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Das ist die eine Seite der Sache, die ich so ausführlich besprochen habe. Ich wollte einmal Front gegen die Phrase machen, mit der der gesunde Menschenverstand der Eltern durch vielschreibende Erziehungspäpste verwirrt wird. Der andre Grund für meine Weitschweifigkeit ergibt sich von selbst. Der Verlauf der gichtischen Erkrankungen ist ein typisches Beispiel für sogenannte Naturheilungen. An ihnen kann jeder, nicht bloß der Arzt, lernen, wie behandelt werden soll. Die Aufgaben liegen zutage. Zunächst kommt es darauf an, die Ablagerungen zu verhindern, wenn sie aber schon da sind, sie aus dem Gelenk herauszuschaffen und schließlich den Körper ganz von Schlackenstoffen zu befreien. Das erste Ziel ist kaum zu erreichen, da die Fehler der Kleidung und Ernährung meist schon im frühesten Alter begangen werden. Immerhin ließe sich manches darüber sagen, und es ist ja bekannt, daß die Diätvorschriften eine große Rolle in der ärztlichen Behandlung dieser Leiden spielen, eine allzu große; denn nicht alles, was säuft, bekommt Gicht, und nicht alles, was Gicht bekommt, säuft. Und mit dem Verbot gewisser Fleischsorten ist auch noch nicht viel getan. Da lohnt sich das Hochlagern der Füße und die Sorge für das Schuhwerk besser. Auf die Mittel und Wege, die Verbrennungsprozesse so anzuregen, daß möglichst wenig Reste übrigbleiben und die Asche rasch hinausbefördert wird, werde ich noch oft zu sprechen kommen.

Die wichtigste der drei Aufgaben – sie sind alle wichtig – aber die wichtigste ist die, die erkrankten Gelenke wieder frei beweglich zu machen. Wenn man nun bedenkt, daß die beliebteste Behandlung von Gelenkentzündungen der Gipsverband oder irgend etwas ähnliches ist, dann möchte man fast die Geduld verlieren. Fast, man gewöhnt sich als Arzt an vieles. Das Ruhigstellen des Gelenks auf längere Zeit ist oft – man kann fast sagen – ein Verbrechen. Ab und zu hat es ja Sinn; bei bestimmten Erkrankungen – etwa tuberkulösen – ist es sogar notwendig. Meist aber ist es falsch. Sind Ablagerungen in den Gelenken, so können sie nie und nimmer durch Ruhe beseitigt werden, sie können auch nie und nimmer durch Trinkkuren aufgelöst werden, auch nicht, wenn man dem Objekt der Mißhandlung sämtliche Wässer der Welt durch die Nieren jagt, sie können nur durch rücksichtsloses, unter Umständen brutales Bewegen der Gelenke nach allen Richtungen, vor allem nach den schmerzhaften, zerrieben, abgebrochen, zermalmt werden. Drehen, Biegen, Strecken selbst beim größten Schmerz, selbst bei der höchsten Entzündung, das ist erstrebenswert. Vielleicht muß man einen Tag warten, vielleicht für Stunden das Gelenk feststellen, aber um das Bewegen kommt man nicht herum. Und man vergesse nicht, auch die gesunden Gelenke zu bewegen, sonst hat man auf einmal bei der Überschwemmung des Körpers mit abgelagerten Schlackenstoffen die schönste Entzündung in einem bisher gesunden Gelenk.

Gelenke müssen gebraucht werden, das ist die Hauptsache. Unsre Zivilisation, die sich Kultur nennt, im Grunde aber nur der Faulheit der Menschen Vorschub leistet, hat eine ganze Reihe von notwendigen Gelenkübungen aus dem täglichen Leben verbannt; sie müssen wieder absichtlich in unsere Gewohnheiten eingefügt werden. Ich möchte an einigen Beispielen klarmachen, was ich meine. Da ist der Stuhl, gewiß ein sehr bequemes Möbel. Aber er hat eine zu große Anziehungskraft, der Mensch bleibt darauf kleben, er versitzt sein Leben. Man sollte alles, was sich im Liegen oder Umhergehn tun läßt, auch so ausführen, etwa den Unterricht möglichst ins Freie legen und im Wandeln, peripatetisch erteilen. Die Alten taten es vielfach. Sie aßen auch liegend, und wir täten gut, ihnen darin nachzuahmen. Die Gewohnheiten unterbrechen, das ist eins der vornehmsten Heilmittel.

