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Zur weiteren Verfolgung dieses Gedankens ist es hilfreich, zwischen dem Bewusstsein von mir selbst als körperliche Ganzheit und dem Verständnis meines inneren Wesens als mentale Einheit zu unterscheiden.

Henry James schreibt über eines seiner frühen Werke: «Ich denke über … das infrage kommende Meisterwerk … als Werk einer völlig anderen Person als mir selbst … ein naher … Verwandter, sagen wir, vielleicht ein entfernter Cousin.» James zweifelt nicht daran, als Mensch Henry James der Autor jenes Buches zu sein. Es ist aber nicht dieselbe Person, dasselbe «Ich», das dieses Buch verfasst hat.

Wohl jeder ist mit diesem Gefühl in der einen oder anderen Weise vertraut. Es begegnet uns vor allem dann, wenn sich die Umstände inneren Fortbestehens geändert haben, unabhängig davon, wie sich die Umstände verhalten, die uns als gesamte Person betreffen. Die jeweilige religiöse Überzeugung eines Menschen tut hierbei nichts zur Sache. Petrarca, Proust, Parfit und tausend andere geben uns ein lebhaftes Zeugnis dieses Eindrucks. Ich setze deshalb die Gültigkeit dieses Phänomens als gegeben voraus und möchte hiermit eine weitere Variable zur Beschreibung des Selbst-Verständnisses einführen: die Unterscheidung zwischen «vorübergehendem» und «dauerhaftem» Selbst-Erleben. (Ich habe auch die Termini «episodisch» und «diachronisch» verwendet.) Dauerhaftes Selbst-Erleben beschreibt im Wesentlichen das Gefühl, dass das «Selbst» schon in (fernerer) Vergangenheit existiert hat und auch in (fernerer) Zukunft existieren wird – also etwas ist, das eine Langzeit-Kontinuität besitzt, etwas, das über einen langen Zeitraum besteht, vielleicht das gesamte Leben hindurch. Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Menschen sich als «Dauerhafte» empfinden und dass viele, die sich als «dauerhaft» erleben, auch narrativ sind, d.h. ihr Leben als Lebensgeschichte auffassen.

Erlebt man sich dagegen als vorübergehend, als Vorübergehende/r, so hat das eigene «Selbst» in der (ferneren) Vergangenheit noch nicht existiert und wird auch in der (ferneren) Zukunft nicht mehr bestehen. Dabei ist man sich sehr wohl dessen bewusst, als Mensch in seiner Gesamtheit eine Langzeit-Kontinuität zu besitzen.

Die Kategorien vorübergehend/dauerhaft (bzw. episodisch/diachronisch) und narrativ/nicht-narrativ sind sehr unterschiedlicher Natur, stehen aber ganz offensichtlich in Bezug zueinander. Menschen, die sich als «Vorübergehende» empfinden, sehen ihr Leben meist nicht als Lebensgeschichte.

«Vorübergehend» (episodisch) und «dauerhaft» (diachronisch) sind die jeweiligen Extreme menschlichen Zeitempfindens. Im Leben der meisten Menschen sind sie nicht unbedingt in Reinform vorzufinden, sondern bestimmen das Empfinden eines jeden nur bis zu einem gewissen Grad. Personen, die sich von ihrer Grundstruktur her als «episodisch» begreifen, können sich durchaus mit einzelnen emotional aufgeladenen Begebenheiten aus ihrer Vergangenheit verbunden fühlen – im Sinne von «das ist mir selbst widerfahren» (z.B. peinliche Situationen). Gleiches gilt für Vermutungen über die Zukunft, dass etwas antizipiert wird, was dem «Ich» geschehen wird (z.B. der Tod). Umgekehrt können Personen, die sich als überwiegend diachronisch, eben dauerhaft bezeichnen, eine lebhafte Erinnerung an Vergangenes haben, ohne sich noch mit diesen Erinnerungen persönlich-emotional verbunden zu fühlen. Viele unterschiedliche Faktoren können hier zu einem individuellen Wandel in beide Richtungen des Spektrums beitragen. Die Tendenz unseres persönlichen Empfindens in der Zeit wird allerdings genetisch bedingt sein. Wir finden hier gleichsam eine grundlegende «Variable zur individuellen Unterscheidung» vor. Verschiedene Kulturen begünstigen sicherlich eine bestimmte Lebenswahrnehmung. Unser individuelles Erleben, in seiner Bandbreite oszillierend zwischen episodisch (vorübergehend) und diachronisch (dauerhaft) sowie narrativ und nicht-narrativ, ist meiner Meinung nach jedoch psychologisch begründet und kulturübergreifend auf der ganzen Welt anzutreffen.

