas schwer. Sie hatte etwas Unbestimmtes und Unbestimmbares in ihrem Ausdruck, etwas, das sich Franz beim ersten Anblick nicht erschloss, ihn aber faszinierte. „Eine Nachttaube, im Schatten ihres Mannes“, schrieb er am Abend in sein Tagebuch.

Krachend fuhr die Hand des Gebrauchtwagenhändlers auf Franzens Schulter, riss ihn aus seiner Frauenbetrachtung. „Du bist also der Onkel!“ dröhnte es, und er boxte ihn mit generöser Jovialität auf den Oberarm, wobei ihm der Schweiß von der Stirn spritzte. „Mal den Neffen und die Nichte nach Griechenland einladen – hä!?“ Erneuter, vertraulicher Schlag. Mit meckernder Lache an Werner und Natia gewandt: „Mal auf Kosten des Onkels so richtig die, die … Sau …“ Seine Faust stieß in die Luft wie die von Boris Becker beim Matchball. Grandioses, gönnerhaftes Lachen. „Und die Spendierhosen sind so schwer, dass der Onkel sogar Hosenträger braucht!“ Infernalisches Lachen. Er schlug sich auf die Schenkel, dann Franz auf die Schulter und zog ihn an sich heran. Aus Zentimeternähe schoss eine veritable Alkoholfahne in Franzens Nase. Das nennt man in die Aura scheißen, dachte Franz. Er war fasziniert und angewidert zugleich. Aber die Faszination für diesen Verrückten überwog. Die Unvernünftigen sterben aus und die Verrückten mit ihnen, dachte und bedauerte er. In Natias Gesicht machte sich angeekeltes Staunen breit. Sie war verstummt. Werner schaute auf die Uhr und mahnte zum Aufbruch, schließlich sei man mit Toni bei Lambros verabredet. Der Wiener Gebrauchtwagenhändler strahlte umtriebige Unzufriedenheit aus. Werner sog den Atem tief ein, was er immer tat, wenn er eine Entscheidung zu treffen hatte – also eher selten –, warf einen kurzen, sich versichernden Blick auf Franz und Natia und schlug den Nachbarn vor, mitzukommen. Der Hund bellte, Herrchen und Frauchen waren’s einverstanden, Natia verdrehte die Augen und Franz, der frisch gebackene Onkel, schwieg, nicht ohne einen kleinen Hintergedanken. Obwohl Franz so gar nichts Onkelhaftes ausstrahlte, klebte seit diesem Abend der „Onkel“ an ihm, wie ein Kaugummi an einem Schuh.

Bei Lambros

Richtung Asteria & Ilios liegt linksseitig am Ausgang von Agios Dimitrios das Xenios, das Restaurant von Lambros. Rechts, durch die Straße getrennt, eine aus Holz gezimmerte Terrasse, zwei Steinwürfe weiter der Meeressaum, dazwischen Fels, Unkraut, Bauschutt – ein Kackgelände für Hunde, streunende Katzen und fliegende Fische, wenn es letztere dort gäbe.

Man war mit Toni bei Lambros verabredet, der unweit des Hafens von Agios Dimitrios ein kleines Restaurant betrieb. Toni ist ein 72jähriger deutscher Arzt, mittelgroß, schlank, braungebrannt, asketisch in der Erscheinung, vom Alter unwesentlich gebeugt. Seit fast 40 Jahren lebt er auf der Mani. Außer seiner Tätigkeit als Arzt für die dortige Bevölkerung (umsonst!) und Psychotherapeut für in Griechenland gestrandete Deutsche (nicht umsonst!) handelt er in größerem Stil mit Olivenöl, Feta und anderen Produkten der Mani, die er in Deutschland an die gehobene Gastronomie verkauft. Er lebt in einem selbstgebauten Haus in den Bergen, ungefähr 800 Meter über Agios Dimitrios, dort, wo die Vegetation noch üppig ist und die Temperaturen drei bis vier Grad niedriger. Toni kennt Hinz und Kunz, jeden Baum, jeden Strauch, auch jede Kurve auf der serpentinenreichen Strecke, die nach Pigi, seinem Wohnort, und von dort weiter in Richtung Areopoli führt. Und alle kennen Toni. Der Hinz, der Kunz, jeder Baum, jeder Strauch und auch die Serpentinen kennen ihn, wenn der 72jährige im grauen Muscle-Shirt, zerrissenen Jeans und ohne Helm mit seinem Motorrad in die Kurven geht, mit einem Tempo, das seinem Alter nicht unbedingt angemessen ist, noch dazu mit dem ein oder anderen Glas griechischen Weines im Blut.