Der Mensch ist in gewissem Sinne das Produkt seines Lebens. Seine Gewohnheiten machen ihn krank. Und wie kann sich irgendwer rühmen, frei zu sein, wenn er der Sklave seiner Gewohnheiten ist? Da sind die guten Wege, die elektrischen Bahnen, die Eisenbahnen. Warum soll der Mensch noch steile Pfade bergauf und bergab klettern, wenn er das gleiche Ziel auf gebahnter Chaussee gleichsam spazierenstehend oder gar im Wagen sitzend erreichen kann? Warum soll er den Graben überspringen, wenn ein Steg da ist, vorsichtig über das Moor sich tasten, wenn ein Fahrdamm gebaut ist? Warum soll er Treppen steigen, wenn in jedem Hause ein Lift fährt? Warum vom Brunnen Wasser schleppen, wenn im Nebenraum die Wasserleitung liegt? Warum hungern und dursten und seine Zähne an harten Rinden abmühn, wenn er Nahrung vollauf hat und der Bäcker ihm morgens weiches, weißes Brot in die Wohnung schickt? Aber der Mensch braucht die Anstrengung, wenn er nicht bei lebendigem Leibe verfaulen will. Er ist wie ein Apfel, der auf dem Stroh zum Reifen liegt, er muß gewendet werden, damit nicht immer nur eine Stelle gedrückt wird.

Das Schlimmste jedoch ist die Einseitigkeit der Arbeit, die uns die Kultur gebracht hat. Man suche es doch zu verstehn, was es heißt, daß der Mensch seine Finger und Knie stets gebeugt hält, das muß zur Versteifung führen, es geht gar nicht anders, es führt auch zu schlimmerem, wie ich schon früher erwähnte. Und jener russische Arzt, der seinen Patienten täglich eine bestimmte Anzahl Gebete zu den Heiligen verschrieb, war nicht dumm; denn die griechische Kirche befiehlt, daß der Betende sich bei bestimmten Worten auf den Boden wirft und mit der Stirn die Erde berührt. Das ist ein Mittel, mehr wert als alle -ine, -ale und -ole, mit denen uns die Chemie beglückt.

Einen wichtigen Punkt in der Behandlung von Knochen- und Gelenkleiden der Beine, der oft übersehn wird, möchte ich noch erwähnen, das ist die Frage nach dem Körpergewicht des Kranken. Eine mehr oder minder starke Gewichtsabnahme ist unter Umständen für die Genesung entscheidend. Niemandem wird es einfallen, mit einem vollbeladnen Wagen weiter zu fahren, wenn eins der Räder unsicher wird. Er wirft die Ladung des Wagens erst einmal heraus, ehe er irgend etwas mit dem Rade anfängt. Leider gibt es nur wenige, die auf eine so einfache Sache auch beim Menschen achten. Und doch ist es klar, daß man ein krankes Bein nicht ebenso belasten kann, wie ein gesundes. Man bleibt ja auch nicht auf einem Stuhl sitzen, dessen Bein wackelt. Ist es da so schwer zu begreifen, daß ein verletztes Bein leichter seine alte Gebrauchsfähigkeit erlangt, wenn es zehn Pfund weniger zu tragen hat, ja daß es vielleicht gar nicht gebraucht werden kann, ehe nicht diese zehn Pfund – oder fünfzig, je nachdem – weggehungert sind? Man stelle sich nur einmal zehn Pfund Butter vor, man schaue sich die Schwerfälligkeit einer Frau kurz vor der Entbindung an, oder man hänge sich als gesunder Mensch einen Sack von zehn Pfund auf den Buckel. Man wird den Unterschied schon merken.

Was tut aber der gebildete Mensch, wenn er mit gebrochnem Bein ein paar Wochen lang im Bett liegt? Er frißt sich voll. Schon aus Langerweile tut er es. Und dann sind ja die lieben Verwandten und Freunde da, die allerhand Leckerbissen mit bringen, oder zur Gesellschaft mit dem armen Bettlägrigen einen feuchtfröhlichen Bierskat spielen. Daß ein Beinkranker mit schlankem Körper ins Bett kommt und als plumper Koloß mit Bauch wieder aufsteht, ist nicht selten. Und dann wundert er sich noch, daß er nicht sofort wieder gehn kann. Seid nicht Diener des Bauchs, heißt es in der Bibel.

