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Ich glaube zwar nicht, dass die Ignoranz meiner Person der Meinung des von meinem Grossvater verehrten Senecas geschuldet war, der im Kind nichts Gutes sehen konnte, da ihm die Vernunft fehle.Die Nichtbeachtung meiner Person war eher Ausdruck einer allgemeinen Indolenz meines Grossvaters anderen Menschen gegenüber, ausgenommen Frauen, an denen er seine Verführungskraft zur Befriedigung des Geschlechtstriebes erproben wollte und Männern, Frauen traute er das per se nicht zu, die seine Intelligenz oder Bildung herausforderten oder von denen er sich neue Erkenntnisse erhoffte.

Angesprochen wurde ich als Kind oder Jugendlicher eigentlich nur, um architektonische Leistungen oder Kunstgegenstände erläutert zu bekommen.Dabei war ich aber offenbar nur der Vorwand, die jeweiligen Erkenntnisse sich zu vergegenwärtigen oder Ausflüge zu derartigen Objekten mit bidlungspoltitischen Aktivitäten zugunsten des Nachwuchses zu rechtfertigen. Mein Grossvater war eigentlich ein Autist, ein Weiser im Sinne seines Lieblingsphilosophen Seneca, dem niemand schaden noch nützen könne.

Ich setzte mich und die Köchin Anni, deren Liebling ich war, kam aus der Küche , brachte mir Ovomaltine und schmierte mir ein Honigbrot. Nicht zu selten war auch Dr.Müller am Frühstückstisch.“

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„Dr.Müller und Fritz Liebknecht, ein Junggeselle, Beamter der staatlichen Museumsverwaltung und studierter Kunstgeschichtler, waren die ältesten und eigentlich einzigen Freunde meines Grossvaters. Alle drei waren Jahrgang 1900 und hatten gemeinsam in Ettal das klösterliche Internat besucht. Sie verloren sich auch nach der Schule nicht aus den Augen. Fritz Liebknecht und mein Grossvater studierten zusammen.

Mein Grossvater, der sich kaum für Individuelles oder Individuen interessierte, hatte in den beiden Freunden seine idealen Gesprächspartner. Mit Dr.Müller thematisierte er Fragen des Lebens in abstrakter Form, wie sie seine Lieblingsphilosophen und sein Lieblingsschriftsteller, die fast die einzigen waren, die er las, Seneca und Montaigne beziehungsweise Fontane aufwarfen. Liebknecht war der geeignete Gesprächspartner für die bildende Kunst, insbesondere die Malerei des Manierismus, seinem bevorzugten Thema. Gemeinsam zu dritt wurde über Politik geredet und heftig gestritten. In der Nazizeit hatten sich alle drei weggeduckt, ohne schuldig geworden zu sein. Mein Grossvater kümmerte sich um das Geschäft und mied allzu viel Kontakte mit Nazigrössen, die meine Grossmutter ob ihrer Vulgarität ohnehin verachtete. Fritz Liebknecht als Deutschnationaler sympatisierte mit den Nazis und war auch nach 1933 der NSDAP beigetreten. Als Museumsbeamter spielte er aber keine herausragende Rolle. Er denunzierte niemand, protestierte aber auch nicht, als jüdische akademische Kollegen entfernt wurden, sondern nutzte vielmehr die begünstigten Karrierechancen. Wegen seiner Kurzsichtigkeit konnte er den Kriegsdienst weitgehend vermeiden. Dr.Müller als Jesuit war kein Prediger nationalsozialistischen Gedankengutes wie manche seiner,vor allem evangelischen Kollegen, er war aber auch kein Widerstandkämpfer , wie manch anderer eher katholische Kollege, sondern er war typischer Vertreter der inneren Emigration, der sich in seinen Predikten strikt moraltheologisch und damit unangreifbar äusserte.

Die politischen Diskussionen zwischen den Freunden waren dennoch, wie mir Dr.Müller einmal erzählte, oft kontrovers. Onkel Fritz, wie ich ihn nannte, war immer noch deutschnational. Er lehnte die Westintegration ab. Der Mitgliedschaft in der Nato 1955 stimmte er nur deswegen zu, weil sie die Wiederaufrüstung ermöglichte und das Besatzungstatut damit bis auf den Viermächtestatus von Berlin beendet war. Er hielt auch nichts von den 1957 abgeschlossenen EWG Verträgen der sechs Montanunionstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Luxemburg, den römischen Verträgen. Er meinte Deutschland sollte eigenständig bleiben und hätte gerne die Offerte Stalins zu einer neutralisierten Wiedervereinigung angenommen. Mein Grossvater wie Dr.Müller waren da gänzlich anderer Meinung. Sie waren ausdrücklich für die Westintegration, mein Grossvater war ein Freund Amerikas.

