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2011 - 14.4., 18:00

Großbritannien, London

Royal Nurse Hospital

Szene 27

fünf Monate später

Außenaufnahme: Die Parkanlage der psychiatrischen Klinik liegt im dichten Nebel. Die uralten Bäume des Parks zeigen das erste, zarte Grün. Dichtes Laub vom Vorjahr bedeckt die großzügig angelegten Rasenflächen und Wege. Die Backsteingebäude aus dem vorherigen Jahrhundert mit ihren vergitterten Fenstern liegen ruhig im schwindenden Licht des Tages. Sibel, den Mantelkragen hochgeschlagen, zieht ihren Mitarbeiterausweis durch den Scanner der ersten, von drei Schleusen.

Szene 28

Innenaufnahme: Sibel passiert dunkle, unwirtliche Flure. Die Wände sind im tristen Grau gehalten. Eine nicht zu definierende Farbe blättert großflächig von Zargen und Türblättern ab. Verblichene Zeichnungen, überquellende Stehaschenbecher und drei verkümmerte Gummibäume dominieren das Ambiente. Sibels Schuhsohlen quietschen auf dm abgelaufenen Linoleumbelag.

Es riecht nach menschlichen Exkrementen und Desinfektionsmitteln. Durch die verschlossenen Türen dringen die Geräusche laufender Radios, nervtötender Fernsehprogramme und die Klagelaute verlorener Seelen. Die Tür des Pflegerzimmers ist angelehnt.

»Und? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse. Irgendetwas zu beachten?« fragte Sibel mit ausdrucksloser Miene, als sie ihren Mantel in den Spind hängte.

»Die in Zimmer sieben haben sich vor etwa einer Stunde in den Haaren gehabt. Ich habe ihnen eine kräftige Dosis Haldol verpasst«, antwortete Paul. Paul, ein grauhaariger Pfleger Ende fünfzig, war desinteressiert, desillusioniert und verbittert. »Ansonsten ist soweit alles ruhig. Auf dem Schreibtisch liegen die Nummern der Bereitschaftsärzte. Sollte jemand zicken, lass ihn fixieren und auf die Geschlossene verlegen. Am besten direkt das volle Programm! Elektroschocks haben noch niemandem geschadet! HAHAHA! Gute Nacht, Kleines.«

»Gute Nacht«, antwortete Sibel und unterdrückte dabei ihre angewiderte Miene.

Sie hatte den menschenverachtenden, brutalen Macho Paul noch nie ausstehen können. Ekel, murmelte sie, als sie sich einen Filterkaffee einschenkte, der geschätzte drei Stunden auf der Warmhalteplatte vor sich hingeköchelt hatte. Schwarz wie Erdöl seufzte sie. Sibel ließ sich an den Schreibtisch nieder, um das Stationsbuch zu studieren. Im Tagesbericht las Sibel von einer Neuaufnahme: männlich, geschätztes Alter 42. Verwirrt. Klagt über Gedächtnisverlust. Schwere Amnesie, las sie. Es folgte eine Liste von Psychopharmaka, die man ihm verabreicht hatte. Der Patient erklärte bei seiner Einlieferung am frühen Morgen (6:15 Uhr), er sei selbst Arzt, erinnere sich aber nicht an seinen Namen. Es macht den Eindruck, als sei der Patient obdachlos. Eine Anfrage bei den Behörden und der Polizei nach einer vermisst gemeldeten Person blieb bislang erfolglos. Wir empfehlen ... (es folgte eine weitere Liste mit Psychopharmaka). Der Patient verhält sich seit 12.45 Uhr ruhig. Wir haben ihn auf Einzelzimmer drei gelegt. Wir empfehlen eine stündliche Kontrolle.

Als Sibel den Raum betrat, lag der Patient mit der Patientennummer 251011M9 ruhig auf seiner Matratze und starrte an die Decke.

»Hallo«, flüsterte Sibel, als sie sich auf einen Stuhl neben seinem Bett niederließ. Zu ihrer Verwunderung antwortete der verwahrlost aussehende Mann postwendend.

»Hallo, junge Frau.«

»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Sibel vorsichtig.

»Pssst!«

»Wie heißen Sie? Kennen Sie ihren Namen?«, versuchte sie es erneut.

»Nenn mich Löwenherz«, antwortete der sich gewählt ausdrückende Mann Anfang 50. Er trug einen weißen Oberlippenbart und weißes, halb langes und leicht gelocktes Haar.