Toni freute sich, Werner, Natia und Franz zu sehen, war aber irritiert als ihn der Wiener Gebrauchtwagenhändler mit einem Als-kenne-man-sich-seit-Jahren-Wortschwall überfiel, der in der flapsigen Frage gipfelte, ob er, Toni, der Urgroßvater der drei Deitschen sei, und ihm, dem dreißig Jahre älteren zu dessen grenzenloser Verblüffung einen anbiedernden Schlag gegen den Oberarm verpasste, in die kurz auftretende Stille einen trompetenhaften Lachstoß setzte, der diese Taktlosigkeit ungeschehen machen sollte und übergangslos „… Schaatzi, sei so gut, Du neben den Onkel …“ die Sitzordnung bestimmte. „… Der Urgroßvater, Nebbich, neben Frau Doktor …“, er fegte sich den Schweiß von der Stirn, atmete kurz durch, „… und die Nichte neben den Neffen und der Neffe neben mich.“ Und alle gehorchten dem Wiener Gebrauchtwagenhändler, setzten sich auf ihre zugewiesenen Plätze. Aus seinen Augenwinkeln sah Franz die mahlenden Kiefer eines sichtlich verärgerten Toni, der an der verbalen Entgleisung des Wieners zu kauen hatte und außerdem, sitztechnisch, ins Abseits manövriert worden war. Mit Natia, ihm gegenüber, hatte er sich nach einem Frühstück vor drei Tagen, bei dem er sie auf ihre exzentrische Reaktion hinsichtlich umherschwirrender Insekten (eine Fliege war in das Milchkännchen gestürzt) als neurotisch und behandlungsbedürftig bezeichnet hatte, nicht viel zu erzählen; mit Franz, just auch noch zum „Onkel“ avanciert, war ein Gespräch eher unwahrscheinlich, saß doch zwischen ihm und dem „Onkel“ die bislang eher schweigsame Lebensgefährtin des Gebrauchtwagenhändlers und mit dem war nach dem „Urgroßvater“ das Ding gelaufen und nicht zuletzt musste Toni relativ schnell erkennen, dass er, der sonst im Allgemeinen das Wort führte, in dem Wortakrobaten aus Wien seinen Meister gefunden hatte. Am nächsten Tag schwor Toni, dass er mit diesem Psychopathen nie mehr an einem Tisch sitzen werde.