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Diachronische (Dauerhafte) und Episodische (Vorübergehende) missverstehen einander nur allzu leicht. Diachronisch empfindenden Menschen mag die episodische Lebenswahrnehmung unterkühlt, leer und defizitär erscheinen, obwohl sie genauso emotional artikuliert, tiefgründig und sensibel sein kann wie eine dauerhafte. Gleichermaßen entfalten sich in ihr Freundschaft, Liebe und Loyalität. Doch in ihrem ethischen und emotionalen Charakter unterscheiden sich beide Lebensformen tiefgreifend. Man begeht allerdings einen schwerwiegenden Fehler, wenn man der episodischen Art Vitalität, Engagement, Humanität, Moral oder menschliche Erfüllung abspricht. (Wozu leider so manch ein Diachronischer neigt.) Andererseits laufen viele Episodische Gefahr, die diachronische Lebensweise als eingeschränkt, blockiert, repetitiv, selbstbezogen und nicht authentisch zu verurteilen.

Episodische Menschen sind scheinbar stärker im gegenwärtigen Augenblick verankert, was nicht heißen soll, dass nicht auch diachronische ganz im Hier und Jetzt zu leben vermögen. Genauso wenig lässt sich behaupten, dass episodisch lebende Menschen keine Verantwortung für ihre eigene Vergangenheit trügen oder nicht aus ihr lernen könnten. Informationen aus und Verbindlichkeiten gegenüber der Vergangenheit sind lediglich in beiden Lebensarten von unterschiedlichem Gehalt und ziehen jeweils andere Konsequenzen nach sich.

Episodisch Veranlagte müssen sich des Häufigeren den Vorwurf gefallen lassen, ihr Umgang mit der Vergangenheit sei in hohem Maße dysfunktional. Worauf man die Antwort geben kann, dass die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig und präsent sein kann, ohne als Vergangenheit fortzuleben – präsent und lebendig, insofern sie die Gegenwart erst gebildet und zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist. Man kann sich das am Beispiel eines Musikers verdeutlichen, dessen heutige Virtuosität das Ergebnis zahlreicher Übungsstunden in der Vergangenheit ist, ohne dass er sich dieser direkt zu erinnern braucht. Dies lässt sich auf die ethische Entwicklung des Menschen übertragen. Nimmt man Rilkes Betrachtungen zu Dichtung und Erinnerung, so lässt sich sogar ein gewisser Vorteil der episodischen Einstellung zur Vergangenheit gegenüber der diachronischen feststellen. «Um eines Verses willen … muss man … viele Erinnerungen haben … Und es genügt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat … Denn die Erinnerungen selbst sind es nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst.»

Anhand ihrer literarischen oder philosophischen Werke lassen sich nicht wenige Autorinnen und Autoren eindeutig als episodisch veranlagt bestimmen. Um nur einige zu nennen: Michel de Montaigne, Earl of Shaftesbury, Laurence Sterne, Coleridge, Stendhal, Hazlitt, Ford Madox Ford, Virginia Woolf, Jorge Luis Borges, Fernando Pessoa, Iris Murdoch (eine stark episodische Persönlichkeit mit ausgeprägt narrativer Natur), Freddie Ayer, Bob Dylan, Proust (trotz all seiner lebhaften Erinnerungen, die vielleicht gerade durch seinen episodischen Charakter inspiriert sind) und ebenfalls Emily Dickinson. Diachronische Naturen lassen sich nicht so leicht anhand ihrer Werke ausmachen, vielleicht, weil es sich hier um die allseits akzeptierte Norm handelt. Dazu zählen sicher Platon, Augustinus, Heidegger, Wordsworth, Dostojewski, Joseph Conrad, Graham Greene sowie alle Verfechter des Narrativen in der aktuellen ethisch-psychologischen Debatte. Bei meinen Freunden finde ich es ausgesprochen einfach, zu erkennen, welcher Mentalität sie zuneigen. Viele von ihnen sind diachronisch, im Gegensatz zu meinen Eltern – beide eindeutig episodisch.