Auch gegen das Stocktragen der Lahmen muß ich mich verwahren. Manchmal ist er unentbehrlich, aber dann ist er eben ein notwendiges Übel. Meist verlangsamt er die Heilung und gehört ins Feuer, direkt ins Feuer, wie der Schnürleib auch, sonst greift der Kranke doch wieder danach. Und dann tut dem Manne auch die symbolische Handlung, in der gleichsam die Erkrankung mit verbrannt wird, seelisch gut. Er macht sich mit frischem Mut und guter Zuversicht ans Gehnlernen, und was nur langsam fortschritt, wird nun von Stunde zu Stunde besser.

Ein krankes Bein will geübt sein. Nur müssen die Übungen von kurzer Dauer sein und häufig wiederholt werden. Zehnmal fünf Minuten gehn ist für den Lahmen nützlicher, als einmal eine Stunde. Es kommt nicht darauf an, das Bein zu ermüden, sondern es durch Übung zu kräftigen.

Muskeln

Welchen Wert die Übung für den Menschen hat, dafür ist das Musterbeispiel die Muskulatur. Schon die Schuljungen prahlen mit ihrem Armmuskeln, sprechen stolz von ihrem kräftigen Bizeps, obwohl sie nicht die geringste Vorstellung davon haben, was dieser Name: der Zweiköpfige bedeutet, und was überhaupt ein Muskel ist. Wenn einer weiß, daß das Fleisch, das er kaut, Muskel ist, so hat er schon Kenntnisse, die über dem Durchschnitt liegen. Vielen ist der Kalbsbrägen oder die Kalbsmilch, Nieren und Leber auch Fleisch. Sie schlingen es herunter, dazu ist es da. Daß jemand von der Existenz zweier verschiedner Muskelarten, den quergestreiften und den glatten Muskeln, gehört hat, ist selten. Und selbst unter den Fachgelehrten sind es nur wenige, die sich immer gegenwärtig halten, es nicht bloß gelernt, sondern auch begriffen haben und festhalten, daß der Muskel keine in sich geschlossne Einheit ist, sondern eine Mannigfaches umfassende Vielheit, deren Teile wiederum wie alles im Körper zugleich selbständig und abhängig sind, ein Symbol des Ganzen, ein Mikrokosmos.

Es genügt nicht, Namen und Lage jedes Muskels zu kennen, im Moment zu entscheiden, welchen Muskel man beim Betasten, beim Operieren vor sich hat, obwohl das allein schon schwierig genug sein kann, es genügt auch nicht die Vorstellung, daß man es im Muskel mit einem Gefüge vieler, vieler Muskelzellen zu tun hat, die mitsamt die bestimmte Gestalt des einzelnen Muskels bilden. Denn außer den Muskelzellen gibt es noch recht viele andre Dinge im Muskel. Wer einen Muskel faßt und daran zerrt, der zerrt gleichzeitig an einer Reihe von Blutgefäßen, die die Nahrung bringen und die im engsten Zusammenhang mit dem großen Kanalsystem des Körpers stehn, er zerrt an Nerven, die im Muskel enden und ihn regieren und die wiederum ihre unlösbare Verbindung mit dem Zentralnervensystem haben, deren Berührung im Augenblick Wirkungen in allen Teilen des Körpers hervorrufen, er zerrt an dem Knochen und seiner Haut, an denen der Muskel festgewachsen ist, vielleicht auch an der Menschenhaut selbst, an den Sehnen, mit denen er sich festklammert, an den feinen Hüllen, mit denen er umgeben ist. Und es sind nicht nur Muskelzellen, die bei dem Gebrauch des Muskels, bei der Bewegung ihre Gestalt verändern, sondern gleichzeitig nehmen die Zwischenräume und feinsten Kanäle zwischen den einzelnen Zellen andre Formen an. In ihnen fließt der Ernährungssaft, wenn er aus den Blutgefäßen ausgetreten ist, und wird auf wunderbare Weise, von der wir so gut wie nichts wissen, durch die Bewegung des Muskels vorwärtsgetrieben.

