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3. die In­stink­te der Ha­bi­tu­ell-Lei­den­den, wel­che eine no­ble Aus­le­gung ih­res Zu­stan­des brau­chen und des­halb so we­nig als mög­lich Phy­sio­lo­gen sein dür­fen.

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424.

Tar­tüf­fe­rie der Wis­sen­schaft­lich­keit. – Man muß nicht Wis­sen­schaft­lich­keit af­fek­ti­ren, wo es noch nicht Zeit ist, wis­sen­schaft­lich zu sein; aber auch der wirk­li­che For­scher hat die Ei­tel­keit von sich zu thun, eine Art von Metho­de zu af­fek­ti­ren, wel­che im Grun­de noch nicht an der Zeit ist. Eben­so Din­ge und Ge­dan­ken, auf die er an­ders ge­kom­men ist, nicht mit ei­nem falschen Ar­ran­ge­ment von De­duk­ti­on und Dia­lek­tik zu »fäl­schen«. So fälscht Kant in sei­ner »Moral« sei­nen in­ne­wen­di­gen psy­cho­lo­gi­schen Hang; ein neu­er­li­ches Bei­spiel ist Her­bert Spencer’s Ethik. – Man soll die That­sa­che, wie uns uns­re Ge­dan­ken ge­kom­men sind, nicht ver­heh­len und ver­der­ben. Die tiefs­ten und un­er­schöpf­tes­ten Bü­cher wer­den wohl im­mer Et­was von dem apho­ris­ti­schen und plötz­li­chen Cha­rak­ter von Pas­cal’s Pensées ha­ben. Die trei­ben­den Kräf­te und Wert­h­schät­zun­gen sind lan­ge un­ter der Ober­flä­che; was her­vor­kommt, ist Wir­kung.

Ich weh­re mich ge­gen alle Tar­tüf­fe­rie von falscher Wis­sen­schaft­lich­keit:

1. in Be­zug auf die Dar­le­gung, wenn sie nicht der Ge­ne­sis der Ge­dan­ken ent­spricht; 2. in den An­sprü­chen auf Metho­den, wel­che viel­leicht zu ei­ner be­stimm­ten Zeit der Wis­sen­schaft noch gar nicht mög­lich sind; 3. in den An­sprü­chen auf Ob­jek­ti­vi­tät, auf kal­te Un­per­sön­lich­keit, wo, wie bei al­len Wert­schät­zun­gen, wir mit zwei Wor­ten von uns und uns­ren in­ne­ren Er­leb­nis­sen er­zäh­len. Es giebt lä­cher­li­che Ar­ten von Ei­tel­keit, z. B. Saint-Beu­ve’s, der sich zeit­le­bens ge­är­gert hat, hier und da wirk­lich Wär­me und Lei­den­schuft im »Für« und »Wi­der« ge­habt zu ha­ben, und es gern aus sei­nem Le­ben weg­ge­lo­gen hät­te.

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425.

»Ob­jek­ti­vi­tät« am Phi­lo­so­phen: mo­ra­li­scher In­dif­fe­ren­tis­mus ge­gen sich, Blind­heit ge­gen die gu­ten und schlim­men Fol­gen: Un­be­denk­lich­keit im Ge­brauch ge­fähr­li­cher Mit­tel; Per­ver­si­tät und Viel­heit des Cha­rak­ters als Vor­zug er­rat­hen und aus­genützt.

Mei­ne tie­fe Gleich­gül­tig­keit ge­gen mich: ich will kei­nen Vort­heil aus mei­nen Er­kennt­nis­sen und wei­che auch den Nacht­hei­len nicht aus, die sie mit sich brin­gen. – Hier ist ein­ge­rech­net Das, was man Ver­derb­niß des Cha­rak­ters nen­nen könn­te; die­se Per­spek­ti­ve liegt au­ßer­halb: ich hand­ha­be mei­nen Cha­rak­ter, aber den­ke we­der dar­an, ihn zu ver­ste­hen, noch ihn zu ver­än­dern, – der per­sön­li­che Cal­cul der Tu­gend ist mir nicht einen Au­gen­blick in den Kopf ge­kom­men. Es scheint mir, daß man sich die Tho­re der Er­kennt­niß zu­macht, so­bald man sich für sei­nen per­sön­li­chen Fall in­ter­es­sirt – oder gar für das »Heil sei­ner See­le«! … Man muß sei­ne Mora­li­tät nicht zu wich­tig neh­men und sich ein be­schei­de­nes An­recht auf de­ren Ge­gent­heil nicht neh­men las­sen …

Eine Art Er­breicht­hum an Mora­li­tät wird hier viel­leicht vor­aus­ge­setzt: man wit­tert, daß man viel da­von ver­schwen­den und zum Fens­ter hin­aus­wer­fen kann, ohne da­durch son­der­lich zu ver­ar­men. Nie­mals sich ver­sucht füh­len, »schö­ne See­len« zu be­wun­dern; sich ih­nen im­mer über­le­gen wis­sen. Den Tu­gend-Un­ge­heu­ern mit ei­nem in­ner­li­chen Spott be­geg­nen; dé­nia­ser la ver­tu – ge­hei­mes Ver­gnü­gen.