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Angesichts der Tatsache, dass die diachronische (dauerhafte) Wahrnehmung weitgehend der Norm entspricht und daher vergleichsweise gut verstanden wird, möchte ich etwas mehr zum Verständnis der episodischen (vorübergehenden) beitragen. Da ich mich zu den eher episodischen Naturen zähle, nehme ich mich selbst als Beispiel. Wie jeder Mensch habe ich eine Vergangenheit und verfüge über eine beachtliche Menge an faktischem Wissen darüber. Auch erinnere ich einige meiner früheren Erlebnisse «von innen heraus», um philosophisch zu sprechen. (Ich erinnere mich nicht nur daran, dass die Begebenheiten stattgefunden haben, sondern auch daran, wie sie sich damals anfühlten.) Und doch verstehe ich mein Leben nicht als Lebensgeschichte, nicht einmal in Form von unstrukturierten Episoden. Ich habe weder ein gesteigertes oder spezielles Interesse an meiner Vergangenheit (siehe Otto Frisch, S. 278) noch an meiner persönlichen Zukunft.

Woher dieser Mangel an Interesse rührt, erkläre ich folgendermaßen: Natürlich bin ich mir bewusst, dass es sich um die Vergangenheit und Zukunft des Menschen Galen Strawson handelt, aber nicht um die Vergangenheit oder Zukunft meines «Selbst», wenn ich mich als solches betrachte. Ich habe kein signifikantes Gespür dafür, dass das «Ich», welches sich gerade mit dieser Fragestellung beschäftigt, in der Vergangenheit existiert hat. Hierbei handelt es sich nicht um ein Versagen des Gefühls, sondern um das Erkennen der Tatsache, wer ich bin, wer derjenige ist, der gerade über sich nachdenkt.

An dieser Stelle möchte ich die Bezeichnung «Ich*» einführen, um das Ich zu kennzeichnen, das sich als «Selbst» empfindet, als innere geistige Präsenz im Unterschied zum Ich, der Person Galen Strawson als menschliches Wesen. Zu diesem «Ich*» zählen eine Reihe verwandter Formen wie «mich*», «mein*», «du*», «man selbst*», «sich selbst*» usw. Sie alle beziehen sich auf das innere, mentale «Selbst». Ob dieses innere, mentale «Selbst» wirklich existiert, tut nichts zur Sache, denn es geht um das Empfinden eines solchen mentalen «Ich». Auch wenn es nicht existieren sollte, existiert aber die Empfindung.

Meine weiter zurückliegende Vergangenheit ist also nicht «mir*» widerfahren. Was resultiert dann daraus? Sicher nicht, dass ich keinerlei autobiografische Erinnerungen an diese vergangenen Erlebnisse habe. Diese habe ich sehr wohl und sie sind selbstverständlich die Erfahrungen des Menschen, der ich bin. Und doch ist es nicht dasselbe, als wenn ich empfände, dass «ich*» sie gehabt hätte, oder besser gesagt, hatte. Um noch einmal zusammenzufassen: Es sind die Erlebnisse, die Galen Strawson hatte, aber nicht «ich selbst*».

Einwand: Wenn ich eine vergangene Begebenheit «von innen heraus» erinnere, muss sie zwangsläufig als etwas erlebt werden, was «mir selbst*» widerfahren ist. Antwort: Auch wenn dieser Einwand auf den ersten Blick plausibel erscheint, ist er falsch. Eine Begebenheit kann zwar «von innen heraus» erinnert werden, und doch heißt das nicht, dass das «Ich*» selbst auch das Subjekt der erinnerten Erfahrung ist.

Beispielsweise erinnere ich mich «von innen heraus» daran, wie es war, aus dem Ruderboot gefallen zu sein, also visuell (das Wasser umschließt mich usw.), kinästhetisch usw. Nicht wie in einem Film, in dem man als Dritter von außen zuschaut, wie jemand ins Wasser fällt. Und doch leitet sich daraus nicht das Gefühl ab, dass das, was passiert ist, «mir selbst*» widerfahren ist, dem Wesen, als das ich mich jetzt gerade verstehe, wenn ich über mich als «Selbst» nachdenke. Nicht einmal, wenn die Erinnerung emotional aufgeladen ist, folgt daraus notwendigerweise dieses Gefühl.