»Richard? Sie heißen Richard?«

»Pssst! Löwenherz!« Der Atem von Patient 251011M9 roch unangenehm und streng nach Medikamenten. Sibel wurde von einer leichten Übelkeit erfasst, als er sich näher zu ihr beugte.

»Sie können sich an nichts erinnern?«

»Pssst! Ich bin nicht blöde!« Löwenherz rollte die Augen und setzte sich auf. Sibel zuckte automatisch zurück. Ein Reflex.

»Pssst! Ich bin harmlos. ICH bin harmlos!!! Die denken, sie haben es geschafft. MICH geschafft! Doch ich bin noch nicht ganz meschugge!«

»Was meinen Sie?«, fragte Sibel mit angespanntem Unterton in der Stimme.

»Ich habe Dinge gesehen, die glauben Sie nie. NIE! NIEMALS!«

»Was ist geschehen?«

»Die haben mich vollgepumpt. Mit Psychopharmaka abgeschossen, den totalen Gedächtnisverlust provoziert. Dann haben sie mich ausgesetzt, auf die Straße. Wollten einen Penner aus mir machen. Doch bevor sie dazu kamen, habe ich meine eigene Gegentherapie eingeleitet! Weißt du, ich bin selbst Arzt. Ein Professor! Jedes Mittel hat sein Gegenmittel! Auf diese Weise habe ich mich gerettet«, antwortete er, indem er die Augen nach oben drehte und die Stirn krauszog. Irre, dachte Sibel.

»Was ist passiert, Richard?«

»Psst! Löwenherz«, keuchte Nummer 251011M9.

»Ich habe zwei, drei Tage auf der Straße gelebt. Ich weiß nicht mehr genau! Weiß gar nichts mehr! So hat es sich jedenfalls angefühlt – und so habe ich auch gestunken.«

»Hmm ...«, antworte Sibel leise und bot ihm einen Plastikbecher mit Wasser an.

»Doch schau dir meine Hände an. Sind das die Hände eines Mannes, der auf der Straße lebt?«

»Was ist passiert?«, fragte Sibel geduldig weiter.

»Ich weiß selbst nicht so genau. Ich habe Lücken. Bilder kommen hoch. Sie bedrohen mich! Ich erinnere mich an meinen Beruf. Ich bin Arzt. Ich weiß allerdings nicht mehr, wo ich wohne. Ob ich verheiratet bin. Ob ich am Wochenende zu Chelsea oder Arsenal gehe! Doch ich bin guter Dinge, dass mein Gedächtnis zurückkehrt.«

»Löwenherz, sie sprachen davon, dass sie bedroht werden. Wer sind SIE?« »Psst! Um Gottes willen!!! Wenn die wissen, dass ich mein Gedächtnis zurückgewinne, bin ich verloren!!! Und jedem, dem ich erzähle, was ich weiß, muss auf der Hut sein!«

»Und?« Sibel ließ Löwenherz Zeit. Sie fühlte, dass er sich einiges von der Seele reden wollte.

»Sie sind gefährlich. SIE kontrollieren alles. Unsere Gedanken ... die Börsen ...«

»Wer sind SIE?« Sibel ließ nicht locker. Sie wusste, dass sie Löwenherz nur helfen konnte, wenn der Erinnerungsprozess wieder in Gang gesetzt wurde.

»Ich weiß es nicht! Man wollte mich in Italien engagieren, eine Testreihe an Kindern durchzuführen – mit nicht freigegebenen Pharmazeutika. Medikamente zur Gehirnmanipulation: Die Bezahlung war zu verführerisch! In einem Monat, ein komplettes Jahresgehalt! Wer kommt da nicht in Versuchung? Doch, als ich diese Kinder sah, da habe ich mich geweigert!«

»Mein Gott«, entfuhr es Sibel.

»Es waren doch noch Kinder«, schluchzte Löwenherz.

Sibel legte ihm eine Hand auf die Schulter:

»Ich behalte all das erst einmal für mich.«

»Ich weiß«, hauchte Richard Löwenherz. »Ansonsten hätte ich Ihnen auch nichts erzählt. Man spürt schließlich, wem man vertrauen kann. Selbst Ihnen als Frau, traue ich!«

Als Sibel die Tür schloss, starrte Patient 251011M9 bereits wieder zur Decke. Retrograde Amnesie, murmelte sie und schüttelte den Kopf. Sibel wurde neugierig. War Löwenherz ein neuerlicher Beweis dafür, dass die dunklen Mächte ihre weltweite Manipulation vorantrieben? Seit ihrem Schicksalsschlag in Neuseeland vor mehr als sechs Jahren, sammelte sie abnorme Vorkommnisse und Ungereimtheiten, die sich täglich rund um den Erdball ereigneten: Umwelt, Medizin, Börse und Politik. Es vergeht keine Stunde, in der nicht irgendwo auf der Welt Menschenrechte mit Füßen getreten werden und skrupellose Machthaber sich die Taschen vollstopfen, dachte sie. Die Lobby der Arzneimittelindustrie, die mit Apothekern und Ärzten unter einer Decke steckt, um zum Beispiel Antibiotika wie Fassbrause zu verabreichen, ist nur ein kleines, wenn auch fatales Beispiel. Mittlerweile sind die Keime resistent! Ein Hoch auf den Fortschritt, murmelte sie.