Denn, um das gleich hier zu erwähnen, nicht das Blut ist es, das die Zelle ernährt. Niemals und nirgends gelangt auch nur ein Tropfen Blut bis zur einzelnen Körperzelle. Vielmehr muß der Lebenssaft, der in uns kreist und durch Essen, Trinken und Atmen gespeist wird, erst das Blutgefäß verlassen, ehe er den Bedarf der Zelle decken kann. Man achte wohl darauf, so bewundernswert der Aufbau unsrer anatomischen Kenntnisse ist, letzten Endes wissen wir doch nur wenig, und nirgends zeigt sich das deutlicher als darin, daß wir von dem Schicksal dieser wahren Ernährungsflüssigkeit, von ihrer Bewegung, dem Strombett, in dem sie läuft, den Kräften, die sie treiben, kaum die geringste Vorstellung haben. Ich komme auf diese Dinge später zu sprechen, muß aber hier wieder betonen, daß wir selbst in der Anatomie, der bestgepflegten Abteilung der Medizin, noch nicht in erhebliche Tiefen gedrungen sind. Von einer medizinischen Wissenschaft spricht man wohl, aber man sollte das Wort nur gebrauchen, wo es am Platz ist. Wenn man die Wissenschaft als eine Tätigkeit betrachtet, die Wissen schafft, so läßt sich damit auf ärztlichem Gebiet arbeiten. Wissenschaft ist ein Streben, ein Arbeiten nach Wissen hin. Wer aber darunter den Besitz von Wissen versteht, die Summe von Kenntnissen, über die wir im Augenblick verfügen, der wird sehr bald sich davon überzeugen müssen, daß sich damit in der Krankenbehandlung nur wenig ausrichten läßt, und wenn er weiter denkt, begreift er auch, daß es eine solche Wissenschaft überhaupt nicht gibt, weder in der Medizin noch sonstwo, sondern daß das alte Wort gilt und immer gelten wird: unser Wissen ist Stückwerk.

Die nächstliegende Aufgabe der Muskulatur im Leben des Organismus ist wohl allgemein bekannt. Sie führt die Bewegungen aus. Jeder Muskel hat die Fähigkeit sich zusammenzuziehn, zu verkürzen und dann wieder sich zu seiner gewöhnlichen Länge auszudehnen. Durch diese Verkürzung bringt er bewegliche Teile, meist Knochen einander näher oder er verengt einen Hohlraum, etwa den Darm, den er kreisförmig umgibt. Seine gewöhnliche Form, wenigstens die der Knochenmuskeln, ist die der langgestreckten Spindel. Die beiden Enden der Spindel sind die Sehnen, mit denen sich der Muskel wie mit Haken an den Knochen festklammert. Sie sind glänzend weiß im Gegensatz zu dem roten Muskelfleisch, haben ein festes Gewebe und nehmen an der Verkürzung des Muskels nicht teil. Der einzelne Muskel setzt sich, wie man beim ersten Blick sieht, aus spindelförmigen Muskelbündeln, diese wieder aus den Muskel- oder Fleischfasern zusammen, die jeder kennt, da er frühzeitig von den sorglichen Eltern darauf hingewiesen wird, das Fleisch quer zur Faserrichtung zu schneiden. Die letzten Bestandteile, die Muskelzellen, denen die Fähigkeit innewohnt, sich zusammenzuziehen und damit den Muskel zu verkürzen, zeigen entsprechend dem ganzen Organ die ähnliche Spindelgestalt, dicker und kürzer bei der Zusammenziehung, schlanker in der Ruhe.

Nun unterscheidet man, wie ich schon vorhin erwähnte, quergestreifte und glatte Muskeln, je nachdem die Muskelzellen eine unter dem Mikroskop sichtbare Querstreifung haben oder nicht. Diese Unterscheidung hat insofern eine große Bedeutung, als die quergestreiften Muskeln unserm Willen unterworfen sind, von uns willkürlich bewegt werden können, während die glatte Muskulatur ohne unser Zutun, ohne unsern Willen und unser Bewußtsein sich zusammenzieht. Dementsprechend werden auch beide Arten der Muskulatur von zwei verschiednen Nervensystemen beherrscht. Daraus, daß die quergestreiften Muskeln unsrer Willkür unterworfen sind, ergibt sich schon, daß sie überall dort zu finden sind, wo wir mit Überlegung Bewegungen ausführen, am Skelett, während die glatte Muskulatur, die unwillkürlich, automatisch arbeitet, in den Eingeweiden, beispielsweise im Darm, vor allem in den Blutgefäßen tätig ist.

Wenn man von Bewegungen des Menschen spricht, so pflegt man dabei nur an die Bewegung der willkürlichen Muskeln zu denken. Daß der Mensch sich im Innern fortwährend bewegt, daß dort ununterbrochen Muskelzusammenziehungen stattfinden, die gewaltige Arbeit leisten, das macht man sich selten klar. Und doch sollte der Herzschlag, das Pulsieren der Adern uns leicht darauf hinweisen, daß es Bewegungen gibt, die nimmer ruhen. Dessen ab und zu zu gedenken, würde dem Menschen wohl nützlich sein. Ihm würde auf einmal klar werden, wie verhältnismäßig wenig Verstand und Wille im menschlichen Leben zu bedeuten haben, wie ein großer Teil alles menschlichen Erlebens unter dem Bewußtsein, gleichsam unterirdisch vor sich geht.