Heimlichen Auges schaute Franz auf seine Nachbarin. Der ohnehin dürftige Wortwechsel zwischen ihr und Toni war beim Servieren des Essens endgültig zum Erliegen gekommen, und Franzens Versuche witzig zu sein, sie zwischenzeitlich aus der Reserve zu locken, scheiterten kläglich, hatte er doch immer das Gefühl, als lache sie ihn hinter ihren Augen aus. Vielleicht verliert man im Umgang mit dem anderen Geschlecht die Leichtigkeit, wenn man schlechterdings den Umgang mit dem anderen Geschlecht verliert – dachte Franz – und dachte weiter, dass er seit zweieinhalb Jahren keinen Umgang mit dem anderen Geschlecht gehabt hatte und dass er älter geworden war, aber diese junge Frau neben ihm … Er dachte einen frivolen Gedanken, der ihn schmunzeln ließ. Die Vorstellung war ihm appetitanregend. „Warum lächeln Sie so vor sich hin?“, fragte sie ihn, und in Ermangelung einer Antwort stellte er die Gegenfrage „So vor mich hin?“ – „Ja. Sie lächelten eben vor sich hin. Warum?“ Als habe er auf ihre Frage eine bedeutsame Antwort, tat er so, als handele es sich um einen höchst komplizierten und komplexen Gedanken, sog dramatisch Luft in seine Lungen, sozusagen als Auftakt für etwas ganz und gar Ungewöhnliches und antwortete kurz und bündig „Ich weiß es, sag es Ihnen aber nicht!“ Sie lachte herzlich auf, zuckte schnippisch mit den Schultern, sagte „Na dann!“ und Franz bemühte sich eiligst hinzuzufügen „Vielleicht erzähle ich es Ihnen später einmal.“ Sie sah ihn an, schob wie nebenbei eine Peperoni in ihren Mund, biss die Hälfte davon ab – es spritzten ein paar Tropfen –, ließ das übrig geblieben Teil zwischen Daumen und Zeigefinger am kleinen Blütenstängel rotieren – wie Franz schien, gedankenverloren –, dabei den rechten kleinen Finger abspreizend. Von der funzeligen Lichterkette ins rechte Licht gerückt, bildete diese hellgrüne Schote in der tiefbraunen Hand mit dem Diamantensplitter besetzten Fingerring ein aufeinander abgestimmtes, fast erotisch zu nennendes Ensemble, das Franz faszinierte. Als der Rest der Peperoni in ihrem Mund verschwand, konnte Franz sich eines schaurig-schönen Gedankens nicht erwehren, vermutete sogar, dass sie ihn mit ihm teilte, seinen Gedanken aus ihm herausgelesen haben könnte (alle Frauen sind Gedankenleserinnen) und bei diesem Gedanken kam ihm der Gedanke, dass sie durch die ganz spezielle Art und Weise, wie sie die Speisen zu sich nahm, seinen Gedanken Vorschub leistete, ihnen Nahrung gab, ja, diese Gedanken bewusst in ihm provozierte. „In solchen Momenten denken Männer meist das Falsche!“, ließ sich Franzens innere Stimme vernehmen, die er aber nicht beachtete. Mit Blick auf seine Nachbarin dachte er ‚Dieses Luder‘, wendete seinen Blick von ihr ab und schaute zu Natia hinüber, die teilnahmslos am Tisch saß und auf ihren griechischen Bauernsalat starrte, in dem sie ab und zu lustlos herumstocherte. Ja, Veganer haben es schwer, dachte Franz mitleidslos, spießte ein Stück Kaninchen auf seine Gabel und winkte ihr damit zu. Sie schnitt eine Grimasse und fuhr den Stinkefinger aus.

Derweil erzählte der Gebrauchtwagenhändler Geschichten aus seinem Gebrauchtwagenhändlerleben. Von seiner damischen Klientel, die ihn immer wieder versuche aufs Kreuz zu legen, woraufhin Franz einwarf, dass er, der Gebrauchtwagenhändler, sicherlich viel von seiner Kundschaft gelernt habe, worauf sein Gegenüber aber nicht einging und von einem Autoankauf erzählte, bei dem er über den Tisch gezogen worden war, was selten vorkommen und ihn deshalb maßlos geärgert habe, aber Tage später, beim Austausch des Fensterhebers, habe er unter der Verkleidung ein Tütchen mit weißem Pulver gefunden, es an sich genommen und direkt gewusst, um was es sich dabei handelte. Er habe es probiert und festgestellt, dass es gut kam. „Stimmt‘s Frau Doktor?“, versicherte er sich noch bei seiner Lebensgefährtin, die nur nickte, und als er die Fundsache auf die Briefwaage gelegte habe, erzählte er weiter, habe diese sechzig Gramm angezeigt, was damals einem Marktwert von ungefähr 6000 Euro entsprochen habe. Er rieb sich die Hände und trank sein Glas aus. „Prost!“ Auf Werners Frage, ob er in der Sache die Polizei eingeschaltet habe, wieherte er ein „Bist deppert?“, goss dem Fragenden Wein nach und wollte, da er sich nun einmal erhoben hatte, seine Lebensgefährtin über den Tisch hinweg küssen, stieß dabei ein Glas um, nicht ohne ihr eine Mitschuld an dem Missgeschick zu geben. „Was musst‘ auch neben dem Onkel sitzen! Das ist doch Werners Onkel!“ Und als er unvermittelt damit begann, Auspuffgeräusche verschiedener Autotypen zu imitieren, provozierte er Lachsalven, denen auch Franz sich nicht entziehen konnte und die, ob des mittlerweile reichlich genossenen Alkohols, eine Rekordlautstärke erreichten. Nur Toni blieb stumm und Franz wunderte sich, dass der nicht schon längst gegangen war. Natia lachte im Keller – wie man manchmal sagt – und Franzens Nachbarin zeigte ihre schneeweißen Zähne, die er, ebenfalls angetrunken, gern mit seinen Fingerspitzen berührt hätte. Ein grandioser Schauspieler, dieser Wiener Gebrauchtwagenhändler, dachte Franz. Wieder exorbitantes Lachen. Franz hatte nicht mitbekommen, um was es ging, aber das schien inzwischen völlig egal zu sein. Man lachte einfach drauflos, ohne Sinn und Verstand, aber wozu benötigt man beim Lachen Sinn und Verstand, dachte Franz. Werner hatte auch eine Lache, die durchaus gewöhnungsbedürftig war. Nach „Gutsherrenart“, wie Franz sie bezeichnete. Auf Franzens heimischen Balkon hatte sie schon dazu geführt, dass ein Nachbar diese Lache imitiert hatte, was jedoch nicht gelungen war, er damit jedoch, in der vergeblichen Hoffnung diese Lärmquelle auszuschalten, wie er dachte, in witziger Form sein Missfallen kundgetan zu haben meinte.