Während Dr.Müller das Godesberger Programm der SPD von 1959 mit seiner Absage an den Klassenkampf und den Marxismus als historische Wende begrüsste, meint Onkel Fritz, man dürfe dem nicht glauben :>Sozi bleibe Sozi < sie seien jetzt der Wolf im Schafspelz.

Den grössten Streit hatten sie allerdings wegen des Wiedergutmachunsabkommens mit Israel aus dem Jahr 1952, in dem sich Deutschland zu Entschädigungsleistungen verpflichtete und auch der politischen Annäherung an Israel, die in Adenauers Treffen mit Ben Gurion 1960 in New York gipfelte. Mein Grossvater wie Dr.Müller hielten das für eine aus historischer Schuld notwendige Verpflichtung Deutschlands, während Onkel Fritz meinte, die Verbrechen der Nazis könnten nicht mit Geld aufgewogen werden, man käme so nie zu einem Ende, wir sollten doch politisch lieber auf die Araber zugehen, die hätten das Öl und ausserdem sei der Staat Israel illegitim, auf Kosten der Palästinenser entstanden. Selbst als die Kriegsverbrecherprozesse in Frankfurt und der Adolf Eichmann Prozess das Grauen von Ausschwitz dokumentiert und den Holocaust zum unauslöschlichen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Welt machte, äusserte Onkel Fritz noch seine Empörung über die Entführung von Eichmann durch die Israeli.Er verurteilte zwar die Judenverfolgung als verbrecherische Massnahme einiger Verrückter, fand aber, sie könne nicht dem deutschen Volk als ganzes zugerechnet werden, Verbrechen speziell gegen Juden hätte es schon immer gegeben.Man solle nach vorne schauen und dürfe auch den verbrecherischen Bombenkrieg der Alliierten gegen die deutsche Zivilbevölkerung nicht vergessen, der militärisch sinnlos und reiner Terror gewesen sei.

Er interpretierte Hitler als die deutsche Erscheinung der Revolution, eine Umwälzung, die die nicht stattgefundene deutsche Revolution 1918 nicht vollbracht habe. Daher sei es besser, die Deutschen liessen jegliche Revolution.

Wie Richard Wagner die Musik für Unmusikalische gemacht habe, so Hitler die Politik für Unpolitische, das sei aber eben der Preis der Demokratie. Faschismus sei damals modern gewesen, Zeitzeichen, ein Affekt gegen die Zivilisation, das irrationale Verlangen nach Spontaneität, Rausch und Anschaulichkeit, der Vehemenz der Jugend geschuldet, die die Gewalt ästhetisierte. Als die Bewegung der 68er von manchen Intellektuellen als Linksfaschismus bezeichnet wurde, war dies ganz nach dem Geschmack von Onkel Fritz, der gleichzeitig eine gewisse nicht gänzlich wegzuleugnende seinerzeitige Nähe zum originären deutschen Faschismus der Deutschnationalen sich vernebeln sah.“

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Ich merkte an: „Die Argumentation bleibt gleich, auch heute, denkt man an die Rede Martin Walsers in Frankfurt, wird argumentiert, der Holocaust werde instrumentalisiert, um Deutschland in seiner Handlungsfähigkeit einzuschränken.“

Paul: „Onkel Fritz war ein gebildeter, sehr konservativer Mensch. Letztlich war er aber ein Antisemit und auch Antiamerikanisch. Die Angst vor der Moderne wurde in Deutschland auf die Amerikaner und oft auch auf die Juden projiziert. Deutsche wie Fritz Liebknecht waren nach dem Krieg selbstmitleidig. Amerika war schuld an allem, vor allem an den Ausverkauf von Jalta, da es versäumt hatte, gemeinsame Sache gegen die Sowjetunion zu machen. Die matte Reaktion auf den Mauerbau hat ihn dann erneut bestätigt.“