Sich um sich sel­ber rol­len; kein Wunsch, »bes­ser« oder über­haupt nur »an­ders« zu wer­den. Zu in­ter­es­sirt, um nicht Fang­ar­me oder Net­ze je­der Mora­li­tät nach den Din­gen aus­zu­wer­fen –.

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426.

Zur Psy­cho­lo­gie des Phi­lo­so­phen. Psy­cho­lo­gen, wie sie erst vom 19. Jahr­hun­dert ab mög­lich sind: nicht mehr jene Ecken­ste­her, die drei, vier Schritt vor sich bli­cken und bei­na­he zu­frie­den sind, in sich hin­ein zu gra­ben. Wir Psy­cho­lo­gen der Zu­kunft – wir ha­ben we­nig gu­ten Wil­len zur Selbst­be­ob­ach­tung: wir neh­men es fast als ein Zei­chen von Ent­ar­tung, wenn ein In­stru­ment »sich selbst zu er­ken­nen« sucht: wir sind In­stru­men­te der Er­kennt­nis; und möch­ten die gan­ze Nai­ve­tät und Prä­ci­si­on ei­nes In­stru­men­tes ha­ben, – folg­lich dür­fen wir uns selbst nicht ana­ly­si­ren, nicht »ken­nen«. Ers­tes Merk­mal von Selbs­t­er­hal­tungs-In­stinkt des großen Psy­cho­lo­gen: er sucht sich nie, er hat kein Auge, kein In­ter­es­se, kei­ne Neu­gier­de für sich … Der große Ego­is­mus uns­res do­mi­ni­ren­den Wil­lens will es so von uns, daß wir hübsch vor uns die Au­gen schlie­ßen, – daß wir als »un­per­sön­lich«, »dé­sin­ter­ss­sé«, »ob­jek­tiv« er­schei­nen müs­sen! – oh in wie ex­cen­tri­schem Gra­de wir das Ge­gent­heil da­von sind!

Wir sind kei­ne Pas­cals, wir sind nicht son­der­lich am »Heil der See­le«, am ei­ge­nen Glück, an der ei­ge­nen Tu­gend in­ter­es­sirt. – Wir ha­ben we­der Zeit noch Neu­gier­de ge­nug, uns der­ge­stalt um uns selbst zu drehn. Es steht, tiefer an­ge­sehn, so­gar noch an­ders: wir miß­trau­en al­len Na­bel­be­schau­ern aus dem Grun­de, weil uns die Selbst­be­ob­ach­tung als eine Ent­ar­tungs­for­m des psy­cho­lo­gi­schen Ge­nie’s gilt, als ein Fra­ge­zei­chen am In­stinkt des Psy­cho­lo­gen: so ge­wiß ein Ma­ler-Auge ent­ar­tet ist, hin­ter dem der Wil­le steht, zu sehn, um zu sehn.

2. Zur Kritik der griechischen Philosophie.

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427.

Das Er­schei­nen der grie­chi­schen Phi­lo­so­phen von So­kra­tes an ist ein Sym­ptom der dé­ca­dence; die an­ti­hel­le­ni­schen In­stink­te kom­men oben auf…

Noch ganz hel­le­nisch ist der »So­phist« – ein­ge­rech­net Ana­xa­go­ras, De­mo­krit, die großen Io­ni­er –; aber als Über­gangs­form. Die Po­lis ver­liert ih­ren Glau­ben an die Ein­zig­keit ih­rer Cul­tur, an ihr Her­ren-Recht über jede an­de­re Po­lis … Man tauscht die Cul­tur, d. h. »die Göt­ter« aus, – man ver­liert da­bei den Glau­ben an das Al­lein-Vor­recht des deus au­to­ch­to­nus. Das Gut und Böse ver­schie­de­ner Ab­kunft mischt sich: die Gren­ze zwi­schen Gut und Böse ver­wischt sich … Das ist der »So­phist« …

Der »Phi­lo­soph« da­ge­gen ist die Re­ak­tion: er will die alte Tu­gend. Er sieht die Grün­de des Ver­falls im Ver­fall der In­sti­tu­tio­nen, er will al­te In­sti­tu­tio­nen; – er sieht den Ver­fall im Ver­fall der Au­to­ri­tät: er sucht nach neu­en Au­to­ri­tä­ten (Rei­se in’s Aus­land, in frem­de Lit­te­ra­tu­ren, in exo­ti­sche Re­li­gio­nen …); – er will die idea­le Po­lis, nach­dem der Be­griff »Po­lis« sich über­lebt hat­te (un­ge­fähr wie die Ju­den sich als »Volk« fest­hiel­ten, nach­dem sie in Knecht­schaft ge­fal­len wa­ren). Sie in­ter­es­si­ren sich für alle Ty­ran­nen: sie wol­len die Tu­gend mit for­ce ma­jeu­re wie­der­her­stel­len.

