Читать книгу: «Rosenemil», страница 4

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Die im Russenkostüm lächelt wieder in den Augenwinkeln und machte sich um den Nasenflügel über ihn lustig ... Wenn man der die blaue Schwanenboa ummachte da, dann wäre sie mindestens so schön wie die da in de Equipage.

Aber sie lächelte nur unter dem Sonnenschirm »Na, da können wir uns vielleicht gesehen haben«, sagte sie. »Wenn ich vorbeiging«, setzte sie hinzu.

»Da drüben, wo jetzt Tietz is, war der ›Kaiser Alexander‹. Da war 'n Nußbaum auf 'n Hof. Da gab's Nüsse«, sagte der Kolporteur. »Ick kannte den Portiersjungen, daher weeß ick det.«

Unter der Stadtbahn brauste der Lärm auf wie ein Strudel. Das heißt, jeder Laut drehte sich zehnmal um sich selbst, ehe er das Freie fand, und die Stadtbahn donnerte von oben in alles noch hinein. Die Wagen ballten sich hier, die von allen Seiten kamen, und fanden nicht recht wieder auseinander. Aber dann zog nach einigen bangen Sekunden doch jeder wieder seinen eigenen Weg weiter ... Fern hinten stand gegen die Sonne die mächtige Berolina mit lichtumzogener Kontur auf ihrem Granitsockel und schien alles hier – mit weit ausladender Handbewegung und den gleichen ehernen Zügen wie ein weiblicher Verkehrsschutzmann – alles hier zu dirigieren ... Eine rote, unheimliche Backsteinburg lag drüben – das gewaltige Polizeigebäude, eine steinerne Drohung an alles, was hier durcheinanderwimmelte und aus den Kneipen um die Markthalle schlich.

Ein Mann sah das Mädchen unauffällig und scharf dabei an ... Es war ein gleichgültiger Mann mit einem Stock mit einem Elfenbeinknopf. Es war ein sehr treuherziger und unauffälliger Mann, nur mit ein wenig stechenden Augen ... Man konnte ihn für einen Provinzler halten, der eben, so erstaunt tat er, angekommen war ... Er wollte gar nicht von den Menschen beachtet werden, ihm genügte es durchaus, wenn er auf die Menschen achtete. Er nickte dem Mädchen zu und sah dem Kolporteur interessiert sogar nach. Und sie nickte ihm ebenso unauffällig zu und ging plötzlich etwas schneller ... Endlich hatte sie doch noch nie mit de Sitte was gehabt, und Baumüller war ein anständiger und gerechter Mann, und wenn eine nich grade randalierte, tat er so'n armes Mädchen ja nichts. Aber jedenfalls war dicke Luft ... Hier auf de Straße konnte sie nicht länger bleiben.

»Also kommen Se weiter«, sagte sie, plötzlich ganz außer Atem, »jehn wir zu Aschingern 'rein«, und sie klappte ihren Sonnenschirm zu und warf den Kopf zurück und marschierte mitten durch die Wagen und die Straßenbahnen vor ihm, als ob sie nicht schnell genug auf die breite Glastüre da drüben gelangen könnte, die sich ständig schwang und Menschen ausspie und einschluckte.

Wie sie aber dann saßen ... Es waren viele Spiegel da und Lärm und Biergeruch, Schenkkellner in weißen Jacken und solche hinter den metallblitzenden Theken, auf denen rot und gelb und schwarz, mit Schinken und Krabben und Pumpernickel, und grün, mit Gurkenscheiben und Heringsstückchen (wie Blumen in Beeten), die belegten Knüppelchen gehäuft waren ... Mädchen schossen herum in blau und weiß gerauteten Leinenkleidern, die ständig Teller und Gläser und Messer und Gabeln, die ihren Zweck erfüllt hatten, von den Tischen wieder absammelten, um Platz für neue Teller und neue Gäste und neue Schoppen zu schaffen. Der Ventilator schnurrte dazu. Und wer nicht saß, der stand eben, und wer nicht stand, der ging eben. Und Leute dazu, die ganze Ketten von Bockwürsten und Salzkuchen mit Hügeln von italienischem Salat und Sülzkoteletts, Tartarbeefsteaks und Salzstangen, über die Lambrequins hauchdünne Käsescheiben hingen, in sich einschlangen, und andere, die Teller voller Erbsensuppe, auf denen Speckstücke schwammen, einfach weil es ihnen physikalisch unmöglich gewesen wäre, darin unterzutauchen, auslöffelten und dann die verklebten Schnurrbärte ganz tief in die Bierseidel senkten, ehe sie sie mit den Papierservietten wieder trockenrieben.