Ich: „Man kann allerdings sagen, dass die Integration der alten Nazis, von denen die meisten ungeschoren davon kamen oder als Kriegsverbrecher zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, vorzeitig entlassen wurden - beides ein Zugeständnis der Amerikaner an Adenauer - mit Teil des sogenannten Wirtschaftswunders war. Ich las erst neulich die durchaus plausible Ansicht, dass die Leistungsgemeinschaft der Nazis in die Nachkriegszeit gerettet wurde, der Leistungsfanatismus wurde sozusagen entnazifiziert.“

Paul: „Die Frage ist dann allerdings, warum dem anderen deutschen Staat dies nicht gelang, der doch äusserlich der Nazidiktatur viel ähnlicher war, denkt man nur an die FDJ –Aufmärsche wie im Deutschen Jungvolk, die gleichen gläubigen Gesichter, derselbe Kommandoton, dieselben Zeltlager, nur blaue statt brauner Hemden .“

„Ich las darüber in demselben Buch. Es wurde argumentiert, und das erscheint mir schlüssig, dass in Westdeutschland der Marschallplan wirkte, die Deutsche Mark lange völlig unterbewertet war, was den Export förderte, dass die Aufnahme der aus den Ostgebieten Vertriebenen und in der DDR Enteigneten ein wirtschafts – und unternehmerfreundliches menschliches Potential geschaffen hatte. Während 1952 bereits die westdeutsche Chemie –und Elektroindustire auf dem Weltmarkt dominierte, liess Stalin in die Schwerindustrie ohne Erz und Steinkohle investieren und hat damit die Weichen gleich falsch gestellt, obwohl die Lage in Buna und Leuna nach den Zerstörungen des Luftkrieges eigentlich günstiger als im Ruhrgebiet war. Die DDR hat schliesslich 50% des Staatshaushaltes zur Subentionierung von Lebensmittel, Wohnen und Nahverkehr aufgebraucht mit dem bekannten Ergebnis einer masslosen Verschuldung und dem schliesslichen praktischen Staatsbankrott.“

Paul: „Westdeutschland hat im Ergebnis vom kalten Krieg profitiert. fünfzig Millionen Deutsche profitierten von der bolschewistischen Gefahr, achtzehn mussten sie erdulden.“

Ich: „Insofern war die BRD ein Produkt der Staatskunst der Amerikaner, der positiven Reaktionen der Westdeutschen und der Intansingenz Stalins, wie der Autor des von mir zitierten Buches meint.“

Paul: „Die angebliche Gleichheit war aber nie gegeben.Die Eigentümer von Land und die Inhaber der Produktionsmittel waren bevorzugt. Daher war auch das Geschäft meines Grossvaters in den fünfziger Jahren exorbitant. Er musste eigentlich nur verteilen.“

Ich : „Dennoch gab es immerhin den Lastenausgleich, eine Sondersteuer für die Flüchtlinge und Ausgebombten. Immerhin wurde die gigantische Summe von 180 Milliarden DM umverteilt. Heutzutage hätte ein derartiges Ansinnen den Massenexodus der Besitzenden nach Österreich oder der Schweiz zur Folge.“

Paul: „Damals wurde es aber akzeptiert, vielleicht auch geschuldet dem schlechten Gewissen oder als Dank einem gütigen Schicksal gegenüber. Ich kann mich noch erinnern, dass mein Grossvater sich durchaus über den Lastenausgleich beschwerte, aber angesichts der Massnahmen des anderen Deutschlands, die manchen seiner Kollegen vertrieben hatte, das geringere Übel in Kauf nahm. Aber mein Grossvater war sich seiner Klasse durchaus bewusst und fürchtete schon die unteren Klassen oder gar Klassenkämpfe, die allerdings weitgehend ausgeblieben waren.“

Ich: „Durch den sogenannten >Fahrstuhleffekt< wurden die Gegensätze weniger wahrgenommen. Immerhin hatte sich das Nettoeinkommen zwischen 1950 und 1973 vervierfacht.“

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Paul: „Diese Erkenntnisse hatte mein Grossvater so noch nicht. Er war der gebildete, selbstbewusste, arrogante Bourgeois, der keine grössere Gemeinschaft für sein Selbstbewusstsein reklamieren musste. Anders als Fritz Liebknecht, der auch gebildet, aber sich als Teil einer Kulturnation verstehend, für sein Selbstbewusstsein und dem Sinn seines Daseins auf den Rekurs der aktuellen und historischen Leistungen seines Volkes angewiesen war, während Dr.Müller, universal denkend hierfür die ganze Welt der katholischen Kirche, die er überhöhend mit der der Vernunft gleichsetzte, in Anspruch nahm. So gab es dieses Dreigestirn, der Grossvater mit dem überbordenden Ich seiner Selbstgewissheit, Fritz Liebknecht eingebettet in nationale Identität und Dr.Müller dem Reich der Vernunft verschrieben, deren Organisation die katholische Kirche zumindest sein sollte.