Schon nach kurzer Zeit stellte Franz fest, dass sich da zwei Lachen gefunden hatten. Eine Lachverwandtschaft. Und es lärmte in die griechische Nacht, als gäbe es kein Heute und kein Morgen. Und wenn alle Leuchtfeuer an der Küste des Peloponnes auf einen Schlag erloschen wären, so hätten navigationsunfähige Schiffsbesatzungen mit Gewissheit per Gehör, nur dem schallschwangeren Wind und den Lachböen folgend, den sicheren Hafen gefunden. Selbst Odysseus wäre nicht zehn Jahre auf dem Meer herumgeirrt, wenn ihm damals diese Lachkakophonie zu Ohren gekommen wäre. Franz fiel auf, dass seine Nachbarin kaum zu Wort kam, obwohl sie immer wieder versuchte, sich in den Dialog der beiden Männer einzuschalten. Jedes Mal grätschte ihr Partner dazwischen und sicherte sich die Pointe und den Lacher. Es war wie im Märchen „Der Hase und der Igel“. Er war schon da, und sie hatte das Nachsehen. Sätze schoben sich ineinander, übereinander, wie Wolken am Sommerhimmel. Man sah ihr an, dass sie kein Mittel besaß, diesem gewaltigen Wort-Tornado ihres Lebensgefährten etwas entgegenzusetzen. Aber vielleicht wollte sie auch nicht. Und wenn es ihr einmal gelang, in eine Gesprächslücke hineinzustoßen, sprach sie leise, undeutlich, ohne Selbstbewusstsein. „Das war nichts Halbes und nichts Ganzes“, schrieb Franz später und fuhr fort, „Vielleicht aber hat die Frau Doktor auch nicht mehr als ein Halbes zum Sagen, wobei es passieren kann, dass das vorhandene Halbe irgendwann keine Lust mehr hat, sich Gehör zu verschaffen, sich im Mund versteckt oder gar im Hals stecken bleibt, im schlimmsten Fall unausgesprochen runtergeschluckt wird, dann ist das Halbe, einszweidrei hastenichgesehen auf Nimmerwiedersehen verschwunden, vom Ganzen ganz zu schweigen. So verstummen manche Frauen schneller, als sie denken können.“

Frau Doktor – bekennende Kettenraucherin, wie sie Franz stolz wissen ließ – war durch den genossenen Alkohol lockerer geworden, klappte den Deckel der Schachtel mit den Karelias auf, entnahm eine Tschick und bot ihm ebenfalls eine an. Franz lehnte ab. Indessen krakeelte ihr Lebensgefährte mit Lambros, dem Wirt. Der war mindestens so klein wie sein Gegenüber und nicht minder echauffiert, jedoch etwas vornehmer, gezügelter, wie es notgedrungen einem Wirt in einem Land ansteht, das kurz vor der Pleite steht und auf jeden Touristen angewiesen ist. Worum es zwischen den beiden ging, konnte am Tisch nur Toni verstehen, stritten die beiden doch auf Griechisch. Wohl wissend, was ihr Nachbar gerade dachte (Gedankenleserin!), erklärte sie ihm, dass ihr Lebensgefährte (sie sagte „Lebensgefährte“ – nicht Mann) in Kalamata geboren und seine Mutter Griechin sei. Wie Toni am nächsten Tag nicht ohne eine gewisse, ihm aber nicht zustehende Häme Werner gegenüber bemerkte, spräche der Wiener mit den griechischen Wurzeln ein entsetzliches griechisch. Franz konnte das nicht beurteilen, aber von seinem Gefühl her war er sicher, dass Toni danebenlag. Er hatte wahrscheinlich den „Urgroßvater“ noch nicht verschmerzt.

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9783752908473
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