Solche Gedankengänge beschäftigten Sibel unablässig. Unter Freunden wurde sie als Verschwörungstheoretikerin belächelt. Doch waren Jans Tod und die Vernichtung des Hospitals wirklich Zufall? Und war es nicht ihre eigene Mutter gewesen, die ihr geraten hatte, immer einen Blick über die Schulter zu werfen? Und was hatte die Aussage von Löwenherz zu bedeuten „auch wenn Sie eine Frau sind.

»Ist er ein Frauenhasser? Hat er schlechte Erfahrungen gemacht? Sind SIE, Frauen? Was hat Vici dir damals über diese Sekte, dieses Matriarchat erzählt? Denk nach!« Die Fragen laut vor sich hinmurmelnd, begab sich Sibel auf Kontrollgang. Alles schien ruhig, keine besonderen Vorkommnisse.

Als sie das Pflegerzimmer schließlich wieder betrat, zog sie die Schuhe aus, streckte sich auf der Liege aus und legte den Piepser für etwaige Notfälle in Reichweite. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf.

2011 - 17.4., 19:00

Großbritannien,

London, Kensington,

Stratford Road

Szene 29

Innenaufnahme: Apartment Sibel. Sibel, ihre langen, gelockten Haare zum Zopf gebunden, schiebt einen Hoover durch ihr Einzimmer-Apartment. Sie trägt ein schwarzes, knielanges T-Shirt mit dem Aufdruck 'Ramones'. Darunter schauen die langen Beine im naturbraunen Teint der Südländerin hervor. Sie wirft einen Blick auf den Digitalwecker und legt einen Zahn zu, indem sie mit dem Hoover in die Ecken kurvt. Die weiße Schlafcouch ist drapiert mit wahllos verstreuten Klamotten. Über dem Flachbildschirm hängt ein BH und in der Spüle stapelt sich das schmutzige Geschirr der letzten beiden Tage.

Sibel hatte sich ein wenig gehen lassen.

Drei freie Tage am Stück sind ein Traum, murmelte sie entspannt. In einer Stunde würden die Jungs auftauchen. Sibel hatte sie zum Essen eingeladen und lange überlegt, was sie auftischen würde. Schließlich war sie Vegetarierin. Zwei Monate hatte sie überdies vegan gelebt; am Ende jedoch festgestellt, dass der Verzicht auf Milchprodukte für sie nicht in Frage kam. Sie entschloss sich schließlich dazu, Spaghetti mit Pinien Pesto sowie einen Waldorfsalat aufzutischen. Nudeln gehen immer, dachte sie und schaute auf die Uhr. Es wird Zeit, und unter die Dusche muss ich auch noch, stöhnte sie.

Steve trug Schuld, dass sie in Zeitnot geraten war. Ihm war nach einem Schwätzchen und er wollte partout nicht auflegen. Wir sehen uns später, hatte Sibel ihn schließlich nach fünfzehn Minuten abgewürgt.

Verrückt, mit Steve hatte sie telefoniert, doch ihre Gedanken waren bei Mikel. Sibels Blick verdunkelte sich, als das Telefon erneut läutete. Verdammt, was ist denn heute los, fluchte sie und nahm das Gespräch an.

»Hi hier ist Bob! Bist du das Sibel?«

»Wer sonst«, antwortete Sibel eine Spur zu schroff.

Bob war ein junger Kollege aus der psychiatrischen Anstalt. Er hatte sie noch nie zu Hause angerufen.

»Können wir uns treffen, Sibel?« Seine Stimme klang gehetzt.

»Was ist los?«

»Nicht am Telefon!«

»Hmmmm... Stichwort?«

»Löwenherz!«

Sibel verspürte eine aufkommende Unruhe.

»Ist es wichtig?«, fragte sie mit angehaltenem Atem.