Mit Dr.Müller allein diskutierte mein Grossvater vor allem Fragen der Moral. Er hielt es eher mit Montaigne und Seneca als den zehn Geboten. Wenn Dr.Müller darauf verwies, dass die Tugendlehre Senecas, die nur der Tugend das wahre Lebensglück zuweist und nur den als weise anerkennt, der Tugend besitzt, deren herrlichste die Hochherzigkeit sei, doch gut mit den zehn Geboten und deren katholischer Interpretation vereinbar sei, so entgegnete mein Grossvater, dies könne sein, doch er wende sich gegen die Dogmen der katholischen Kirche wie die jungfräuliche Geburt, die Unfehlbarkeit des Papstes, das Zölibat und ähnlichem, was doch kein vernünftiger Mensch ernsthaft glauben könne. Philosophie wie Religion müssten dem Menschengeschlecht guten Rat verheissen, wie es Seneca ausdrückt, wozu wären sie sonst gut. Er finde diesen guten Rat in den Schriften Senecas und Montaignes und nicht in den zehn Geboten.

Dr.Müller erwiderte, wenn dem so sei, so frage er sich,warum mein Grossvater sonntags in die katholische Kirche gehe, Kunstgegenstände könnte man doch auch ausserhalb der Messe besichtigen und es sei vielleicht gegenüber den sonstigen Gläubigen eher respektlos.

Mein Grossvater, darüber verärgert, wollte eine Antwort nicht schuldig bleiben: > Nun du weißt ja um die Bedürfnisse meiner Frau und ich möchte ein guter Ehemann sein. Ausserdem kann man die Hoffnung nie aufgeben.Vielleicht überzeugt mich doch noch einmal einer deiner Kollegen. Ich will ja auch nicht sagen, dass ich gänzlich ungläubig bin, ich bin nur nicht naiv gläubig ,wie ihr es vielleicht gerne hättet. Zugeben musst du aber, dass < – und das war die eigentlich Retourkutsche - > man in der Bibel eine solche auf wahrer Lebenserfahrung beruhende Empfehlung nicht lesen kann, die ich neulich bei Montaigne fand, der die Schwiegertochter des Pythagoras zitiert, die ihren Geschlechtsgenossinnen empfiehlt, wenn sie sich zu einem Mann ins Bett begebe, mit dem Rock auch das Schamgefühl abzulegen und es hernach mit dem Unterrock wieder anzuziehen. <

Diese Geschichte hatte Dr.Müller besonders verletzt und er erzählte sie mir nach dem Tode meines Grossvaters mit dem Hinweis, dass sie immer sich gegenseitig schonend diskutiert hatten und die genannte Auseinandersetzung aussergewöhnlich war, da er nicht die Widersprüche im Leben seines Freundes thematisierte, die Widersprüche zwischen den Ratschlägen Senecas und Montaignes und der gelebten Realität des Grossvaters, der umgekehrt die tabuisierten Themen des Priesters wie dessen Sexualität vermied.“

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„Letzteres Thema wurde auch in den Gesprächen mit Fritz Liebknecht ausgeklammert. Onkel Fritz war Junggeselle geblieben und konnten nie an den Erfolgen meines Grossvaters bei Frauen teilhaben. Er war immer verklemmt und hatte sich nicht getraut. Ich lernte ihn schon in älteren Jahren kennen, hörte aber bei Geprächen meiner Grossmutter mit ihrer Schwester heraus, dass sie oftmals vergeblich versucht hatten, Onkel Fritz zu verkuppeln und sich ernsthaft fragten, ob er nicht impotent sei.

Mit Onkel Fritz konnte mein Grossvater sich dem Thema der bildenden Kunst widmen.