All­mäh­lich wird al­les Echt­hel­le­ni­sche ver­ant­wort­lich ge­macht für den Ver­fall (und Plu­to ist ge­nau so un­dank­bar ge­gen Pe­ri­kles, Ho­mer, Tra­gö­die, Rhe­to­rik, wie die Pro­phe­ten ge­gen Da­vid und Saul). Der Nie­der­gang von Grie­chen­land wird als Ein­wand ge­gen die Grund­la­gen der hel­le­ni­schen Cul­tur ver­stan­den: Grun­dirr­thum der Phi­lo­so­phen –. Schluß: die grie­chi­sche Welt geht zu Grun­de. Ur­sa­che: Ho­mer, der My­thos, die an­ti­ke Sitt­lich­keit u.s.w.

Die an­tihel­le­ni­sche Ent­wick­lung des Phi­lo­so­phen-Wer­thurt­heils: – das Ägyp­ti­sche (»Le­ben nach dem Tode« als Ge­richt …); – das Se­mi­ti­sche (die »Wür­de des Wei­sen«, der »Scheich«); – die Py­tha­go­re­er, die un­ter­ir­di­schen Cul­te, das Schwei­gen, die Jen­seits-Furcht­mit­tel, die Ma­the­ma­ti­k: re­li­gi­öse Schät­zung, eine Art Ver­kehr mit dem kos­mi­schen All; – das Pries­ter­li­che, As­ke­ti­sche, Transscen­den­te; – die Dia­lek­ti­k, – ich den­ke, es ist eine ab­scheu­li­che und pe­dan­ti­sche Be­griffs­klau­be­rei schon in Pla­to? – Nie­der­gang des gu­ten geis­ti­gen Ge­schmacks: man emp­fin­det das Häß­li­che und Klap­pern­de al­ler di­rek­ten Dia­lek­tik be­reits nicht mehr.

Ne­ben ein­an­der ge­hen die bei­den dé­ca­dence-Be­we­gun­gen und Ex­tre­me: a) die üp­pi­ge, lie­bens­wür­dig­bos­haf­te, prunk- und kunst­lie­ben­de dé­ca­dence und b) die Ver­düs­te­rung des re­li­gi­ös-mo­ra­li­schen Pa­thos, die stoi­sche Selbst-Ver­här­tung, die pla­to­ni­sche Sin­nen-Ver­leum­dung, die Vor­be­rei­tung des Bo­dens für das Chris­tent­hum.

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428.

Wie weit die Ver­derb­niß der Psy­cho­lo­gen durch die Moral-Idio­syn­kra­sie geht: – Nie­mand der al­ten Phi­lo­so­phen hat den Muth zur Theo­rie des »un­frei­en Wil­lens« ge­habt (d. h. zu ei­ner die Moral ne­gi­ren­den Theo­rie); – Nie­mand hat den Muth ge­habt, das Ty­pi­sche der Lust, je­der Art Lust (»Glück«) zu de­fi­ni­ren als Ge­fühl der Macht: denn die Lust an der Macht galt als un­mo­ra­lisch; – Nie­mand hat den Muth ge­habt, die Tu­gend als eine Fol­ge der Un­mo­ra­li­tät (ei­nes Macht­wil­lens) im Diens­te der Gat­tung (oder der Ras­se oder der Po­lis) zu be­grei­fen (denn der Macht­wil­le galt als Un­mo­ra­li­tät).

Es kommt in der gan­zen Ent­wick­lung der Moral kei­ne Wahr­heit vor: alle Be­griffs-Ele­men­te, mit de­nen ge­ar­bei­tet wird, sind Fik­tio­nen: alle Psy­cho­lo­gi­en, an die man sich hält, sind Fäl­schun­gen: alle For­men der Lo­gik, wel­che man in dies Reich der Lüge ein­schleppt, sind So­phis­men. Was die Moral«Phi­lo­so­phen selbst aus­zeich­net, das ist die voll­kom­me­ne Ab­senz je­der Sau­ber­keit, je­der Selbst­zucht des In­tel­lekts: sie hal­ten »schö­ne Ge­füh­le« für Ar­gu­men­te: ihr »ge­schwell­ter Bu­sen« dünkt ih­nen der Bla­se­balg der Gott­heit … Die Moral­phi­lo­so­phie ist die ska­brö­se Pe­ri­ode in der Ge­schich­te des Geis­tes.