»Sehr!«

»Gut, dann komm vorbei.«

Puuuuhhh, drei Jungs auf einmal, stöhnte Sibel, als sie auflegte. Macht nix, es gibt Schlimmeres, murmelte sie. Drei knackige Jungs zum Dinner, was will Frau mehr, grinste sie. Zeitgleich fühlte sie jedoch ein verräterisches Kribbeln in der Magengegend. Bobs innere Unruhe war auf sie über gesprungen.

Sibel sah atemberaubend aus, als sie den Jungs die Tür öffnete. Sie hatte ihren Körper eingeölt. Ihre Haut schimmerte bronzefarben. Das Tank-Top saß knapp und der seitliche Ansatz ihrer Brüste war unschwer zu übersehen. Steve schluckte.

»Hier, bester Chianti, meinte zumindest der Typ im Supermarkt«, schmunzelte er, drückte ihr den Karton in die Hand und küsste ihre Wangen.

»Schön, dass ihr da seid.« Indem sie das sagte, nahm sie auch Mikel in die Arme. Vielleicht eine Spur zu heftig?, schoss es ihr durch den Kopf.

»Das Essen ist gleich fertig. Und wir bekommen später noch Gesellschaft. Bob hat sich angesagt.«

»Wer is'n das?«, fragte Steve ein wenig erstaunt.

»Ach, mein neuer Lover, wisst ihr. Er wollte euch kennenlernen«, flunkerte Sibel und werkelte so geschäftig am Herd, dass die schätzungsweise zehn silbernen Armreifen, die ihr rechtes Handgelenk zierten, laut klimperten.

Es schien, als würde den Jungs für einen kurzen Moment alles aus dem Gesicht fallen. Sibel grinste:

»Nur ein Kollege. Es gibt wohl irgendwelche Probleme auf der Station. Ihr dürft Musik auflegen. Drüben liegen die CDs (Sibel deutete auf ein chinesisch anmutende Sideboard).« Zehn Minuten später, als John Cooper Clarkes ‚Night People‘ aus den Boxen waberte, servierte Sibel die Pasta. Mit einer flüssigen Bewegung ließ sich im Schneidersitz auf den abgewetzten Flokati nieder und goss Wein ein. Amüsiert beobachtete sie Mikel, der offensichtlich zu steif war, seine Glieder im Schneidesitz zu sortieren.

Nachdem er zwei Mal gegen die Tischbeine gestoßen und dabei fast den gesamten Rotwein verschüttet hatte, kniete er schließlich mit einem Murren nieder.

»Aus dir wird nie ein Yogi«, feixt Steve – und im gleichen Moment: »Hey, hier ist ja gar kein Fleisch drin.«

»Hab‘ ich‘s dir nicht gesagt, Sibel ist Vegetarierin«, schmunzelte Mikel.

»Warum um alles in der Welt, bist du Vegetarierin? Was hast du davon?« fragte Steve mit erstauntem Blick.

»Das musst du global sehen«, schmunzelte Sibel. »Um Fleisch zu produzieren, benötigst du Unmengen an Wasser um riesige Monokulturen hochzuziehen, mit deren Erträgen die Nutztiere gefüttert werden. Um die Monokulturen zu entwickeln, benötigst du wiederum Unmengen an Pestiziden. Die hingegen sind wieder sehr schädlich für das Grundwasser. Die Gifte gelangen obendrein ins Fleisch und somit in den menschlichen Kreislauf.

Darüber hinaus furzen die Rinder Methanlöcher in die Ozonschicht, was wiederum Ursache für die Klimaerwärmung ist.«

»Ich dachte ja nur an ein bisschen Schinken«, wehrte sich Steve.

»Die Energieverschwendung innerhalb der gesamten Produktionskette ist unglaublich. Die Produktion von einem Kilo Rindfleisch verursacht 36 Kilogramm Kohledioxid. Das ist so, als würdest du 250 Kilometer mit dem Auto zurücklegen. Und warst du schon mal auf einer Geflügelfarm oder hast dir angeschaut, wie Schweine gehalten und mit Unmengen von Antibiotika vollgepumpt werden – ich meine nur mal so vom ethischen und gesundheitlichen Standpunkt aus«, ereiferte sich Sibel und bot ihrem eigenen Redefluss schließlich mit einer gebieterischen Geste Einhalt:

»Schluss jetzt! Essen! Ich will die Pasta in Frieden genießen – schlemmen, trinken, lachen. Okay?«

»Na, wenn du Ansagen machst«, grinste Steve. »Wer wagt da schon, zu widersprechen?«

Als die zweite Flasche entkorkt wurde, machten es sich die Drei auf dem Boden bequem. Steve schaute sich um und erblickte einen Stapel feministischer Magazine. Kopfschüttelnd blätterte er eine Weile die Seiten durch. Sibel beobachtete ihn amüsiert und grinste, während sie Wein nachschenkte:

»Nein, ich bin keine Lesbe, auch wenn ich mich für die Rechte der Frauen einsetze. Vor einem Jahr war ich allerdings radikaler, habe mich in Gruppen engagiert. Doch irgendwann wurde mir der ganze Kram zu ideologisch«, erklärte sie und zuckte dabei ihre nackten Schultern.