Sie diskutierten lange und mit viel Detailkenntnis Fragen wie: Kann man die Postmoderne als moderne Form des Manierismus ansehen, hat der Manierismus überzeitlichen Charakter oder verbindet er nur ein in seiner Widersprüchlichkeit einheitliches Konglomerat im 16.Jahrhundert? oder: Ist das Stilmittel der figura serpentinata, exemplarisch in Parmigianinos Madonna mit dem langen Hals, Ausdruck einer Weltanschauung oder nur der Anspruch, Grazie und Schönheit zu repräsentieren weder eine Idee vermittelnd noch Handlung darstellend? Onkel Fritz vertrat den Standpunkt der Klassik, der Renaissance, mein Grossvater vehement denjenigen der Nachfolgerichtung, der Reflexion, des Manierismus. So konnten derartige Themen durchaus streitig diskutiert werden.

Beide waren aber zu lange und zu gut befreundet als dass sie kunsttheoretische Auffassungen persönlich auslegten, vielleicht dachten sie es aber, wie etwa Dr.Müller über Fritz Liebknecht vertraulich zu meinem Grossvater äusserte: > Der schwache Charakter hält sich an die Klassik, wie an die Nation. Die Reflektion, die Infragestellung verunsichert ihn zu sehr .< Fritz hätte dagegen auf seinen Freund Poth verweisend einwenden können: > Alles Infragestellen kann sich immer nur der erlauben, der genug abgesichert ist. Es ist auch nur die akademische Lust am l´art pour l´art, die ohne Konsequenzen nur destruktiv ist. Es ist dekadent.<“

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„Dr.Müller wurde von meiner Grossmutter immer noch, obwohl eigentlich längst Professor an der Jesuitenhochschule in München, anderen, selbst dem Hauspersonal und Familienangehörigen gegenüber als Dr.Müller bezeichnet. Mein Grossvater, der mit ihm in Ettal auf dem Internat ein Zimmer geteilt hatte, nannte ihn beim Vornamen Jakob. Auch meiner Grossmutter hatte Dr.Müller schon lange das Du angeboten.Doch sie blieb bei >Herr Dr.Müller<, ohne es zu thematisieren. Sie dokumentierte damit ihre Distanz zu ihm. Das hatte mehrere Ursachen: Zum einen stand er als Schulfreund meines Grossvaters zu Recht bei ihr unter dem Verdacht, mein Grossvater hätte sowohl emotional wie intellektuell ein intimeres Verhältnis zu ihm als zu ihr, zum anderen hatte sie, als mühsame Absolventin der Mittelschule, übertriebene Achtung vor akademischen Titeln. Sie zeigte aber mit dem >Dr.Müller< auch, dass sie ihn schon vor der Erlangung des Professorentitels kannte und dass ihre Achtung vor akademischen Würden doch nicht so weit ging, sich der Mühe unterziehen zu sollen, alte Namensgewohnheiten zu ändern. Als möglichen Ansprechtitel Pater Müller, so wurde Dr.Müller auch von verschiedener Seite genannt, zu verwenden, kam ihr nicht in den Sinn. Denn bei Pater dachte man zu leicht an Beichtvater und diese Funktion Dr.Müller zuzugestehen, war nicht nur angesichts des Näheverhältnisses desselben zu meinem Grossvater undenkbar, sondern auch wegen der von meiner Grossmutter durchaus gespürten Verachtung des Doktors, die dieser ihr gegenüber – und zwar nicht nur wegen ihrer vermeintlichen allzu bescheidenen intellektuellen Fähigkeiten – durch subtile Nichtwahrnehmung an den Tag legte.

Da die Haususancen, dazu zählte auch die Namensgebung von Gästen, mein Grossvater weitgehend seiner Gattin überliess, war für mich Jakob Müller nicht Onkel Jakob, nicht Pater Müller, nicht Herr Professor, sondern Herr Dr.Müller.

Mir fiel als Kind bei Dr.Müller seine langsame, immer bedächtige, nie eifernde, nie fordernde Sprechweise in einem leicht singenden Ton auf. Er hatte einen milden Blick, der nicht verdammte, sondern verstand und verzieh. Er hatte weiche, fast samtene Hände. Sein Gesicht war leicht verfettet, er hatte volles weisses Haar, war gross mit den Bauchausmassen, die man bei katholischen Geistlichen fast verallgemeinern kann.

Er fühlte mir gegenüber einen gewissen Bildungsauftrag sowohl was allgemeinpolitische wie was familiengeschichtliche Angelegenheiten betraf.