Das ers­te große Bei­spiel: un­ter dem Na­men der Moral, als Pa­tro­nat der Moral ein un­er­hör­ter Un­fug aus­ge­übt, that­säch­lich eine dé­ca­dence in je­der Hin­sicht. Man kann nicht streng ge­nug dar­auf in­sis­tie­ren, daß die großen grie­chi­schen Phi­lo­so­phen die dé­ca­dence jed­we­der grie­chi­schen Tüch­tig­keit re­prä­sen­ti­ren und con­ta­gi­ös ma­chen … Die­se gänz­lich ab­strakt ge­mach­te »Tu­gend« war die große Ver­füh­rung, sich selbst ab­strakt zu ma­chen: d. h. sich her­aus­zu­lö­sen.

Der Au­gen­blick ist sehr merk­wür­dig: die So­phis­ten strei­fen an die ers­te Kri­tik der Moral, die ers­te Ein­sicht über die Moral: – sie stel­len die Mehr­heit (die lo­ka­le Be­dingt­heit) der mo­ra­li­schen Wer­thurt­hei­le ne­ben ein­an­der; – sie ge­ben zu ver­ste­hen, daß jede Moral sich dia­lek­tisch recht­fer­ti­gen las­se: d. h. sie er­rat­hen, wie alle Be­grün­dung ei­ner Moral nothwen­dig so­phis­tisch sein muß, – ein Satz, der hin­ter­drein im aller­größ­ten Stil durch die an­ti­ken Phi­lo­so­phen von Pin­to an (bis Kant) be­wie­sen wor­den ist; – sie stel­len die ers­te Wahr­heit hin, daß eine »Moral an sich«, ein »Gu­tes an sich« nicht existirt, daß es Schwin­del ist, von »Wahr­heit« auf die­sem Ge­bie­te zu re­den.

Wo war nur die in­tel­lek­tu­el­le Recht­schaf­fen­heit da­mals?

Die grie­chi­sche Cul­tur der So­phis­ten war aus al­len grie­chi­schen In­stink­ten her­aus­ge­wach­sen; sie ge­hört zur Cul­tur der Pe­ri­kle­i­schen Zeit, so nothwen­dig wie Pla­to nicht zu ihr ge­hört: sie hat ihre Vor­gän­ger in Hera­klit, in De­mo­krit, in den wis­sen­schaft­li­chen Ty­pen der al­ten Phi­lo­so­phie; sie hat in der ho­hen Cul­tur des Thu­ly­di­des z. B. ih­ren Aus­druck. Und – sie hat schließ­lich Recht be­kom­men: je­der Fort­schritt der er­kennt­niß­theo­re­ti­schen und mo­ra­lis­ti­schen Er­kennt­nis; hat die So­phis­ten re­sti­tu­irt … Uns­re heu­ti­ge Denk­wei­se ist in ei­nem ho­hen Gra­de he­ra­kli­tisch, de­mo­kri­tisch und prot­a­go­re­isch … es ge­nüg­te zu sa­gen, daß sie prot­a­go­re­isch sei: weil Pro­ta­go­ras die bei­den Stücke Hera­klit und De­mo­krit in sich zu­sam­men­nahm.

( Pla­to: ein großer Cagliostro, – man den­ke, wie ihn Epi­kur be­urt­heil­te; wie ihn Ti­mon, der Freund Pyr­rho’s, be­urt­heil­te – – Steht viel­leicht die Recht­schaf­fen­heit Pla­to’s au­ßer Zwei­fel? … Aber wir wis­sen zum Min­des­ten, daß er als ab­so­lu­te Wahr­heit ge­lehr­t wis­sen woll­te, was nicht ein­mal be­dingt ihm als Wahr­heil galt: näm­lich die Son­der-Exis­tenz und Son­der-Uns­terb­lich­keit der »See­len«.)

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429.

Die So­phis­ten sind Nichts wei­ter als Rea­lis­ten: sie for­mu­li­ren die Al­len gang und gä­ben Wert­he und Prak­ti­ken zum Rang der Wert­he, – sie ha­ben den Muth, den alle star­ken Geis­ter ha­ben, um ihre Un­mo­ra­li­tät zu wis­sen

Glaubt man viel­leicht, daß die­se klei­nen grie­chi­schen Frei­städ­te, wel­che sich vor Wuth und Ei­fer­sucht gern auf­ge­fres­sen hät­ten, von men­schen­freund­li­chen und recht­schaf­fe­nen Prin­ci­pi­en ge­lei­tet wur­den? Macht man viel­leicht dem Thu­ky­di­des einen Vor­wurf aus sei­ner Rede, die er den athe­ni­schen Ge­sand­ten in den Mund legt, als sie mit den Me­li­ern über Un­ter­gang oder Un­ter­wer­fung ver­han­deln?