Aus 1. «Die Erinnerung hat in emotionaler Hinsicht den Charakter eines ‹von innen heraus›-Erlebens» folgt also nicht automatisch 2. «Die Erinnerung wird als etwas erfahren, das ‹mir selbst*› widerfahren ist.» Für viele Menschen scheint dies häufig oder meistens zuzutreffen, es stimmt aber nicht mit den Tatsachen meines persönlichen Erlebens überein.

Ich bin mir vollkommen bewusst, dass meine Vergangenheit die meinige im Sinne eines menschlichen Wesens ist und dass sie relevant für mein heutiges «Ich*» ist, einschließlich der emotionalen und moralischen Aspekte. Ich denke, dass ich ein normales Verständnis von meinen, Galen Strawsons, Verpflichtungen besitze, die ich anderen gegenüber habe. Gleichzeitig habe ich kein Gespür dafür, dass ich als «Ich*» in der Vergangenheit existiert habe, sondern betrachte es als selbstverständlich, dass es «mich*» im metaphysischen Sinne noch nicht gab.

Was meine (rein praktische) Sorge um die Zukunft betrifft, denke ich, dass sie sich im Rahmen der normalen menschlichen Bandbreite bewegt, wenn auch am unteren Ende. Sie ist vor allem biologisch begründet, was bedeutet, dass ich sie als seltsam autonomes, rein körperliches Phänomen empfinde. Ich kann eine solche Sorge tief in den Eingeweiden verspüren, während mir gleichzeitig die Gewissheit abgeht, dass «Ich*» in der Zukunft da sein werde.

Sie mögen dies als ziemlich inkohärenten Standpunkt betrachten, und doch handelt es sich um mein unmittelbares persönliches Erleben, das ich hier phänomenologisch korrekt beschrieben habe.

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So viel lässt sich in Kürze zur diachronischen und zur episodischen Form des Erlebens sagen. Kommen wir nun zum erzählerischen, narrativen Aspekt. Was bedeutet es, von Natur aus «narrativ» zu sein? Muss man sich, um narrativ zu sein, auch notwendigerweise als diachronischer, fortdauernder Mensch empfinden? (Diachronisch, episodisch und narrativ gebrauche ich hier selbstverständlich in ihrem psychologischen Sinne.)

Eine klare Stellungnahme zur psychologisch-narrativen These findet man in der Figur des Roquentin in Sartres Roman Der Ekel:

«… ein Mann ist immer ein Geschichtenerzähler, er lebt, umgeben von seinen und den Geschichten anderer, durch sie hindurch sieht er alles, was ihm zustößt. Und er versucht sein Leben so zu leben, als ob er es erzählte.»

Sartre betrachtet den erzählerischen Impuls als bedauerlichen Defekt. Er akzeptiert die psychologisch-narrative These als gegeben, während er die ethisch-narrative These ablehnt. Die menschliche Neigung, das Leben als Geschichte aufzufassen, stellt für ihn einen nicht zu korrigierenden Irrglauben dar, etwas zutiefst Nicht-Authentisches.

Die pro-narrative Mehrheit mag Sartre einräumen, dass beim «Verfassen» der eigenen Lebensgeschichte etwas «schieflaufen» kann, besteht aber weiterhin darauf, dass das Narrative essenziell für ein gutes Leben sei. Was den ethisch-narrativen Gesichtspunkt betrifft, teile ich Sartres Meinung. Ich möchte mich nun eingehender den verschiedenen Versionen der psychologisch-narrativen These widmen. Oliver Sacks (Jeder von uns «konstruiert und lebt eine ‹Erzählung› … diese Erzählung sind wir») und Jerome Bruner (das Selbst ist eine fortwährend von Neuem geschriebene Geschichte) möchte ich ein Zitat Daniel Dennetts zur Seite stellen:

«Wir alle sind virtuose Romanciers, die sich mit allen möglichen Verhaltensweisen befassen … und wir setzen immer das beste ‹Gesicht› auf, wenn wir können. Wir versuchen, all unser Material zu einer einzigen guten Geschichte zusammenzufügen. Und diese Geschichte ist unsere Autobiografie. Die Hauptfigur in dieser Autobiografie ist das eigene Ich.»