Gewiß: man konnte ja auch bestellen ... Aber man bediente sich auch lieber selbst, denn dann sparte man das Trinkgeld. Und wer nichts mehr hatte in seinem Geldbeutel, nun, der aß eben den Brotkorb langsam und nebenher im Gespräch leer und stippte die Stücken so ganz unauffällig dabei in den Klecks Mostrich, der von der Bockwurst und dem Kartoffelsalat her noch auf dem Rande geblieben war.

Rosenemil kannte das und hatte sich fest vorgenommen, ebenso zu machen ... Jedenfalls hatte er hier einen lauschigen Eckplatz, und den würde er halten eine Weile ... Eigentlich war das doch sehr gemütlich ... Nach so'n Tag Rumgelaufe ... wenn er – die Dame war noch einen Augenblick aufgestanden – eine Bockwurst sich drüben kaufte und dann Brötchen aß, so war das nicht zuviel ... Gott, und die Rosen von dem Kaiserin-Augusta-Denkmal hatte er ja noch in der Rocktasche! Die würde er nachher der Dame geben.

Aber da kam sie auch schon, hatte den Schirm unter den Arm geklemmt und balancierte in jeder Hand ... nich einen Finger hatte sie frei, denn an den beiden Zeigefingern hingen wie zwei Kuhglocken kleine runde Schnittgläser mit einem braunen schäumenden Bier ... in jeder Hand hatte sie außerdem je einen Teller mit Erbsensuppe und je einen mit einem rosigen Stück Karbonade. Und sie lächelte und blinzelte ihm zu. Wirklich, sie sah jetzt wunderhübsch, direkt zum Anbeißen sah se aus. Der Kolporteur kriegte keinen kleinen Schreck. Denn das konnte er wirklich nicht bezahlen. Doch im gleichen Augenblick sagte er sich, daß, wenn die da das anbrächte, es ja schon eigentlich bezahlt sein müßte ... Ja, und außerdem lag noch quer über den beiden Unterarmen der russengrünen Dame ein durchfettetes Paket, dem man der Form nach deutlich ansah, daß sein Inhalt in seinem Hauptbestandteil nur ein Napfkuchen aus der Konditoreiabteilung sein konnte. Wenn der es auch nicht allein war.

Also das war ihm nicht lieb. Das wünschte er nicht. Er ließ sich nicht gerne von einer Dame freihalten. Na ja, er müßte es ihr dann wiedergeben, wenn er was hätte.

»Na, jreifen Se ruhig zu«, sagte die Dame im russengrünen Tuchkostüm. »Mir hungert jedenfalls mächtig«, sagte sie.

»Ja, aber das kann ich doch nich«, stotterte der Kolporteur, »doch nich so einfach von Ihnen so annehmen. Das jeht doch nich, meine Dame.«

»Ach Jott, zieren Se sich doch nich«, sagte die Russengrüne, nahm den Hut ab und schüttelte das Haar zurecht, »ich seh jern, wenn's 'nen andern schmeckt ... ein andermal zahlen Sie eben. Ich bin immer for getrennte Kassen.«

Das war nicht wahr. Sie war es durchaus nicht. Sie pflegte sonst ungern für sich und nie für andere zu zahlen. Aber der Mann gefiel ihr nun mal ... wenigstens für heute nachmittag. Und deshalb machte es ihr gerade unbändigen Spaß, für 'n andern zu zahlen. Das jab so'n freies Gefühl. Und er war ein armer Deibel, das sah man ja. Aber wenn man ihn sich so richtig und schick eingekleidet vorstellen wollte ... also da konnte er eenen wirklich gefallen.

Dem Kolporteur war es immer noch nicht klar, wen er eigentlich vor sich hatte ... Wie die aß, so ganz von oben herab mit de spitze Jabel, und jedes Häppchen einzeln zum Munde führte und nich mal in de Sauce stippte, das tut eijentlich nur 'ne Dame, sagte er sich. Und an dem Bier, da nippte sie so in janz kleinen Zügen und blies mit spitzem Mündchen erst den Schaum weg. »Ich heiße nebenbei Lissi Morgen. Aber sagen Se nich ›schöner Morgen heute abend‹. Das hör' ich alle Tage, Se können ruhig Frollein Lissi sagen.«

»Und ich«, sagte der Kolporteur, »heiße nebenbei Emil Lehmann. Aber sagen Se nich ›Lehmanns Kutscher‹. Des hör' ich alle Tage.«

»Da hat sich Ihr Vater aber 'nen seltenen Namen ausgesucht«, sagte die Russengrüne.