In­mit­ten die­ser ent­setz­li­chen Span­nung von Tu­gend zu re­den war nur vollen­de­ten Tar­tüffs mög­lich – oder Ab­seits-Ge­stell­ten, Ein­sied­lern, Flücht­lin­gen und Aus­wan­de­rern aus der Rea­li­tät… Al­les Leu­te, die ne­gir­ten, um sel­ber le­ben zu kön­nen –

Die So­phis­ten wa­ren Grie­chen: als So­kra­tes und Pla­to die Par­tei der Tu­gend und Ge­rech­tig­keit nah­men, wa­ren sie Ju­den oder ich weiß nicht was –. Die Tak­tik Gro­te’s zur Ver­tei­di­gung der So­phis­ten ist falsch: er will sie zu Ehren­män­nern und Moral-Stan­dar­ten er­he­ben, – aber ihre Ehre war, kei­nen Schwin­del mit großen Wor­ten und Tu­gen­den zu trei­ben …

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430.

Die große Ver­nunft in al­ler Er­zie­hung zur Moral war im­mer, daß man hier die Si­cher­heit ei­nes In­stinkt­s zu er­rei­chen such­te: so­daß we­der die gute Ab­sicht noch die gu­ten Mit­tel als sol­che erst in’s Be­wußt­sein tra­ten. So wie der Sol­dat exer­cirt, so soll­te der Mensch han­deln ler­nen. In der That ge­hört die­ses Un­be­wußt­sein zu je­der Art Voll­kom­men­heit: selbst noch der Ma­the­ma­ti­ker hand­habt sei­ne Kom­bi­na­tio­nen un­be­wußt…

Was be­deu­tet nun die Re­ak­tion des So­kra­tes, wel­cher die Dia­lek­tik als Weg zur Tu­gend an­emp­fahl und sich dar­über lus­tig mach­te, wenn die Moral sich nicht lo­gisch zu recht­fer­ti­gen wuß­te? Aber eben das Letz­te­re ge­hört zu ih­rer Güte, – ohne Un­be­wußt­heit taugt sie Nichts!

Es be­deu­tet ex­akt die Auf­lö­sung der grie­chi­schen In­stink­te, als man die Be­weis­bar­keit als Voraus­set­zung der per­sön­li­chen Tüch­tig­keit in der Tu­gend vor­an­stell­te. Es sind selbst Ty­pen der Auf­lö­sung, alle die­se großen »Tu­gend­haf­ten« und Wor­te­ma­cher.

In pra­xi be­deu­tet es, daß die mo­ra­li­schen Urt­hei­le aus ih­rer Be­dingt­heit, aus der sie ge­wach­sen sind und in der al­lein sie Sinn ha­ben, aus ih­rem grie­chi­schen und grie­chisch-po­li­ti­schen Grund und Bo­den aus­ge­ris­sen wer­den und, un­ter dem An­schein von Sub­li­mirung, ent­na­tür­licht wer­den. Die großen Be­grif­fe »gut«, »ge­recht« wer­den los­ge­macht von den Voraus­set­zun­gen, zu de­nen sie ge­hö­ren, und als frei ge­w­ord­ne »Ide­en« Ge­gen­stän­de der Dia­lek­tik. Man sucht hin­ter ih­nen eine Wahr­heit, man nimmt sie als En­ti­tä­ten oder als Zei­chen von En­ti­tä­ten: man er­dich­tet eine Welt, wo sie zu Hau­se sind, wo sie her­kom­men …

In sum­ma: der Un­fug ist auf sei­ner Spit­ze be­reits bei Pla­to … Und nun hat­te man nö­thig, auch den ab­strakt-voll­kom­me­nen Men­schen hin­zu zu er­fin­den: – gut, ge­recht, wei­se, Dia­lek­ti­ker – kurz, die Vo­gel­scheu­che des an­ti­ken Phi­lo­so­phen: eine Pflan­ze, aus je­dem Bo­den los­ge­löst; eine Men­sch­lich­keit ohne alle be­stimm­ten re­gu­li­ren­den In­stink­te; eine Tu­gend, die sich mit Grün­den »be­weist«. Das voll­kom­men ab­sur­de »In­di­vi­du­um« an sich! die Un­na­tur höchs­ten Ran­ges …

Kurz, die Ent­na­tür­li­chung der Moral­wert­he hat­te zur Con­se­quenz, einen ent­ar­ten­den Ty­pus des Men­schen zu schaf­fen, – »den Gu­ten«, »den Glück­li­chen«, »den Wei­sen«. – So­kra­tes ist ein Mo­ment der tiefs­ten Per­ver­si­tät in der Ge­schich­te der Wert­he.