Mikel bestaunte derweil die Unterwasserfotos, die nahezu die komplette Stirnwand einnahmen: Motive mit Muränen, Haien, Rochen, Schildkröten, Schiffwracks, bizarre Ansichten von Krustentieren – und Sibel als Taucherin.

»Darauf bin ich ein bisschen stolz«, lächelte Sibel.

»Hast du die etwa selbst geschossen?«

»Japp! Ich tauche seit meinem zwölften Lebensjahr. Eine große Leidenschaft.« Sibel zwinkerte ihm zu.

»Und mich interessiert, was diese ganzen Aktenordner zu bedeuten haben?« Steve musterte Sibel voller Neugier. »Klar, so ungefähr haben wir eine Ahnung. Ich meine, was du da über Verschwörungen sammelst. Ist das dein Hobby?«

»Hobby?«, schnaubte Sibel verächtlich. »Jungs, bevor ich mit euch darüber rede, möchte ich Folgendes klarstellen: Ich bin keine Psychotante! Ich bin nicht meschugge!«

»Und diese Ketten vor der Tür?«, fragte Mikel. »Paranoia?«

Sibel schaute ihn forschend an, schließlich antwortete sie:

»Wer weiß, vielleicht übervorsichtig. Aber Paranoia? Ich weiß nicht. Manchmal habe ich einfach Angst!«

Sibel band ihre schwarze Mähne zum Pferdeschwanz und griff scheinbar wahllos in einen Stapel Papiere.

»In den roten Ordnern finden sich von Menschenhand provozierte Naturkatastrophen. Alles, was ich zusammentragen konnte, habe ich hier festgehalten. Ich sammle weltweit erscheinende Artikel zu den Ereignissen und versuche, dort wo es geht, zu recherchieren«.

»Um was geht’s im Kern?«, fragte Steve, während er einen Joint drehte.

»Im Kern?« Sibel runzelte die Stirn und schlang die Arme um ihre perfekten Beine. Sie trug einen kurzen, bordeauxfarbenen Minirock. Ihre dunklen Schenkel waren eine Augenweide, im wahrsten Sinne des Wortes.

»Im Kern geht es um die Herrschaft über die Ressourcen. Wasser! Öl! Energiegewinnung jedweder Art. Wenn du dir die Macht über diese Elemente verschaffst, dann kontrollierst du alles – Industrie, Börsen, Politik – weltweit!«

»Und solche Dinge passieren tatsächlich? Außerhalb von politischer Kontrollinstanz?« Mikel schüttelte ungläubig den Kopf.

Sibel schlug den ersten Ordner auf und zeigte dann auf eine Reihe weiterer Akten, die sich unter dem Fensterbrett türmten.

»Alleine beim Thema Wasserkraft, haben wir es mit einer schier endlosen Manipulationskette zu tun. Wer im Besitz von Wasser ist, der überlebt. Wer keines hat, stirbt. So einfach ist das. Ich habe hier endlos viele Beispiele, die mit der Energiegewinnung durch Wasserkraft zu tun haben. In jüngster Zeit nimmt die Häufung der Fälle zu, wo gegen den Willen der Bevölkerung Dämme errichtet werden. Es gibt ein klares Bild, das sich abzeichnet: Die Bevölkerung leidet, hat aber nichts von der 'fortschrittlichen' Errungenschaft der Wasserkraft. Im Gegenteil, absurderweise leiden viele Menschen in diesen Ländern unter Wassernot. Talsperren und Absperrwerke gibt es Unzählige und es werden immer mehr – natürlich auf Kosten der naturbelassenen Wasserläufe. Vor allen Dingen in Afrika. Es häufen sich die Fälle, der Masseninfektionen, Epidemien, Vergiftungen und Massensterben im Vorfeld des Dammbaus innerhalb der Bevölkerungsgruppen, die in den Tälern heimisch sind. Dort wo ihre Dörfer standen, befinden sich heute riesige Wasserflächen. Jüngste Beispiele sind der Reires-Damm im Sudan, der Kainji in Nigeria, Massingir in Mosambik, Gilge Gibe III in Äthiopien oder der Kase in Lesotho. Die Vorgänge haben System und begegnen uns schablonenartig in anderen Erdteilen wieder. Der Shuangijangkon in China, der Enguri in Georgien, der Sajano-Schuschenkskaya in Russland, der Kishan und der Bhakra in Indien, der Kamuak im Iran, der Cipasang in Indonesien, San Roque auf den Philippinen, Toktogul in Kirgistan. Die Spitze eines Eisbergs!«