»Nee«, sagte der Kolporteur, »des war meine Mutter.«

Die Russengrüne legte ihm ihre behandschuhte Linke auf die seine. Es waren Filethandschuhe, und er spürte jede Masche.

»Des soll ja in den besten Familien vorkommen«, sagte sie freundlich und sachlich. »Ja«, sagte die Russengrüne, »heute machen wir uns einen freien Nachmittag.«

Also, der Kolporteur brauchte gar nichts zu sagen. Das Reden hatte sie übernommen.

»Wo woll'n wir hin? Wir könnten einfach zu Translateur in de Alexanderstraße gehen. Oder in de Prachtsäle zu'n Liliputzirkus in de Nachmittagsvorstellung ...«

»In de Chausseestraße is ne Abnormitätenausstellung«, sagte der Kolporteur.

»Ach nee ... nur ... nur nich, ick bin so jraulich«, sagte die Russengrüne.

»In de Urania jeben se ›Im Bannkreis der Jungfrau‹.«

»Da sind Se doch schon«, meinte die Russengrüne. »Aber woll'n wir ins Kaiserkino gehn, da geben se jetzt gleich zwei Schlager auf einmal: ›Des jestohlene Herz‹ oder ›Vom Fabrikmädchen zur Jräfin‹.« (Des wird nach die »Verstoßene Gräfin« sein, dachte Rosenemil. Aber er sagte das nicht. Was ging das Fräulein Lissi an, was er sonst tat. Hier war er Kavalier.)

»Da im Kaiserkino is ein erstklassiger Erklärer. Neulich war ich da bei so'n Flim«, sie verbesserte sich und lachte, »so'n Film, der hieß ›Maria Stuart‹. Des war sehr sauber, wie er da sagte: ›Nu will Maria Leizester zur Liebe bewegen; aber Leizester hustet ihr was.‹«

So'n Film is auch ganz nett, dachte der Kolporteur. Laut aber sagte er: »Woll'n wir nich doch wo 'rausfahren? Ick bin seit Jahr und Tag nich mehr ...«

»Hier in die Gegend möchte ich aber nich bleiben«, sagte die Russengrüne. »Hier trifft man so leicht ...«, und sie dachte an Baumüller, »Bekannte.«

»Die Jagdgruppen am Großen Stern sind enthüllt, und in Tegel is des große Familienbad eröffnet«, sagte der Kolporteur.

»Des is 'ne Idee«, meinte die Russengrüne. »Jagen tu' ich nie. Aber baden manchmal.« Auf 'n Mund gefallen war sie nicht.

Des einzige is, daß man sich am Körper noch sauber hält, dachte der Kolporteur, laut aber sagte er: »Eijentlich bin ich seit een Jahr nich aus Berlin herausgekommen.« (Ob er ihr jetzt den Zweig mit Monatsrosen geben sollte, den er abgerissen hatte? Aber wie säh' denn das aus, wenn er jetzt plötzlich einen zerknautschten Rosenzweig aus de Rocktasche ziehen würde!)

»Ne Weile bin ich viel nach Friedenau gekommen, da war es auch janz schön grün in de Straßen. Aber wenn man die ganze Woche so herumrennt, denn will man wenigsten mal Sonntag seine Ruhe haben.«

Die Russengrüne lachte ihn an. Nun waren sie schon bald 'ne halbe Stunde zusammen, und der Mann hatte noch gar nichts von ihr gewünscht. Alle andern wollten ihr gleich mit Redensarten besoffen machen. »Wat sind Sie denn?« fragte sie.

»Ick bin Stadtreisender«, sagte der Kolporteur. »Ich kann auch Klavier spielen«, setzte er hinzu, als er sah, daß ihr das nicht imponierte. Denn er hatte gutes Gehör und klimperte, ohne es je gelernt zu haben, ja ohne eine Note zu kennen, alles auf solcher alten Drahtkommode sich allein zusammen, wenn er mal in einer Kneipe eine fand, Gassenhauer und was ihm gerade einfiel. »Aber damit is jetzt nischt zu machen. Da sind zu ville. Heute nehmen se nur eenen Klavierspieler, der auch vorträgt. Und dazu bin ich zu schüchtern. Und was sind Sie, Fräulein Lissi?«