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431.

So­kra­tes. – Die­ser Um­schlag des Ge­schmacks zu Guns­ten der Dia­lek­tik ist ein großes Fra­ge­zei­chen. Was ge­sch­ah ei­gent­lich? – So­kra­tes, der Ro­tu­ri­er, der ihn durch­setz­te, kam mit ihm über einen vor­neh­me­ren Ge­schmack, den Ge­schmack der Vor­neh­men, zum Sieg: – der Pö­bel kam mit der Dia­lek­tik zum Sieg. Vor So­kra­tes lehn­te man sei­tens al­ler gu­ten Ge­sell­schaft die dia­lek­ti­sche Ma­nier ab; man glaub­te, daß sie bloß­stell­te; man warn­te die Ju­gend vor ihr. Wozu die­se Etala­ge von Grün­den? Wozu ei­gent­lich be­wei­sen? Ge­gen An­de­re hat­te man die Au­to­ri­tät. Man be­fahl: das ge­nüg­te. Un­ter sich, in­ter pa­res, hat man das Her­kom­men, auch eine Au­to­ri­tät: und, zu­gu­ter­letzt, man »ver­stand sich«! Man fand gar kei­nen Platz für Dia­lek­tik. Auch miß­trau­te man sol­chem off­nen Prä­sen­ti­ren sei­ner Ar­gu­men­te. Alle hon­net­ten Din­ge hal­ten ihre Grün­de nicht so in der Hand. Es ist et­was Un­an­stän­di­ges dar­in, alle fünf Fin­ger zu zei­gen. Was sich »be­wei­sen« läßt, ist we­nig werth. – Daß Dia­lek­tik Miß­trau­en er­regt, daß sie we­nig über­re­det, das weiß üb­ri­gens der In­stinkt der Red­ner al­ler Par­tei­en. Nichts ist leich­ter weg­zu­wi­schen als ein Dia­lek­ti­ker-Ef­fekt. Dia­lek­tik kann nur eine No­thwehr sein. Man muß in der Noth sein, man muß sein Recht zu er­zwin­gen ha­ben: eher macht man kei­nen Ge­brauch von ihr. Die Ju­den wa­ren des­halb Dia­lek­ti­ker, Rei­ne­ke Fuchs war es, So­kra­tes war es. Man hat ein scho­nungs­lo­ses Werk­zeug in der Hand. Man kann mit ihr ty­ran­ni­si­ren. Man stellt bloß, in­dem man siegt. Man über­läßt sei­nem Op­fer den Nach­weis, kein Idi­ot zu sein. Man macht wüthend und hül­f­los, wäh­rend man sel­ber kal­te, tri­um­phi­ren­de Ver­nünf­tig­keit bleibt, – man de­po­ten­zir­t die In­tel­li­genz sei­nes Geg­ners. – Die Iro­nie des Dia­lek­ti­kers ist eine Form der Pö­bel-Ra­che: die Un­ter­drück­ten ha­ben ihre Fero­ci­tät in den kal­ten Mes­ser­sti­chen des Syl­lo­gis­mus …

Bei Pla­to, als bei ei­nem Men­schen der über­reiz­ba­ren Sinn­lich­keit und Schwär­me­rei, ist der Zau­ber des Be­griffs so groß ge­we­sen, daß er un­will­kür­lich den Be­griff als eine Ide­al­form ver­ehr­te und ver­göt­ter­te. Dia­lek­tik-Trun­ken­heit: als das Be­wußt­sein, mit ihr eine Herr­schaft über sich aus­zuü­ben – – als Werk­zeug des Macht­wil­lens.

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432.

Das Pro­blem des So­kra­tes. – Die bei­den Ge­gen­sät­ze: die tra­gi­sche Ge­sin­nung, die so­kra­tisch Ge­sin­nung, – ge­mes­sen an dem Ge­setz des Le­bens.

In­wie­fern die so­kra­ti­sche Ge­sin­nung ein Phä­no­men der dé­ca­dence ist: in­wie­fern aber noch eine star­ke Ge­sund­heit und Kraft im gan­zen Ha­bi­tus, in der Dia­lek­tik und Tüch­tig­keit, Straff­heit des wis­sen­schaft­li­chen Men­schen sich zeigt (– die Ge­sund­heit des Ple­be­jer­s; des­sen Bos­heit, e­sprit fron­deur, des­sen Scharf­sinn, des­sen Ca­nail­le au fon­d, im Zaum ge­hal­ten durch die Klug­heit; »häß­lich«).