Denn wer merkt etwas von dem großen wunderbaren Pumpwerk, das in jeder Sekunde dem Körper, dem Verstande neue Nahrung gibt. Höchstens die Angst oder die Liebe läßt uns empfinden, daß wir ein Herz haben. Und doch ist es aus mit dem Menschen, wenn dieses Pumpwerk nicht mehr schafft. Wir trinken das Getränk, kauen unser Brot – wenn wir es tun, die meisten tun es nicht –, und damit ist es für uns zu Ende, bis wir die Reste am andern Ende des Darms wieder herauspressen. Daß die Nahrung nicht von selbst durch den Bauch rutscht, sondern durch ununterbrochne Muskelarbeit der Darmwände Ruck für Ruck bergauf, bergab getrieben wird, das beachten wir nicht. Daß, wenn wir den Blick vom Buch erheben und zu einem lieben Gesicht aufsehen, in unsern Augen Muskeln arbeiten ohne unser Zutun, ohne daß wir das geringste dazu oder davon tun, dessen sind wir uns nicht bewußt. Wir sprechen stolz von unsrer Selbstbeherrschung und können doch nicht einmal den kleinsten Muskel in einem Blutgefäß zur Ruhe bringen, ja wir nehmen es nicht einmal wahr, können es gar nicht wahrnehmen, daß sich unsre Pupille mit jedem Blick des Auges verändert. Wir nennen uns Herren der Erde, aber unsre Herrschaft endet schon am eignen Bauch. Wie viele bringen tagtäglich Stunden damit zu, ihre trägen Eingeweide aufzupeitschen oder die allzu geschäftigen zur Ruhe zu bringen, wie vielen Herrn der Erde verbittert es das Leben, daß sie eben nicht Herrn des Bauches sind. Wir Ärzte kennen sie, die Unterleibler mit ihren Qualen.

Nicht einmal die eigne Muskulatur regieren wir, geschweige denn unsre Gedanken. Drängt sie zurück, soviel ihr wollt, drinnen tief wirken sie weiter und brechen hervor, sobald sie unbewacht sind. Und in ihrer Gefangenschaft, im Kerker des Gehirns gestalten sie in Jahren, vielleicht Jahrzehnten das Innere des Menschen, seinen Charakter um. Es ist eine wunderbare Sache um die Willensfreiheit des Menschen. Denkt man darüber nach, so ist es fast, um allen Mut zu verlieren. Es bleibt ja nichts mehr übrig, was der Mensch aus eigner Kraft tun könnte. Aber das ist eben das Gesetz im Menschen, daß er einen solchen Gedanken nie ausdenken kann, ebensowenig wie er mit Fliegenaugen sehen kann. Es ist eine Funktion des Menschen, ein Organ, wenn man so will, ein Teil seiner selbst, daß er stets handelt, als ob er Willensfreiheit habe, daß er in der Tätigkeit an seinen Willen glauben muß, an dem er in der Betrachtung zweifelt. Der Streit über den Willen ist müßig. Die beiden Begriffe Willensfreiheit und Notwendigkeit wohnen gleichsam auf verschiednen Sternen. Der Mensch schlüpft eher aus seiner Haut, als daß er an seinem freien Willen zweifelt. Die Natur gab ihm den Zwang, an seine Freiheit zu glauben, obwohl diese Freiheit nicht vorhanden ist. Dieser Glaube ist ein Lebensorgan, so gut wie der Arm oder das Auge.

Trotzdem sollte der Mensch ab und zu seiner Kleinheit gedenken. Er sollte sich klarmachen, daß die wesentlichen Gedanken, die, auf denen sein Leben beruht, nicht von ihm, sondern von seinen Zellen gedacht werden, die wesentlichen Entschlüsse von den Zellen gefaßt werden, etwa von der Muskelzelle im Schlunde, die den Bissen hinunterzwingt, an dem der Mensch sonst erstickte. Und auch die willkürlichen Bewegungen, die von den quergestreiften Muskeln ausgeführt werden, sollte er ein wenig betrachten; dann wird er gewahr werden, daß auch sie nicht viel mit dem Willen zu tun haben. Man denke nur an die Atmung. Die besorgen die Muskeln ganz von selbst ohne unsern leitenden Verstand. Wir können einmal schneller, einmal langsamer atmen, aber atmen müssen wir, wir tun es auch im Schlaf.