Die Polenliese lachte ihn wieder aus dem Schlitz ihrer großen, geschweiften Augen an. »So fragt man Leute aus!« sagte sie. »Ick war mal 'ne Weile 'ne Hausangestellte und bei Kinder, aber dazu war ich nich kräftig genug.« Das war nicht richtig. Sie wäre gern geblieben. Aber der Kriminalschutzmann, der sich als ihr Onkel aus der Uckermark ausgab, hatte sich so geschickt nach ihr erkundigt, daß die Madame sie, »der Kinder wegen«, wie sie sagte (aber es war mehr ihres Mannes wegen, der, was man ihm, wenn man sie sah, nicht übelnehmen konnte, hinter jeder Schürze her war), daß de Madame sie also wieder an die Luft gesetzt hatte. »Und denn sollte ich auch mal Plättmädchen werden, aber dazu hab' ich mir nicht geeignet. Und denn sollte ich wegen meiner Figur ans Theater. Aber mir da nu jeden Abend vor alle Leute, die ick janich kenne, halbnackt hinstellen, des is mir zu jewöhnlich. Und denn bin ich 'ne Weile in 'ne Nähstube gegangen. Aber das ewige Sitzen, hat Dokter Levy gemeint, bekommt mir auch nicht. Ich war schon mit sechzehn Jahre so groß wie heute. Nu suche ich mir wieder was. Jemand, ein guter Bekannter, will mir als Probiermamsell anstellen. Größe sechsundvierzig, Gelbstern. Des wird jut bezahlt. Des brauchen se. Ich wohne ja bei meine Eltern.«

Also das letzte stimmte nun wirklich nicht. Von den Eltern war sie über drei Jahre fort. Aber sonst hatte die Russengrüne, außer daß sie sich was suchte, sich kaum etwas ausgedacht; wie sie das manchmal tat, wenn sie sich Vorteile davon versprach. Sie konnte sogar eine Pfarrerstochter aus Wensicke bei Prenzlau sein. Und sie konnte auf einem Schloß geboren sein, wenn die Leute durchaus darauf bestanden, so etwas hören zu wollen. Aber hier war ja das nicht nötig. Und da sie ein sehr schönes Menschenkind und ein sehr apartes Menschenkind mit ihrem feingeschnittenen Kopf einer Wüstenkatze und den braunen, gebänderten Achataugen war und den Männern ihre Schönheit tausend Dinge versprach, die ihr Geist nie halten konnte, so fanden sich immer wieder Studenten, Referendare, Kaufleute, ja selbst Primaner, die sie aus dem Sumpf, wie sie sagten, herausziehen wollten; ja sogar, die sich bereit fanden, wie der Bruder des verblichenen Gurkengroßhändlers aus Lübbenau, sie vom Fleck weg zu heiraten, ohne sich um ihr Vorleben zu kümmern. Der kleine Benjamin, der jetzt im Grauen Kloster ins Abitur steigen wollte, hatte ihr sogar schon zu diesem Behuf mit viel Schwung und rollenden R...s den ganzen »Gott und die Balustrade« oder wie das hieß vordeklamiert und sich als der Gott gefühlt, der »mit feurigen Armen verlorene Kinder« ... Also wirklich: sie brachten sich rein um um sie, die Kerle, wie sie gern sagte. Aber zum Schluß war die Russengrüne viel zu vernünftig, um ein Leben aufzugeben, bei dem sie sich durchaus nicht schlecht fühlte, und es gegen eines einzutauschen, von dem sie durchaus nicht vorher wissen konnte, wie es sich anlassen konnte. Und selbst wenn es sich gut anließ, wie es sich weiterentwickeln würde.

»Also wat sitzen wir hier noch? Jezahlt haben wir« (das war wirklich Pluralis majestatis), »gegessen haben wir ...« (Das war kein symbolischer Plural: der Kolporteur fühlte sich sehr satt und sehr wohl und war jetzt ganz auf die Gegenwart eingestellt. Er hatte alles weggedacht: die Mappe, das Schlafgeld, den schäbigen Cheviotanzug und die unergründliche Ebbe seines Geldbeutels.) »Heute machen wir mal blau, jetzt fahren wir 'raus ins Grüne. Nichwa?«

Und dabei setzte sich Fräulein Lissi, indem sie herüber nach dem Spiegel sah, der das Lokal ins Endlose verzerrte und vervielfältigte, vierzigmal zugleich ihre Kiepe mit der geleimten Pleureuse auf und nahm vierzigmal ihr Kuchenpaket, das in der Hitze des Lokals, trotz des schnurrenden Ventilators, immer stärker durchzufetten begann, wie ein Kind auf dem Arm.