So belehrte er mich schon beim Frühstück jeweils bezogen auf die aktuellen politischen Überschriften der Zeitungen und wenn es irgend möglich war, stellte er Bezüge zur Familie her.“

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„Von den Themen am Morgen sind mir in Erinnerung nur zwei Komplexe geblieben und zwar wohl deshalb, weil diese die einzigen waren, die meinem Grossvater zu eigenen Stellungnahmen verleiteten, was wiederum zu Diskussionen führte, deren Einzelheiten ich nicht mehr weiss, deren Tenor mir aber im Bewusstsein geblieben ist. Es ging einerseits um Hitler und den Nationalsozialismus und andererseits um die Frage, wie verhält man sich richtig, wie lebt man richtig .Letzteres wurde dann oftmals theologisch gewendet, was ist Sünde und was nicht.

Zu Hitler war mein Grossvater immer der Meinung, dieser sei ein Verbrecher gewesen, der das deutsche Volk verführt habe. Was hätte man tun können. Als man es merkte, war es zu spät und Widerstand sinnlos und Selbstmord. Dr. Müller warf dann sinngemäss ein, dass Hitler und seine Bande Verbrecher waren, hätte man doch schon früher erkennen können und es haben ja auch viele erkannt.Vor allem aber merkte er an, habe denn Hitler die bekannten Untaten allein ausgeführt, hatte er nicht nur allzu viele willige Helfer und gehören zum Verführtwerden nicht zwei. Gab es nicht Beispiele von Widerstand, der erfolgreich war und war es nicht genau das, was von den Nazis intendiert war, alle sollten glauben Widerstand sei zwecklos, sei es nicht so, dass genau die Meinung,Widerstand sei sinnlos eben der Fehler war, wie die Furcht zu irren, schon der Irrtum selbst sei. Letzteres stehe im übrigen erstaunlicherweise am Bahnhofsturm von Stuttgart, dessen berühmtesten Sohn zitierend.

Mein Grossvater entgegnete in etwa so: Mag sein, doch nehme mich als Beispiel. Hätte ich mich wehren sollen, hätte ich meine Arbeiter aufhetzen sollen. Hätte ich meinen jüdischen Bekannten, die in Amerika neu anfangen wollten und Geld benötigten, nicht Ihre Kunstgegenstände abkaufen sollen. Was wäre gewesen? Bei Widerstand wäre ich ins KZ gekommen, hätte meine Familie ruiniert und nichts geändert. Im Ergebnis hätte ich nur einige und zwar noch dazu die mir nächsten unglücklich gemacht, gefährdet oder schlimmeres. Und hätte ich nicht mit den Juden kontrahiert mit dem Argument, ich nutze nicht die Notlage aus, sollen dies andere tun.Was hätten sie mir gesagt? Deine Preise sind noch anständig, bitte kaufe Du von uns, von Dir wissen wir, dass wir nicht betrogen werden. Wir akzeptieren, dass der Marktpreis schlecht ist, wir würden an deiner Stelle auch zugreifen, aber wir wissen bei dir, dass das gegebene Wort gehalten wird und du den Handel nicht hinauszögerst und uns

dann noch Nachlässe abverlangst, wenn wir angesichts des endlich möglichen Ausreisetermins nicht mehr anders können. Mein Handeln konnte der Kantischen Maxime des kategorischen Imperativs, die doch auch du vertrittst, in der konkreten Situation durchaus gerecht werden.

Interessant ist aber eigentlich, was sie nicht besprachen, jedenfalls nicht vor mir und zwar niemals, denn sie diskutierten auch am Mittagstisch und gelegentlich abends in der Bibliothek vor meinen Ohren. Es sind die Dinge, die ich erst viel später erfuhr und die ausgeklammert wurden in dieser, dem Kind so lieben und so vertrauten heilen Welt. Dinge, die die Bedingungen der Möglichkeit darstellten, dass ich an diesem Frühstückstisch sass, Familientabus über die dann später gelegentlich bei meinen Eltern gemunkelt wurde, die aber Jahre später erst in mein Bewusstsein traten. Obwohl wenig schmeichelhaft für meine Grosseltern, ändert doch das Wissen darum nicht mein Gefühl, meine Vorstellung von Ihnen. Diese ist aus dem kindlichen Erlebnis geprägt und lässt das Offenbarwerden genannter Familientabus erscheinen, als handelten sie von anderen Personen. Denn vor mir habe ich immer noch den Grossvater am Frühstückstisch mit Dr.Müller als Gesprächspartner.

Beim anderen oftmals diskutierten Aspekt des richtigen Lebens rekurrierte mein Grossvater auf Montaigne und Seneca. Dr.Müller versuchte beides mit katholischer Ethik zu verbinden.