Welch ein Wunder ist doch der Mensch! – Bedenke, wie fein seine Bewegungen sind, wie seltsam diese Maschine des Muskels arbeitet, die im sanften Berühren liebkost und mit brutaler Kraft zerstört, das eine so leicht, so spielend wie das andere, ganz als ob es sich von selbst verstände, daß eine Maschine im Augenblick mit hundert verschiedenen Kraftäußerungen arbeitet. Verzeihung für den Ausdruck Maschine. Ist denn irgendwer dumm genug, den Muskel eine Maschine zu nennen, den Menschen mit Menschenwerk zu vergleichen? Ach nein, es gibt keine Maschine und wird nie eine geben, die auch nur eine Minute das aushielte, was der Mensch sich jahrelang ohne Schaden zumutet, und es ist Geschwätz, von der Unvollkommenheit des Menschen zu reden.

Der Mensch ist ein Wunder, ein nie auszudenkendes Wunder.

Ich sprach vorhin von dem engen Zusammenhang der Muskeln mit dem Gesamtorganismus. Nun, ein jeder kennt diesen Zusammenhang ja aus eigner Erfahrung, durch die Ermüdung. Bei längerem Gebrauch ermüdet nicht nur der Muskel, sondern der ganze Mensch. Freilich sollte man dabei nicht vergessen, daß gewisse Muskelgruppen niemals Ruhepausen haben und nur ausnahmsweise ermüden: das Herz, die Atemmuskeln, die Gefäße. Von andern, wie den Darmmuskeln wissen wir nicht recht, wie lange de arbeiten, können aber wohl annehmen, daß sie ihre Tätigkeit oft unterbrechen. Jedenfalls bleibt die Tatsache der Ermüdung durch Anstrengung der Muskulatur bestehen und gibt uns den deutlichsten Beweis für unmittelbare Verbindungen dieser Organe mit dem Befinden des Menschen selbst; das gibt einen Anhaltspunkt für das Verständnis der Gymnastik und der Massage und für die Erfolge, die mit ihnen zu erzielen sind.

Von der Gymnastik, mag sie nun in Freiübungen oder Widerstandsbewegungen, mit oder ohne Apparat bestehen, werden ja zunächst die Muskeln betroffen. Auf die Wirkung, die durch Übung und ausgiebigen Gebrauch der Gelenke, durch Dehnen der Nerven und Blutgefäße dabei ausgeübt wird, gehe ich hier nicht ein. Die Muskeln arbeiten stärker bei der Gymnastik, und die nächste Folge davon ist, daß sie wachsen, kräftiger werden. Jeder weiß das vom Turnen her. Jeder weiß auch, daß aus diesem Grunde bei Muskelschwund, wie er unter langdauernden Verbänden eintritt, Gymnastik getrieben wird. Weiterhin bringt die Muskelarbeit eine Anregung für den Blutkreislauf. Ein arbeitendes Organ zieht größre Blutmengen an sich, und es ist selbstverständlich, daß man durch Bewegungen der Gliedmaßen einen Einfluß auf die Verhältnisse des Bauchs und des Schädels gewinnen kann. Stockungen im Kreislauf, Blutüberfüllungen einzelner Gegenden lassen sich so beseitigen. Dazu kommt, daß Herz und Atmung sich der Anstrengung sofort anpassen, ergiebiger arbeiten und raschere Verbrennungsprozesse im Körper anregen.

Bis zu einem gewissen Grade kann man sich nämlich die Lebensvorgänge im Körper durch das Bild des Feuers veranschaulichen. Die Nahrung stellt dann das Heizmaterial, die Kohle dar, die im Körper zum Zweck bestimmter Kraftleistungen verbrannt wird. Nun geht, wie jeder weiß, beim Verbrennen die Kohle nicht einfach unter, sie wird vielmehr in Gase, Rauch und Asche verwandelt, und wer nicht dafür sorgt, daß ein genügender Durchzug im Ofen vorhanden ist und daß von Zeit zu Zeit Schlacken und Asche entfernt werden, dem wird das Feuer ausgehen. Jeder weiß auch, daß ein helles Feuer alles Brennbare rascher und gründlicher verbrennt als eine schwelende Glut. Ähnlich liegen die Verhältnisse im Körper. Auch da bleiben bei den chemischen Vorgängen, bei dem Verbrennen Schlackenstoffe zurück, um so mehr, je schwächer die chemischen Verwandlungen vor sich gehen und je langsamer die Aschenbestandteile entfernt werden. Das hat eine große Bedeutung für das Leben, da alle Reste der Verbrennung Gifte für den Körper sind. Zeitweises Anfachen der Glut und hie und da ein schnelleres Wegspülen der Gifte sind geboten, und beides besorgt die stärkere Herz- und Atemtätigkeit bei der Gymnastik.