Ein einbeiniger Blumenverkäufer mit dem Gesicht einer kranken Bulldogge (doch das war pathologisch bedingt), dessen Spezialität Pärchen waren (und er hatte dafür einen sechsten Sinn, ihnen anzuriechen, in welchem Grad der Verliebtheit sie sich befanden: die, die sich zu kurze Zeit kennen, kaufen nichts, und die sich zu lange schon kennen, erst recht nichts!), war durchs Gewühl herangehumpelt, daß der Stelzfuß mit dem Gummipfropfen aufs Pflaster patschte, drängte sich an sie und hielt ihnen seinen Strauß direkt unter die Nase.

»Schöne langstielige Rosen«, rief er mit einer Stimme, die aus einer verrosteten Dachrinne kam, »reizende Kinder Floras! Man een Fuffziger des janze Dutzend! Koofen Se doch eenen armen, kinderreichen Krüppel was ab!«

Wirklich, es waren nette Rosen, mattrötliche mit gelbem Schimmer oder mattgelbe mit rötlichem Schimmer. Sie hatten blanke, gezähnte Blätter, und sie sperrten wie junge, hungrige Vögel mit dicken Köpfen, die noch nicht fest auf ihren Hälsen sitzen, ihre Rosenschnäbel auf.

Und noch ehe die Russengrüne es verhindern konnte, denn sie hatte mit dem Sonnenschirmchen, mit dem Pompadour und dem Kuchenpaket keine Hand frei, hatte der Kolporteur – denn er liebte Blumen sehr, und außerdem spielte er gerne den Galanten – der kranken Bulldogge das Fünfgroschenstück, das er vorher zu seinem Staunen bei sich entdeckt hatte, zugeworfen mit einer Geste, als ob er so was beiläufig alle Tage tat, und den Strauß mit ausladender Bewegung, denn er war gern Kavalier, der Russengrünen auf das Kuchenpaket gelegt.

Der Russengrünen war es nicht ungewohnt, daß man ihr Blumen schenkte. Ja, es gab sogar Lokale, in denen sie von Blumenverkäufern Prozente bekam, wenn sie sich einen größeren Strauß als sonst aussuchte, aber das hier freute sie, freute sie aufrichtig, freute sie unbändig, machte sie einfach glücklich. Wie nett das von dem armen Deibel war. Sie lachte über das ganze Gesicht und steckte die Nase tief in den schlanken Busch da hinein, so daß sich die elastischen Stiele auseinanderbogen.

»Bleiben Sie mal eenen Augenblick hier stehen«, rief sie und lachte. Und dann tänzelte sie übern Damm in einen Laden hinein, aus dessen Schaufenstern, als ob sie bei einem Erdbeben durcheinandergefallen wären, verrutschte Berge von Oberhemden, Haufen von Wollunterzeugen und von verknautschten Krawatten zwischen Ketten von Kragen und Halstüchern und Strümpfen und Sportmützen und Seelenwärmern und Nachthemden in Höhen und Tiefen, in Schroffen und Kratern, wie auf dem Relief einer Mondkarte, fremdartig und wirr herüberleuchteten. Und kam sehr schnell wieder heraus und winkte dem Kolporteur geheimnisvoll, ihr in den Hausgang zu folgen.

»So«, sagt sie, »nu machen Se mal ganz fest beide Augen zu«, und mit einem Ruck hat sie ihm die geleimte Krawatte – es war ein Wrack einer solchen – unter dem Gummikragen losgenestelt und ihm eine neue dafür, eine marineblaue mit weißen Punkten – aber man sah ihr gar nicht an, daß sie nur eine geleimte Krawatte war, so schön und modern war ihr Knoten und Faltenwurf – über den Knopf gehangen und das Schildchen unter den Kragen geschoben.

»Wenn Sie mit einer Dame als Kavalier ausjehn woll'n«, sagte belehrend die Russengrüne, »so müssen Se ooch ne schöne Krawatte haben. Die Krawatte is die Hauptsache beim Herrn. Da sehn die Mädchen immer zuerst druff.« Und damit warf sie die alte Krawatte, die durchgeschwitzt und ganz aus der Fasson geraten war, in den Winkel neben der Haustür, wo's am dunkelsten war, und machte ihren Pompadour auf und ließ den Kolporteur in den Spiegel sehen, der da eingelassen war. »Marineblau steht Ihnen famos«, sagte sie sachlich, »und Punkte sind immer dezent und werden nie unmodern. Aber nu jehn wir; sonst ist der Nachmittag 'rum. Und die schönen Rosen! Sie wissen janich, wie ich mir damit freue. Wirklich: Sie sind mein Rosenemil. Also ich kann nich anders, ich muß immer die Leute so 'ne komischen Spitznamen anhängen. Dafür bin ich in meine janze Jegend berühmt. Eijentlich sind Se ein janz hübscher Mann. Sie müßten bloß mehr auf Ihnen acht jeben. Haben Sie denn keen Mächen, des des tut?«