Einig war man sich, dass für den normalen Menschen – und als solcher wollte mein Grossvater gelten – die Philosophie in der natürlichen Praxis, im Hier und Heute, nicht im Spekulieren bestand. Mein Grossvater stimmte auch Montaigne zu, dass die grösste aller Künste sei, recht zu leben, was die Alten durch ihr Leben und weniger durch ihre Schriften dargestellt hätten. Dr.Müller wollte das so nicht gelten lassen, nun war er auch Theologe und daher Theoretiker noch dazu katholischer Priester, der sein Leben seiner Gemeinde und Gott gewidmet hatte, auch fragte er, woher man denn das Leben der Alten kenne, offenbar doch nur aus ihren Schriften.

Einig war man sich aber, dass das richtige Leben nicht Kraftanstrengung, sondern Ausgeglichenheit verlange, dass die Nützlichkeit des Lebens nicht in seiner Länge, sondern in der Art des Gebrauches der jeweiligen Lebensdauer liege oder, wie Seneca sagte, es komme darauf an, wie ehrenhaft man lebte, nicht wie lange.

Senecas Postulat, die Weisheit, die Vernunft solle gebieten, die Fertigkeiten nur dienende Rolle haben und die Leidenschaft möglichst niedergehalten werden, also die Triebstruktur verdrängt werden, hielt mein Grossvater zwar für Priester denkbar, für die Lebenswirklichkeit aber fremd, war sich aber mit Dr.Müller einig, dass der Vorteil der katholischen Kirche die Gewährung der Absolution sei, sofern man seine Sünden, zumindest im Moment der Beichte einsichtig, gestehe.

Mein Grossvater postulierte, dass das höchste Gut ein glückliches Leben sei. Dr.Müller genügte die Ataraxia, die Gemüts – und Seelenruhe der Stoiker oder die Euthymia, der Frohsinn, die Wohlgemutheit von Demokrit nicht - mein Grossvater ergänzte stets noch die Lust der Epikureer als Quelle der Glückseligkeit, die aber immer als Tugend und nicht als reine Sinnenhingabe verstanden wurde. Der Jesuit verwies darauf, dass das irdische Leben im Grunde nichts anderes als Knechtschaft sei. Er stimme Seneca zu, dass es deshalb gelte, sich an seine Lage zu gewöhnen, sowenig als möglich über sie zu klagen und keine Erleichterung, die es etwa biete, unbenutzt zu lassen. Das reiche jedoch nicht. Es gelte auch, das Leben nach dem irdischen Tod in Betracht zu ziehen, an das die Christen glaubten. Es sei sicher richtig, nicht wie die Geschäftsmänner nur in der Gegenwart zu leben und nicht zurückzublicken, obwohl nur die Vergangenheit gewiss, die Gegenwart kurz und die Zukunft zweifelhaft sei. Nur wer sich Musse nehme, seine Zeit der Weisheit widme, führe das wirkliche Leben. Gewiss sei zuzugeben, dass niemand alles haben könne, was er wolle, wohl aber nicht wollen könne, was er nicht habe und so heiteren Sinnes geniessen, was ihm beschert sei .All dies sei jedoch nur formell, es sei nichts über den Lebensinhalt konkret ausgesagt, wie das etwa die zehn Gebote täten.

Mein Grossvater betonte dabei stets, dass er gegen jede kleinkarierte, verklemmte, speissbürgerliche Ethik sei, die ja auch Seneca nicht gemeint habe, der Reichtum nicht verachtete, weil er überflüssig sei, sondern sofern man davon abhängig oder gar kleinlich werde.“

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„Mit Ende des Frühstücks, immer gegen 9 Uhr, wurde meinem Grossvater sein Lodenmantel von einem der Hausmädchen gebracht, den sie zuvor von den auf mit Samt bezogenen Kleiderbügeln in der hinter schweren Samtvorhängen sich befindlichen Garderobe genommen hatte. Ihm wurde der silberne, lange Schuhlöffel gereicht, mit dessen Hilfe er seine bei J.G.Maier in München erstandenen ledernen Strassenschuhe anzog. In der Auffahrt wartete bereits der Chauffeur Kuglmüller. Er hatte den Verschlag eines grossen amerikanischen Cadillacs schon geöffnet, zog seine Chauffeursmütze, grüsste meinen Grossvater, half ihm in den geräumigen Wagen und schloss die Wagentür. Anschliessend grüsste er den >Herrn Doktor<, der des öfteren zu seinen Jesuiten mitgenommen wurde und öffnete ihm die Hintertür. Er stieg selbst ein, hupte zweimal, so dass das Haus wusste, sie sind abgefahren und fuhr über den knarzenden Kies die Hofeinfahrt hinunter am Gärtnerhaus vorbei durch das geöffnete Gartentor auf die Strasse hinaus.