»Na komm, das geht ein wenig zu weit. Weltweite Mordkomplotts, Enteignungen – das glaubst du doch selbst nicht«, warf Steve ein und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Findest du?«, fragte Sibel ein wenig angesäuert. »Wir brauchen gar nicht so weit in die Ferne zu schweifen. Ändern wir den Industriezweig. In Deutschland entsteht im Rheinland die größte Braunkohlengrube der Welt. Das tiefste Loch der Erde wird später mit Wasser aufgefüllt. Es entsteht ein künstlicher See, der größer sein wird als der Bodensee! Die Energieart ist mehr als umstritten. Meint ihr ernsthaft, das alles geschieht zum Wohle der Menschheit? Die Bevölkerung im Rheinland wurde zwangsenteignet und umgesiedelt, an die 50 Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Fragen?«

Sibel nahm einen tiefen Zug vom Joint und fuhr unbeirrt fort.

»Zugegeben die Beispiele mit der Eliminierung ganzer Bevölkerungsgruppen sind extrem. Doch es geht auch subversiver. Nehmen wir Südamerika. Alles nicht koscher. Ob in Venezuela beim Guri-Stausee, ob in Brasilien beim Santo Antonia mit einer Staumauer von 3.100 Metern länge, ob in Paraguay, Mexiko und Kolumbien. Nimm Ecuador: Bei gleich zehn Stauseen, darunter die Bauwerke Ingapata, Almaluza und Guayllaba, kam es zu Unregelmäßigkeiten. So auch beim Bau des Ponte Masar. Hier soll es laut unabhängigen Medienberichten nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Manipulierte und gefälschte Boden- und Gesteinsgutachten, Zwangsevakuierungen der Bevölkerung, massive politische Umwälzungen. Neue Machthaber mit Blankoscheck, eleminieren Demonstranten! Die Brutalität, mit der vorgegangen wird, scheint keine Grenzen zu kennen. Bleiben wir auf dem Kontinent. In Argentinien entstand die natürliche Talsperre Chapetòn durch Bergrutschungen. Darf man einigen Quellen glauben, so handelte es sich um keine natürliche, sondern um eine künstliche, durch Menschenhand eingeleitete Bergrutschung. 120.000 Menschen kamen ums Leben. Der Chapetón wird mit 224.000 Metern Länge, die längste Talsperre der Welt werden.«

»Puuuh!« Mikel ließ sich mit einem langen Seufzer nach hinten kippen und holte dabei die kümmerliche Yucca-Palme von einem wackligen Beistelltisch aus Bambus. Der Topf blieb zwar heil, doch die ausgetrocknete Erde verstreute sich im Flokati. »Sorry, sorry, sorry«, beschwor er und half Sibel dabei das Malheur zu beseitigen.

»Sibel, das passt nicht zu unserer westlichen Zivilisation.« Steve schüttelte den Kopf und goss Wein nach. »Wir leben in Demokratien! Freie Meinungsäußerung, freier Presse und freien Wahlen!«

»Ich weiß, das ist schwer zu verstehen und noch schwieriger zu akzeptieren«, antworte Sibel, die das Kehrblech wieder unter der Spüle verschwinden ließ. »Wir werden ganz gezielt durch Medienberichte manipuliert. Wir schließen uns einem Netzwerk an, das millionenfach unsere Gedanken lenkt, Stimmung macht und Massen steuert. Schau dir die Politik der Kernenergie auf unserem Kontinent an. Gegen den Willen der Bevölkerung und gegen alle politischen Interessen werden parlamentarische Beschlüsse über den Haufen geworfen.« Sibel machte eine Handbewegung in Richtung des großen Regals, das bis zur Decke mit Ordnern gefüllt war. »Solartechnik, Windenergie – zum großen Teil in mafiösen Händen. Ich sag ja nicht, dass wir grundsätzlich verraten und verkauft sind. Doch die Tendenz ist steigend und die Gefahr der Manipulation nimmt von Tag zu Tag, zu. Oder glaubt ihr etwa das, was die Medien uns vorgaukeln?«

»Aber es sind doch nicht alle käuflich«, warf Mikel kopfschüttelnd ein.