Die Russengrüne – sie standen immer noch im Hausgang: ein paar Laufjungen mit Paketen und ein Rollkutscher, den Kanthaken in der Lederschürze, waren schon an ihnen erstaunt vorbeigegangen – sah durch die Türspalte. »Au wei«, rief sie, »los, los! Da kommt ja de Straßenbahn dahinten schon angeklingelt.« Und sie zog Rosenemil, der glücklich und etwas verwirrt war und sehr wenig bisher gesprochen hatte – er machte seinem Beruf als redegewandter Herr gar keine Ehre: das war ja wirklich eine zu süße Kanaille, wie die mit ihm Schlitten fuhr! –, zog Rosenemil hinter sich her, wartete gar nicht, bis der Wagen hielt, sondern sprang auf den fahrenden Anhänger und kletterte, den Schirm, die Blumen und das Kuchenpaket schwenkend, so lange auf dem Trittbrett draußen entlang, bis sie für sich und Rosenemil die beiden Plätze in Fahrtrichtung entdeckt hatte, die ihr zu passen schienen.

Es war ein schöner Tag, ein warmer Tag und ein blauer Tag. Mit Seidenpapierwölkchen ganz hoch im Licht. Und da es Sonnabend nachmittag war, so lag schon etwas vom Sonntag in der Luft. Und auf so einem offenen Anhänger wird man so frisch durchgepustet und aufgefrischt. Die Leute im offenen Anhänger machen immer fröhlichere und unternehmendere Gesichter als jene, die drin im ersten Wagen sitzen, wenn auch das die vornehmeren und meist auch die älteren sind. Und an einem solchen Junitag des Jahres sind die Straßen, die mit Linden bepflanzt sind und Rasenstreifen haben, auf denen die Hunde scharren, doppelt grün und flirrend im Licht und vom Licht. Und die, die keine Bäume und keinen, auch nicht den winzigsten Grashalm zwischen den Pflastersteinen haben, sind doppelt lang und kahl und wie mit einem Schwerthieb in zwei Hälften gespalten. Ormudz und Ahriman, die Sonnenseite und die Schattenseite. Die alten Nebenstraßen jedoch, in die man hineinsieht wie in Schluchten und Klammen, sind grau und glatt und haben noch gar keine Balkons, nur Fenster und Fenster und große braune Haustore und ganz wenig Läden, die sich auch kaum hervortun. Nur ein paar blau gestrichene Destillen blühen wie Astern an den Ecken. Die Menschen tröpfeln unter dem Hauch von Armut und Stumpfsinn, der über sie hinweht, langsam durch die Straßen hin wie Luftperlen in einer Ölflasche.

Aber die Hauptstraßen sind natürlich anders, und gerade heute sind sie anders, weil schon die Radfahrer mit krummem Buckel über die Lenkstange liegen und mächtig treten, um herauszukommen aus der Stadt. Da sind die Häuser bunt und rot und gelb und grün, haben Türme und Erker und lange Reihen von Balkons (die wie Badenäpfchen an Kanarienbauern draußen hängen), mit Betunien, die, jede für sich, in grünen Blumenkästen stehen und warten, daß sie größer werden.

»So'n Balkon möcht' ich auch haben«, sagt Rosenemil und blickt zu seinem russengrünen Visavis, die mit ihren großen, etwas geschlitzten Augen sehr vergnügt und ganz entspannt – nun brauchte sie sich mal gar nicht zu verstellen – vor sich hin lächelt. »Un haben Sie gesehen, Frollein? Jetzt, jetzt pflanzen se sone neue Linde, die hat graue Unterseiten an de Blätter. Des habe ich jern, wenn da der Wind 'reinpustet un se umdreht.«

Langsam löste sich so die Stadt auf. Es kamen zwar keine Felder, aber schon Bauplätze und Lagerplätze und Holzplätze mit Schuppen, und die Häuser wurden kleiner und puppiger, altmodischer, mit schrägen Dächern, geschnitzten Balkons und Jalousien. Und an einem Gasthof stand »Ausspannung«. Krippen, aus denen Pferde Häcksel niesten, waren davor, und grüne Tische und Stühle standen unter Bäumen, in denen Scharen von Spatzen randalierten. Sie waren von den nahen Laubenkolonien gerade verjagt und warteten darauf, dort wieder einzufallen, um den Samen aus der Erde zu kratzen und die letzten Schoten aus den Hülsen zu picken, ehe sie zu hart und für sie ungenießbar wurden.