Tief atmen, das ist das A und das O aller Krankenbehandlung. Es ist um so wichtiger, weil der moderne Mensch selten durch das Leben gezwungen wird, wirklich zu atmen. Meist begnügt man sich damit, Luft zu schnappen, wie der bezeichnende Ausdruck lautet, wenn einer mal die dumpfe Stube verläßt. Deshalb ist auch das erste, was bei der Gymnastik beachtet werden muß, ein tiefes, regelmäßiges Atmen. Das ist gar nicht so leicht. Der Mensch ist, wenn er sich nicht anders eingeübt hat, geneigt, den Atem anzuhalten, sobald er etwas Unbekanntes, Ungewohntes ausführen soll, und er tut bei einer einfachen Kniebeuge so, als ob er eine athletische Vorstellung mit Zentnergewichten geben wollte, er wird blaurot im Gesicht. Man vergesse das Atmen nicht! Ohne Übung der Atmung ist jede Gymnastik sinnlos.

Man hat nun alle möglichen wunderbaren und wunderlichen Apparate erfunden, sie mit griechischen Namen gestempelt und sie – mit Profit – an das Publikum gebracht. Solch ein Apparat kann unter Umständen nützlich sein, im allgemeinen sollte man aber daran festhalten, daß die Übung ohne Werkzeug besser ist, schon deshalb, weil sie sich in jedem Moment anwenden läßt. Meist ist der Apparat nur ein Freibrief für die Faulheit. Er wird aufgehängt, hat Geld gekostet, und weil er Geld gekostet hat, glaubt man, er muß helfen, auch wenn er nicht benutzt wird. Die Menschen glauben ja immer noch, daß man mit Geld Gesundheit kaufen könne, vom Arzt, in der Apotheke oder beim Pfuscher. So seltsam sind die Menschen.

Aber selbst wenn der Apparat morgens regelmäßig benutzt wird, wobei dann der Kranke ein großartiges Gefühl seiner eignen Vollkommenheit hat, weil er eine Viertelstunde lang für seinen Körper anders als mit Essen und Schlafen tätig war, selbst dann ist das kein Ersatz für die Gymnastik des Lebens. Das ist das Ziel, die Muskelübung in das Leben einzufügen, zur Lebensgewohnheit zu machen, etwa beim Gehen die Beine und Arme tüchtig zu regen, ein paarmal täglich hundert Schritte so zu machen, daß man jedesmal das Bein hoch bis an den Bauch bringt und niederstampft, daß man dabei die Arme ausstößt wie in der Fechtstunde und wie eine Lokomotive faucht. Man braucht dabei keinen Straßenauflauf hervorzurufen, jeder findet dazu eine unbeobachtete Minute. Braucht eure Körper; was nicht gebraucht wird, fault.

Auch der Sport hat seine Vorteile, solange er als Spiel betrieben wird und nicht mit dem albernen Ernst des Fachmanns: das Schwimmen, Reiten, Fechten, Raufen. Vor allem aber sollte man singen. Es kommt gar nicht in erster Linie darauf an, daß es schön klingt. Das schöne Singen kann man ruhig den Konzertleuten überlassen. Aber das Maul soll man aufsperren und tüchtig losbrüllen, wenn man eben nicht anders kann. Freilich, gut wäre es, wenn wieder mehr Singlust und Singkraft unter uns käme. Das Singen ist ja nicht nur eine gesunde Leibesübung, obwohl man das nicht unterschätzen sollte. Die Musik ist das vornehmste Erziehungsmittel der Welt, denn sie lehrt Rhythmus, und alles Leben besteht im Rhythmus. Musik lernen ist besser als lesen lernen. Die Alten wußten das, und ihre Erziehung war im wesentlichen auf Musik, auf Rhythmus eingestellt. Man achte nur einmal darauf, was der Rhythmus alles tut, etwa bei einem Trupp Soldaten, die müde daherschleichen, bis die Trommel wirbelt und die Pfeife gellt; dann streckt sich der Mensch und alles wird ihm leicht. Oder man sehe die Leute die Lasten heben, wie sie in regelmäßigen Takten arbeiten und den Rhythmus laut hinausschreien, wie Pflasterer auf der Straße ihre Holzblöcke in rhythmischem Takt niederfallenlassen, wie Pferd und Reiter im Rhythmus dahinfliegen, wie die Maschinen rhythmisch geregelt sind und selbst im Sprechen der Rhythmus durchklingt. Auch die Gymnastik wird, vom Rhythmus geregelt, doppelt wirksam. Das ist der Grund, warum gemeinsames Turnen so viel besser fördert als einsames.