»Das Ganze ist komplizierter, als es dem ersten Anschein nach aussieht. Für die einen gibt es Drogen und für die anderen den Gameboy. Es sind oft die kleinen unscheinbaren Dinge und Vorgänge, an die wir uns schon wie selbstverständlich gewöhnt haben. Wir fragen uns, weshalb den Irren die Elefanten, Nashörner, Haie, Delfine, Meeresschildkröten, Robben oder Wale abschlachten, kein Einhalt geboten wird. Das sind die regionalen Konzessionen, die man eingeht, um vor Ort die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Umweltaktivisten und Organisationen, die anderer Meinung sind, denen wird das Leben schwer gemacht. Dann opfert man halt die Weltmeere und die Ozonschicht«, sinnierte Sibel. »Oder auch Menschen, die im Wege stehen und unbequem sind«, flüsterte sie. Sibel schenkte sich noch ein Glas Wein ein, atmete tief durch und wurde mit einmal sehr ruhig. Steve und Mikel wechselten einen beunruhigten Blick.

»Nein ihr habt recht. Mit Sicherheit sind nicht alle käuflich. Doch es scheint Mittel und Wege zu geben, auch die letzten Freigeister zu enteiern.«

»Weshalb sammelst du das alles?« Mikel machte eine ausladende Handbewegung.

»Ich habe meine persönlichen Gründe«, antwortete Sibel fast tonlos und fixierte dabei das verblichene Poster einer Umweltorganisation aus Neuseeland. »Meine Ma«, fuhr sie fort, und schien gedanklich mit einmal sehr weit weg zu sein: »Meine Ma war in ihrer Kindheit Gefangene einer Organisation, die es sich auf die Fahne geschrieben hatte, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ich bin sicher, dass dieses Matriarchat nach wie vor besteht und ich fürchte, dass es seinen Einfluss seitdem ausgebaut hat.«

»Hmm... Matriarchat. Also Frauenpower?«, grinste Steve.

»Nein, mit Frauenpower oder Feminismus hat das ganz und gar nichts zu tun. Und ich fürchte, es ist nicht halb so lustig, wie du denkst. Wir reden von höchst kriminellen und brutalen Strukturen.«

»Und weshalb sollten Typen dabei mitmischen?«

»Sie werden dahin gehend manipuliert, ganz einfach«. Sibels Lächeln schien gequält.

»Und wie?«

»Nun auf vielerlei Arten. Die Kooperation verhilft ihnen zu Reichtum und Macht. Doch der größte Manipulator ist Sex. Die Frauen dieser Gemeinschaft verstehen sich darauf, mithilfe von Sex, zu manipulieren und Gewalt auszuüben. Jeder, der sich auf sie einlässt, verfällt ihnen. Es ist wie eine Droge.«

Sibel drehte eine Zigarette.

»Doch nun erzähl Steve, weshalb warst du am Telefon dermaßen aufgebracht?«

Steve wurde nachdenklich und nickte Mikel zu.

»Du glaubst nicht, was uns heute passiert ist«, legte Mikel stockend los. »Wir hatten einen Termin bei unserem A&R und haben über dies und das gesprochen – über die einzelnen Nummern, Plattencover, Tour und so weiter.«

Sibel hörte Mikel konzentriert zu. Sie mochte die Art, wie er seine Lippen bewegte, wenn er redete. Seine Gesten, seinen Augenaufschlag und das Muttermal am Grübchen seines Kinns.

»Na ja, dann passierten gleich mehrere absonderliche Dinge. Zunächst machte er für drei Songs, darunter die Single, neue Textvorschläge.«

»Ungewöhnlich?« fragte Sibel neugierig, den Kopf auf eine Hand gestützt, während die Finger der freien Hand ihre Locken drehten.

»Schon«, antwortete Steve. »Doch was er uns vorlegte, war oberflächliche Scheiße.«

»Mit den Lyrics hätten wir das Wahlprogramm von Maggy Thatcher ankurbeln können. Unglaublich!!!«, warf Mikel ein. »Hey und wir stehen für was ganz anderes, das weißt du!«

»Er sprach davon, dass wir uns in Kürze vor Groupies nicht mehr retten könnten.« Bei der letzten Feststellung grinste Steve.

»Er sprach von der Vorbildfunktion, die wir für die Jugend hätten. Für ein starkes und sauberes Königreich ... blablabla.«

»Hmm was habt ihr ihm geantwortet?«

»Natürlich, dass das mit uns nicht zu machen sei. Wir werden uns nicht prostituieren«, antwortete Mikel aufgebracht.