Ver­häß­li­chung: die Selbst­ver­höh­nung, die dia­lek­ti­sche Dür­re, die Klug­heit als Ty­rann ge­gen den »Ty­ran­nen« (den In­stinkt). Es ist Al­les über­trie­ben, ex­cen­trisch, Ca­ri­ca­tur an So­kra­tes, ein buf­fo mit den In­stink­ten Vol­tai­re’s im Lei­be. Er ent­deckt eine neue Art A­gon; er ist der ers­te Fecht­meis­ter in den vor­neh­men Krei­sen Athens; er ver­tritt Nichts als die höchs­te Klug­heit: er nennt sie »Tu­gend« (– er er­rieth sie als Ret­tung: es stand ihm nicht frei, klug zu sein, es war de ri­gueur); sich in Ge­walt ha­ben, um mit Grün­den und nicht mit Af­fek­ten in den Kampf zu tre­ten (– die List des Spi­no­za, – das Auf­drö­seln der Af­fekt-Irr­t­hü­mer); – ent­de­cken, wie man Je­den fängt, den man in Af­fekt bringt, ent­de­cken, daß der Af­fekt un­lo­gisch pro­ce­dirt; Übung in der Selbst­ver­spot­tung, um das Ran­cu­ne-Ge­fühl in der Wur­zel zu schä­di­gen.

Ich su­che zu be­grei­fen, aus wel­chen par­ti­el­len und idio­syn­kia­ti­schen Zu­stän­den das so­kra­ti­sche Pro­blem ab­leit­bar ist: sei­ne Gleich­set­zung von Ver­nunft = Tu­gend = Glück. Mit die­sem Ab­sur­dum von Iden­ti­täts­leh­re hat er be­zau­ber­t: die an­ti­ke Phi­lo­so­phie kam nicht wie­der da­von los …

Ab­so­lu­ter Man­gel an ob­jek­ti­vem In­ter­es­se: Haß ge­gen die Wis­sen­schaft: Idio­syn­kra­sie, sich selbst als Pro­blem zu füh­len. Akus­ti­sche Hal­lu­ci­na­tio­nen bei So­kra­tes: mor­bi­des Ele­ment. Mit Moral sich ab­ge­ben wi­der­steht am meis­ten, wo der Geist reich und un­ab­hän­gig ist. Wie kommt es, daß So­kra­tes Moral-Mo­no­man ist? – Alle »prak­ti­sche« Phi­lo­so­phie tritt in Noth­la­gen so­fort in den Vor­der­grund. Moral und Re­li­gi­on als Haup­t­in­ter­es­sen sind Noth­stands-Zei­chen.

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433.

– Die Klug­heit, Hel­le, Här­te und Lo­gi­ci­tät als Waf­fe wi­der die Wild­heit der Trie­be. Letz­te­re müs­sen ge­fähr­lich und un­ter­gang­dro­hend sein: sonst hat es kei­nen Sinn, die Klug­heit bis zu die­ser Ty­ran­nei aus­zu­bil­den. Aus der Klug­heit ei­nen Ty­ran­nen ma­chen: – aber dazu müs­sen die Trie­be Ty­ran­nen sein. Dies das Pro­blem. – Es war sehr zeit­ge­mäß da­mals. Ver­nunft wur­de = Tu­gend = Glück.

Lö­sung: Die grie­chi­schen Phi­lo­so­phen ste­hen auf der glei­chen Grundt­hat­sa­che ih­rer in­ne­ren Er­fah­run­gen wie So­kra­tes: fünf Schritt weit vom Ex­ceß, von der An­ar­chie, von der Aus­schwei­fung, – al­les dé­ca­dence-Men­schen, Sie emp­fin­den ihn als Arzt: Lo­gik als Wil­le zur Macht, zur Selbst­herr­schaft, zum »Glück«. Die Wild­heit und An­ar­chie der In­stink­te bei So­kra­tes ist ein dé­ca­dence-Sym­ptom. Die Su­per­föta­ti­on der Lo­gik und der Ver­nunft-Hel­lig­keit ins­glei­chen. Bei­de sind Ab­nor­mi­tä­ten, Bei­de ge­hö­ren zu ein­an­der.

Kri­ti­k. Die dé­ca­dence ver­räth sich in die­ser Prae­ok­kup­pa­ti­on des »Glücks« (d. h. des »Heils der See­le«, d. h. sei­nen Zu­stand als Ge­fahr emp­fin­den). Ihr Fa­na­tis­mus des In­ter­es­ses für »Glück« zeigt die Pa­tho­lo­gie des Un­ter­grun­des: es war ein Le­bens­in­ter­es­se, Ver­nünf­tig sein oder zu Grun­de gehn war die Al­ter­na­ti­ve, vor der sie Alle stan­den. Der Mora­lis­mus der grie­chi­schen Phi­lo­so­phen zeigt, daß sie sich in Ge­fahr fühl­ten …

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434.