Der Chauffeur Kuglmüller war gross, stämmig mit einem runden, immer leicht geröteten Bauerngesicht. Er hatte ein besonderes Vertrauensverhältnis zu meinem Grossvater, das Verhältnis war nur auf den ersten Blick wie bei Dubslav Stechlin und seinem alten Diener Engelke – Vertrauter ohne Vertraulichkeit. Kuglmüller fuhr stets in einer Chauffeursuniform mit einer grauen Chauffeursmütze mit glänzendem Vorbau aus Plastik. Diese Mütze hatte er während der ganzen Fahrt auf dem Kopf. Er wies dem Chauffeur meiner Grossmutter, mit dem Namen Isidor Mausler, allgemein nur leicht verächtlich Isidor genannt, regelmässig zurecht und demonstrierte an vielen Kleinigkeiten dessen Unfähigkeit. Auch richtete er Isidor bei meinem Grossvater häufig aus, indem er Nachlässigkeiten oder gar Verfehlungen berichtete, aber stets verhinderte, dass dem nachgegangen oder gar Konsequenzen gezogen wurden. Kuglmüller hatte seinen Dienst bei meinem Grossvater bald nach dem Krieg angetreten. Mein Grossvater konnte sich auf seine Verschwiegenheit, vor allem meiner Grossmutter gegenüber verlassen. Kuglmüller chauffierte meinen Grossvater – und das blieb ihm auch nicht verborgen - sowohl zu diversen bezahlten Damen als auch regelmässig, zumindest in den Anfangsjahren seiner Dienstzeit, zu Grossvaters grossen, dauerhaften Liebe, der Mutter seines unehelichen Sohnes, Martha Glauer.

Kuglmüller wahrte meinem Grossvater gegenüber eine männliche Solidarität, die mein Grossvater dadurch förderte, dass er Kuglmüller in fremden Städten in ausgesuchten Bordellen, die er selbst allerdings nie besuchte, dortige Freuden bezahlte. Das gemeinsame Fremdgehen, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau und zu unterschiedlichen Preisen, verband die beiden. Insofern war Kuglmüller vertraulicher Vertrauter.

Wenn Dr.Müller am Morgen auf der Fahrt von Seeberg nach München Fahrgast war, wurde mein Grossvater erst in sein Büro in die Briennerstrasse gebracht, das sich – wie mein Grossvater seinen Gästen gerne erläuterte - schräg gegenüber des von Wedekind im Marquis von Keith erwähnten Hauses Nr.21 befand. Dann fuhr Kuglmüller nach Pullach, um Dr.Müller am Berchmannkolleg, das 1971 in die Kaulbachstrasse umsiedelte und ab diesem Zeitpunkt Hochschule für Philosophie firmierte, abzusetzen. Zurück in der Briennerstrasse stellte er den Wagen in die Hofeinfahrt und wartete auf meinen Grossvater. Dieser hatte inzwischen mit seiner Sekretärin, Frau Gabler, den weiteren Tagesablauf besprochen, insbesondere auch, wen er wo gegebenenfalls zum Mittagessen treffen würde .

Die Variationsbreite war nicht sehr gross. Denn er speiste höchsten einmal die Woche in München, ansonsten fuhr er gegen 13 Uhr nach Seeberg. Dort wurde um 14 Uhr das Mittagessen aufgetischt, das mindesten drei Gänge beinhaltete, eine Suppe, von Kartoffel - über Spargelcreme – bis Brennesselsuppe, ein Hauptgericht, von Kalbshaxe, über Suppenfleisch, Ochsenschwanz, Kalbsbrust, Lammbraten bis zu Curryfleisch in den Varianten mit Kalbs - Rind - und Schweinefleisch, freitags aber immer Fisch, vom heimischen Starnberger See Renke über Seezungen bis zu Hummer, und ein Nachtisch in Form von selbstgemachten Zitroneneis, sogenanntem >Moor im Hemd< oder >Ausgezogenen<.

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9783738022599
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