»Wir sollten es uns reiflich überlegen, antwortete unser A&R und verdoppelte den Vorschuss auf das Album«, präzisierte Steve. »Doch als ich ihn dann beim Hinausgehen eröffnete, dass wir einen Charity-Gig für die Organisation Lost Children spielen, zu dem er herzlich eingeladen sei, da ist er uns fast an den Hals gesprungen. Er schrie: Wenn ihr das macht, dann seid ihr raus. Dann seid ihr tot für uns. Ich werde dafür sorgen, dass ihr kein Bein mehr an den Boden bekommt!

»Er war außer sich«, versicherte Mikel.

»Könnt ihr euch keinen Reim darauf machen, weshalb euer Label so einen starken Einfluss ausüben will?«, fragte Sibel nachdenklich.

»Wir haben uns umgehört«, antwortete Steve sichtbar erregt. »Auf diese Weise wollten sie auch den Headliner des Labels sowie drei Nachwuchsbands ficken.«

»Was denkt ihr? Konservativer Rechtsruck im Mäntelchen des Rock'n'Roll?«

»Das ist doch scheiße«, polterte Steve. »Du kannst doch auch keinem Maler vorschreiben, wie er sein Bild, zu malen hat oder einem Autor das Thema seines neuen Romans vorgeben!«

»Nein?«

»Ich weiß! Verdammt. Das kann doch nicht angehen, Sibel. Deine Verschwörungstheorie geht mir echt zu weit!«

»Menschen lassen sich aber nun mal über Bildung, Erziehung und Kunst manipulieren!«

»Hmm …«

»Hey«, Sibel hob beschwörend die Hände, »vielleicht ist das auch nur ein einsamer Wichser, der seine Ideale durchrücken will. Vielleicht steckt aber auch die Company dahinter – oder der Konzern, der die Strippen hinter der Company zieht! Jedenfalls scheinen sie ja eine ganz klare Botschaft durchdrücken zu wollen, oder? Doch, was ist mit diesem Charity-Auftritt?«

»Das klang echt bedrohlich. Ich dachte, gleich kriegt er nen Herzkasper, so hat er sich aufgeregt. Dabei geht’s doch um eine gute Sache.«

»Lost Children... habe ich schon drüber gelesen«, murmelte Sibel.

»Ja, Barbara Butcher ist die Tochter einer Bekannten meiner Mutter«, erklärte Mikel. »Ihr Sohn Ben verschwand vor einem Jahr gemeinsam mit drei Freunden, als sie sich vom Sportunterricht auf den Heimweg machten. Niemand hat je wieder etwas von ihnen gehört. Die Jungs waren zwischen sieben und acht Jahren alt. Könnt ihr euch diese Verzweiflung vorstellen? Seitdem schreibt Mrs. Butcher Betroffene an. Die Veranstaltung soll so etwas wie ein konstituierender Auftakt sein. Barbara Butchers psychischer Zustand lässt es allerdings nicht zu, die Gesamtverantwortung zu tragen. Seit etwa zwei Monaten hält nun eine Griechin das löchrige Netzwerk zusammen. Sie wird als Gastrednerin erwartet. Immer wieder verschwinden Kinder und diese Organisation bemüht sich um Aufklärung. Da kann selbst ein konservativer Arsch keine Einwände haben.«

»Da hast du recht. Das begreife ich auch nicht.« Sibel seufzte und legte eine neue CD ein.

Zehn Minuten später, als Manu Chao's 'Je ne t'aime plus' aus den Boxen säuselte, klingelte es an der Wohnungstüre. Sibel erhob sich bedächtig, schaute durch den Sucher, entriegelte die Tür und begrüßte einen sichtlich aufgebrachten Bob. Er brummte ein ‚Hi‘ in die Runde und schnauzte lautstark die Nase. Bob war ein untersetzter Typ Mitte zwanzig. Seine halblangen, feuerroten Haare trug er zum Zopf gebunden und kaute sichtlich erregt auf einem Kaugummi. Er sah aus wie das Abziehbild eines typischen Iren. Sibel bot ihm ein Glas an.

»Willkommen zur 'du glaubst nicht, was mir heute alles passiert ist'-Gruppe!«

»Willkommen zu unserer konspirativen kleinen Runde«, frotzele Steve. »Wir decken hier und heute eine globale Verschwörung auf. Die Aliens werden uns angreifen. Doch padapapapadapapapaaaah kommt in allerletzter Sekunde die Kavallerie um die Ecke gebrettert und rettet die Welt.«

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9783748543237
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