Und dann steigen sie aus, und bald kommt solch ein Holztor aus rohen Birkenstämmen, und da steht drüber »Zweihundert Meter Seeterrasse«. Und neben dem Holztor stehen andere Schilder: »Kaffeeküche« ... Früher stand: »Der alte Brauch wird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen.« Aber seitdem das Lokal vornehmer geworden ist, für einfache und für feine Leute, sozusagen, wie die Stadtbahn zweite und dritte Klasse führt (erste Klasse kommt hier doch nicht hin!), und eine Weinabteilung mit Tischlampen, Korbsesseln und rotgewürfelten Tischtüchern hat und Kellnern in weißen Jacken, ist so etwas zu vulgär. Und der selbstgekochte Kaffee darf deshalb nur noch an ungedeckten Tischen getrunken werden. Und »Vergnügungspark« steht dran und »Turn- und Spielplätze«. Und durch die Stämme der Rüstern dringt eine merkwürdige Helligkeit, ein Leuchten, das von unten her kommt. Und das tut es auch, denn es ist der weite, batistene Spiegel des Wassers, der die Lichtfülle zurückwirft, die Schatten aufhellt und noch einmal von unten her alles anleuchtet. Eigentlich sind wenig Leute da. Die Stühle schlagen sich um die Gäste. Nur ein Damenkegelklub, der seine Vereinskasse umschüttet, hat eine Zahl von Tischen zusammengeschoben, die unter den Lasten der Kaffeekannen und Napfkuchen ebenso knacken wie die kleinen weißen Gartenstühle unter den Lasten wuchtiger und breiter Kehrseiten. Er erschüttert gerade die Luft, in der sonst nur Finken trillern, mit einem »Gut Holz! Gut Holz! Gut Holz!« für die Kegelkönigin Frau Schmettert.

Aus dem Tanzsaal, der mit grünen Girlanden und Papierrosen durchzogen, zwischen denen es von gelben und roten Lampions pendelt, hämmert ein einsamer Klavierspieler, weil man ihn bezahlt, auf einem restlos verstimmten Klavier wie ein betrunkener Musikautomat die »Aufforderung zum Tanz«, so daß das Bierseidel auf dem Pianino überschwappert. Aber er findet keine Gegenliebe damit. Denn es kommt keiner, der tanzen will.

Der Russengrünen zuckt es zwar in den Füßen, wie sie vorübergeht, und sie taktiert etwas auf dem Kiesweg. Aber sie beherrscht sich noch mal. »Woll'n wir nich doch mal einen tanzen?« sagt sie zu Rosenemil. »Aber eigentlich haben wir dafor nachher noch Zeit.«

Aber dann, wie sie zehn Schritte weiter ist, hält sie es doch nicht aus. »Nur einmal 'rum«, sagt sie und zerrt Rosenemil zurück. »Ich tanze für mein Leben gern.« Und wie der Klavierspieler sie eintreten sieht, geht er sofort zu einem flotten, schmalzigen Walzer über, damit ihm janich die Fische wieder aus dem Netz witschen.

Rosenemil ist glücklich. Er hat noch nie mit so einer feinen Dame oder zumindest mit keiner, die so gut aussieht, oder wenigstens mit einer, die so vornehm eingekleid't ist, getanzt, und man braucht auch niemanden auszuweichen, weil auch niemand sonst da ist. Den ganzen Saal haben sie für sich. Nur die grünen Bäume gucken durch die Fenster zu. Und man schleift so nett über den blanken und abgetanzten Holzboden.

Der Kolporteur denkt zu führen, aber es ist gar nicht so: er wird geführt. Immerhin so, daß er es gar nicht merkt. Sie sind von einer Größe, und sie passen so mollig ineinander. Sie schmiegt sich ganz weich an ihn und hält dabei doch Distanz. Walzt eliminierte Erotik. Nur angedeutet (von der andern hatte sie täglich genug!) und ohne Zerflossenheit. Trotzdem heute erst Sonnabend, war es doch ihr Sonntag. Der kleine Benjamin, denn er hatte es mit der Literatur, hätte zwar sicher jesagt: »Du denkst zu schieben, und du wirst geschoben.« Aber damit hätte der kleine Benjamin doch unrecht gehabt.