Marya Schechtman geht noch einen Schritt weiter, indem sie die psychologische eng mit der ethischen These verwebt. Sie schreibt: «[Eine Person] … erschafft ihre Identität, indem sie eine autobiografische Erzählung erschafft – die eigene Lebensgeschichte.» Man sollte eine reiche «und ausdrückliche Geschichte [des eigenen Lebens]» besitzen, «um sich als Persönlichkeit vollständig entwickeln zu können». Charles Taylor behauptet: «Um uns das eigene Leben wenigstens im minimalen Sinne verständlich zu machen» ist es notwendig, «dass wir das eigene Leben im Sinne einer narrativen Darstellung begreifen müssen», und zwar nicht als «optionales Extra». Unser Leben «spiele sich […] in diesem Raum voller Fragen ab, die nur durch eine zusammenhängende Geschichte beantwortet werden können.»

Douglas Coupland legt der Figur der Claire in seinem Roman Generation X folgende Worte in den Mund: «[Claire] bricht das Schweigen und sagt, es sei nicht gesund, das Leben als eine Abfolge isolierter, kleiner, cooler Momente zu leben. ‹Entweder entstehen aus unserem Leben Geschichten, oder es gibt einfach keinen Weg hindurch›.»

Taylor legt noch mehr ethisches Gewicht darauf, ‹gut durchs Leben zu kommen›:

«Nun erkennen wir, dass dieser Sinn für das Gute in mein Verständnis des eigenen Lebens als einer sich entfaltenden Geschichte eingeflochten werden muss.» Denn: «Aufgrund meines gegebenen Standorts bezüglich des Guten, unter den verschiedenen Möglichkeiten auswählend, zu einem Entwurf, der die Richtung meines Lebens im Verhältnis zum Guten bestimmt. Stets wird mein Leben insofern im Sinne einer narrativen Darstellung begriffen …» Dies sei, so sagt er, eine «Sache der Notwendigkeit, dass mein Selbstverständnis zeitliche Tiefe aufweist und narrative Elemente enthält».

Und der Philosoph Paul Ricœur, führender Verfechter des Narrativen, pflichtet ihm bei:

«Wie könnte schließlich ein Handlungssubjekt seinem eigenen, als Ganzes genommenen Leben eine ethische Qualifikation verleihen, wenn dieses Leben nicht zusammengefasst wäre, und wie könnte es zusammengefasst sein, wenn nicht genau in Form einer Erzählung.»

Ich frage mich nun vor allem, was genau es bedeutet, seinem Leben einen ethischen Charakter zu geben, wenn man es als Ganzes betrachtet, und warum es überhaupt so wichtig sein sollte, dies zu tun, wenn man sich doch inmitten all der großartigen Schönheit des Seins befindet. Wahrscheinlich werden viele, die so denken, von einem Gefühl der eigenen Bedeutung motiviert, das anderen Menschen fehlt. Häufig geht eine religiöse Überzeugung mit dieser Sichtweise einher. Letztendlich steht doch das «Selbst» im Zentrum der meisten Religionen.

Alasdair MacIntyre vertritt eine ähnliche Ansicht wie Charles Taylor: «… dass diese Einheit in der Einheit einer in einem einzigen Leben verkörperten Erzählung besteht. Zu fragen: ‹Was ist das Gute für mich?› bedeutet zu fragen, wie ich diese Einheit am besten leben und vervollständigen könnte.» Und er führt weiter aus:

«Die Einheit eines menschlichen Lebens ist die Einheit einer narrativen Suche … [und] die einzigen Kriterien für Erfolg oder Misserfolg in einem menschlichen Leben als Ganzes sind die Kriterien für Erfolg oder Misserfolg in einer erzählten oder noch-zu-erzählenden Suche. Eine Suche nach was? … Eine Suche nach dem Guten … Das gute Leben für den Menschen ist das Leben, das man damit verbringt, nach dem guten Leben für den Menschen zu suchen.»

Auf den ersten Blick eine nicht-psychologische These: Ein gutes Leben ist eines, das erzählerische Einheit besitzt. Aber ein gutes Leben ist eines, das mit der Suche nach einem guten Leben verbracht wird, und das, so wird suggeriert, schließt unbedingt eine narrative Perspektive ein. Narrative Geschlossenheit verlangt also psychologische Narrativität.