Ich erwähnte vorhin, daß durch die Zusammenziehung der Muskeln, durch die Gestaltveränderung der Muskelzellen sich die Zwischenräume, in denen die Ernährungsflüssigkeit sich befindet, ändern. Wie weit dadurch die Strömung der Säfte, die sich außerhalb des Blutkreislaufs befinden und deren Bewegung und Beschaffenheit für das Leben der Zelle den Ausschlag geben, wie weit ihre Strömung beeinflußt wird, läßt sich vorläufig nicht ermessen. Aber ganz abgesehen davon, leuchtet es ein, daß bei der Gestaltveränderung der Muskelzelle und der kleinen Teiche und Kanäle, die sie umgeben, jedesmal die Oberflächen der Zelle in andere Beziehungen zu der sie umspülenden Flüssigkeit treten. Das bedingt eine Erleichterung der Nahrungsaufnahme, des Heizmaterials für die arbeitende Zelle und eine raschere Abgabe aller Verbrennungsreste, die sich in dem tätigen Muskel mehr als anderswo anhäufen. Man sieht da deutlich das Genie der Natur vor Augen. Es bedeutet, auf technische Verhältnisse übertragen, eine Dampfmaschine, die irgendeinen Apparat treibt und sich gleichzeitig selber heizt und lüftet. Bei dem Stande unsrer Kenntnisse, die nur das gröbste des Mechanismus im Menschen erfassen, läßt sich die Vollkommenheit der Einrichtungen, das Genie der Natur nur ahnen. Es ist aber die große Freude der Wissenschaft, daß sie Schritt für Schritt neue Wunder entdeckt, und das ist wohl auch der Grund, warum gerade die Beschäftigung mit der Wissenschaft fromm macht.

Man mißverstehe den Ausdruck nicht. Ich meine damit keine Kirchengläubigkeit. Die liegt nicht in dem Worte fromm. Wie könnte sonst das Lied vom frommen Gott sprechen? Er glaubt doch kaum an die Satzungen der Kirche. Oder vom frommen Landsknecht? Fromm bedeutet stark, zuversichtlich. Und allerdings, stark und zuversichtlich stimmt die Betrachtung der Welt, die Erforschung des Menschen. Zum Forschen gehört der Glaube an sich und an die Welt, ein unzerstörbarer Optimismus oder besser gesagt ein Enthusiasmus. Und dieser Enthusiasmus, dieses sich in Gott fühlen, lebt vor allem im echten Arzt, mag er nun vom Staat oder von eignen Gnaden approbiert sein. Es muß gehn und es wird gehn, das ist der Gedanke, mit dem der Arzt jedem Kranken gegenübertritt, den er festhält bis zum letzten Augenblick, und es geht auch immer, selbst beim Sterben geht es. Er sieht ihn kommen und ist nicht Narr genug, dem starken Tod Trotz zu bieten. Aber Sterben ist schwer. Und erst wenn es ans Sterben geht, wird der Arzt der große Helfer. Da braucht er die Frommheit, die Zuversicht, den Enthusiasmus.

Gewaltsamer und unter Umständen nützlicher als die Gymnastik, namentlich wenn ein Muskel schon zu schwach geworden ist, um selbständig zu arbeiten, sind die Eingriffe, die unter dem Namen Massage zusammengefaßt werden. Man macht viel Wesens von ihrer Technik, gibt lange und kostspielige Unterrichtskurse dafür, und das mag ja wohl Berechtigung haben. Aber gerade die Muskelmassage ist leicht zu begreifen, vorausgesetzt, daß man nicht allzu gelehrt an die Sache herangeht. Man muß wissen, was man erreichen kann und will. Daß der Muskel sich beim mechanischen Reiz, etwa beim Schlag, zusammenzieht, wissen schon die Schulbuben, die sich ihren famosen Bizeps durch gegenseitiges Draufhauen stärken. Neben dem Schlag, der den Muskel ähnlich wie der elektrische Strom zur Tätigkeit bringt, kommen Kneten und Dehnen in Betracht. Das Kneten preßt die Flüssigkeiten aus den Zwischenräumen heraus, es macht ohne jeden Zweifel die Ernährungssäfte rascher strömen, während das Dehnen in erster Linie die in dem Muskel verlaufenden Nerven und Blutgefäße trifft.

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