Der Klavierspieler hielt an. Er wollte seinen Groschen einkassieren. Denn jetzt war er noch zugleich der Tanzmeester. Das war noch Privatverdienst. Nachher, wenn Herr Kubenait selbst hier erst herrschte, war er wieder der Kuli. Und wie Rosenemil ihn aus der Tasche zog, denn wie hätte es ausgesehen, wenn sie ihn bezahlt hätte – so was schickt sich nicht! –, da fühlt er neben seinem verknautschten Geldbeutelchen die kaum minder zerknickte Dolde mit den Monatsrosen in der Tasche und überreicht sie mit einer eleganten Verbeugung der Russengrünen.

»Mensch«, sagt die und macht große Augen, »Sie sind wohl Anna Rothe, das Blumenmedium? Haben Sie des aus de Luft jezaubert?«

Aber da hämmert der betrunkene, menschgewordene Klavierautomat wieder los, und sie liegen sich von neuem wieder in den Armen. Doch da der seinen Groschen bekommen hat, sieht er gar nicht ein, warum er sich noch anstrengen soll – Nachher wird einem das Bier noch ganz warm! –, und er hört ebenso ohne Warnung, wie er losgeholzt hat, mitten im Takt und unvermittelt wieder auf und langt mit der Hand nach dem Seidel.

»Sie tanzen 'ne ganz nette Sohle schon, Rosenemil«, sagt belobigend die Russengrüne im Herausgehen. Und da sie vom Tanzen her schon untergefaßt waren, denn er mußte doch die Dame zum Platz führen, den sie nicht hatte, so blieben sie es mal vorerst, während sie so zwischen den Tischreihen hindurchgingen.

Hinten dreht sich ein armseliges Karussell mit Kutschen und Schwänen und weißen Elefanten, dank eines alten Braunen, der von seinem Elend nichts mehr sieht, da er auf beiden Augen blind ist. Aber der Turnplatz lockt doch den Kolporteur mehr. Da ist ein Rundlauf, an dem ein paar halbwüchsige Mädchen, da sie den Boden verloren haben, wie Luftschlangen sich drehen, Beine und Röcke durcheinanderwirbeln und dazu belustigt und halb angstvoll kreischen. Und ein richtiges Reck mit einer dünnen Eisenstange ist da und sogar ein richtiger Barren auch.

Der Kolporteur spuckt sich in die Hände und reibt die Handflächen gegeneinander und stellt sich in Haltung – noch ehe die Russengrüne es verhindern kann – unter die Reckstange, wirft die Kreissäge in den Sand und holt tief Atem, ehe er in Stellung geht. Brust 'raus und die Knie durchgedrückt, wie beim Schauturnen, wo nach Punkten gewertet wird. Und dann springt er (es ist ja doch 'ne kritische Sekunde) an, schmeißt die Beine vor und schlägt den Körper zurück. Also das jeht doch wie jeölt noch. Ein Ruck: schon ist er oben mit der Kippe. Und nich mal gemogelt hat er oder mit de Beine gemuckt. Obergriff geht. Und nu kommt Zwiegriff. Wie hingelegt einfach. Und selbst mit Untergriff! Er wechselt, ohne abzugehen, elegant mit Umschwung, und er drückt die Zehenspitzen nach abwärts. In Bernau damals hatte er keine schneidigere Haltung. Er war leichter geworden. Das merkte er. Na ja, natürlich bei des Gelaufe und des schlechte Essen. Aber des is ja jerade jut fors Jerätturnen. Fors Stemmen natürlich ist ein schwerer Körper geeigneter. Der arbeitet besser mit. Ich jehe wieder in een Verein. Und eine Sturzwelle schließt er an, darin war er immer groß gewesen. Die Russengrüne schreit, wie sie ihn da hoch über der Erde, auf steifen Armen und die Beine fast in den Baumwipfeln, stehen und herumschießen sieht, entsetzt auf. Aber da geht er schon in Sitz und schließt mit einem freien Knieabschwung. »So etwas imponiert immer denen, die vom Turnen nichts verstehen«, ruft er. »Und dabei kann doch ... kann gar nichts dabei passieren. Denn der Körper des Menschen ist ebenso den Gesetzen der Zentrifugalkraft unterworfen wie andere Körper auch und muß denn einfach auf die Beine kommen. Von de Stange. Und wenn er mehr Schwung nimmt, wieder oben in den Sitz. Das jeht janz von selber, Fräulein Lissi. Des können Sie auch.«

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