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Entspricht überhaupt irgendetwas davon der Wahrheit? Ich glaube kaum. Mir scheint es, als sprächen MacIntyre, Taylor und all die anderen Verfechter der ethisch-narrativen These im Grunde von sich selbst. Das, was sie sagen, mag ja für sie selbst zutreffen, sowohl in psychologischer wie in ethischer Hinsicht. Es mag darüber hinaus auch das beste ethische Projekt sein, dem so geartete Menschen sich verschreiben können. Das Problem dabei ist nur, dass man fast sicher sein kann, dass diese eigene Lebensgeschichte an irgendeinem Punkt auf mehr oder weniger desaströse Weise schiefläuft. Und man wird all jenen, die zu einem anderen ethischen Typ zählen, nicht gerecht, indem man sie glauben macht, das Narrative sei unabdingbar für ein gutes Leben. Die besten Leben, meine ich, sind nie in eine derartige Selbst-Erzählung verwickelt.

Mich irritieren Aussagen wie diejenige des Philosophen John Campbell: «Identität [in der Zeit] ist zentral für das, was uns im Leben etwas bedeutet: etwas, das mir wichtig ist, … ist was ich aus meinem Leben gemacht habe.» Ich habe mir nie die Frage gestellt: «Was hat Galen Strawson aus seinem Leben gemacht?» oder: «Was habe ich aus meinem Leben gemacht?» Und die Antwort darauf interessiert mich nicht im Entferntesten. Ich lebe mein Leben einfach, und diese Art, darüber nachzudenken, ist schlicht und ergreifend nicht Teil meines Lebens. Das heißt aber nicht, dass ich in irgendeiner Weise unverantwortlich wäre. Es bedeutet eben, dass für mich nur zählt, wer ich jetzt gerade, im gegenwärtigen Augenblick bin. Meine Vergangenheit hat mich als Mensch, der ich heute bin, geformt. Aber es ist das heutige Wesen als Resultat aus der Vergangenheit, das mir wichtig ist, und nicht die Vergangenheit selbst. Hier stimme ich mit dem Earl of Shaftesbury überein:

«Die Metaphysiker … beteuern, dass das Selbst verloren ist, nimmt man [einem Menschen] die Erinnerung. Aber was ist für die Erinnerung von Bedeutung? Was habe ich mit diesem Teil zu tun: Wenn ich, während ich bin, so bin, wie ich sein sollte, was kümmert’s mich weiter? Und so lasse ich mich jede Stunde verlieren und zwanzig aufeinanderfolgende Selbst oder neue Selbst sein, das ist alles für mich: Solange ich nicht meine Meinung verliere [i.e. meine allgemeine Einstellung, meinen Charakter, meine moralische Identität]. Wenn ich das mit mir trage, bin ich es; alles ist gut … Das Jetzt; das Jetzt. Bedenke: das ist alles.»

Es gibt eine bekannte Bemerkung Kierkegaards, die vielleicht schon zitiert wurde, um die narrative Position zu stützen:

«Es ist völlig wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rücklings verstanden werden müsse. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorlings [vorwärts] gelebt werden muss. Dieser Satz – je mehr er durchdacht wird – endet gerade damit, dass das Leben in der Zeitlichkeit niemals richtig verständlich wird, eben weil ich keinen Augenblick die vollkommene Ruhe bekommen kann, um die Stellung ‹rücklings› einzunehmen.»

Macht die Idee, sein Leben als eigene Geschichte zu betrachten, im Hinblick auf die Zukunft überhaupt einen Sinn? (Schließlich kann man nur in die Zukunft hinein leben, eine andere Richtung gibt es nicht.) Ich bezweifle das. Wenn man möchte, kann man ja gern versuchen, seine Lebensgeschichte zu schreiben. Aber das geht nur im Blick zurück und gelingt ganz sicher nicht in perfekter Weise. Vor allem sollte man sich davor hüten, sich von der Vergangenheit seine Haltung gegenüber der eigenen Zukunft diktieren zu lassen. Kierkegaard sagt später: Wir sollten leben «wie jemand, der ein Diktat schreibt, den Stift stets gezückt, in Erwartung dessen, was kommt, um nicht sinnlos einen Punkt zu setzen, bevor die Bedeutung vollständig ist, oder sonst seinen Stift rebellisch wegzuwerfen».

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