Wa­rum Al­les auf Schau­spie­le­rei hin­aus­kam. – Die ru­di­men­tä­re Psy­cho­lo­gie, wel­che nur die be­wuß­ten Mo­men­te des Men­schen rech­ne­te (als Ur­sa­chen), wel­che »Be­wußt­heit« als At­tri­but der See­le nahm, wel­che einen Wil­len (d. h. eine Ab­sicht) hin­ter al­lem Thun such­te: sie hat­te nur nö­thig, auf die Fra­ge, ers­tens: Was will der Men­sch? zu ant­wor­ten: Das Glück (man durf­te nicht sa­gen »Macht«: das wäre un­mo­ra­lisch ge­we­sen); – folg­lich ist in al­lem Han­deln des Men­schen eine Ab­sicht, mit ihm das Glück zu er­rei­chen. Zwei­tens: wenn that­säch­lich der Mensch das Glück nicht er­reicht, wor­an liegt das? An den Fehl­grif­fen in Be­zug auf die Mit­tel. – Wel­ches ist un­fehl­bar das Mit­tel zum Glück? Ant­wort: die Tu­gen­d. – Wa­rum die Tu­gend? – Weil sie die höchs­te Ver­nünf­tig­keit ist und weil Ver­nünf­tig­keit den Feh­ler un­mög­lich macht, sich in den Mit­teln zu ver­grei­fen: als Ver­nunft ist die Tu­gend der Weg zum Glück. Die Dia­lek­tik ist das be­stän­di­ge Hand­werk der Tu­gend, weil sie alle Tr­übung des In­tel­lekts, alle Af­fek­te aus­schließt.

That­säch­lich will der Mensch nicht das »Glück«. Lust ist ein Ge­fühl von Macht: wenn man die Af­fek­te aus­schließt, so schließt man die Zu­stän­de aus, die am höchs­ten das Ge­fühl der Macht, folg­lich Lust ge­ben. Die höchs­te Ver­nünf­tig­keit ist ein kal­ter, kla­rer Zu­stand, der fern da­von ist, je­nes Ge­fühl von Glück zu ge­ben, das der Rausch je­der Art mit sich bringt …

Die an­ti­ken Phi­lo­so­phen be­kämp­fen Al­les, was be­rauscht, – was die ab­so­lu­te Käl­te und Neu­tra­li­tät des Be­wußt­seins be­ein­träch­tigt … Sie wa­ren con­se­quent, auf Grund ih­rer falschen Voraus­set­zung: daß Be­wußt­sein der ho­he, der obers­te Zu­stand sei, die Voraus­set­zung der Voll­kom­men­heit, – wäh­rend das Ge­gent­heil wahr ist– – –

So­weit ge­wollt wird, so­weit ge­wußt wird, giebt es kei­ne Voll­kom­men­heit im Thun ir­gend­wel­cher Art. Die an­ti­ken Phi­lo­so­phen wa­ren die größ­ten Stüm­per der Pra­xis, weil sie sich theo­re­tisch ver­urt­heil­ten, zur Stüm­pe­reiIn pra­xi lief Al­les auf Schau­spie­le­rei hin­aus: – und wer da­hin­ter kam, Pyr­rho z. B., urt­heil­te wie Je­der­mann, näm­lich daß in der Güte und Recht­schaf­fen­heit die »klei­nen Leu­te« den Phi­lo­so­phen weit über sind.

Alle tiefe­ren Na­tu­ren des Al­ter­thums ha­ben Ekel an den Phi­lo­so­phen der Tu­gen­d ge­habt: man sah Streit­ham­mel und Schau­spie­ler in ih­nen. (Urt­heil über Pla­to: sei­tens Epi­kur’s, sei­tens Pyr­rho’s).

Re­sul­tat: In der Pra­xis des Le­bens, in der Ge­duld, Güte und ge­gen­sei­ti­gen För­de­rung sind ih­nen die klei­nen Leu­te über: – un­ge­fähr das Urt­heil, wie es Do­stoiew­sky oder Tol­stoi für sei­ne Mu­schiks in An­spruch nimmt: sie sind phi­lo­so­phi­scher in der Pra­xis, sie ha­ben eine be­herz­te­re Art, mit dem No­thwen­di­gen fer­tig zu wer­den …

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435.

Zur Kri­tik des Phi­lo­so­phen. – Es ist ein Selbst­be­trug der Phi­lo­so­phen und Mora­lis­ten, da­mit aus der dé­ca­dence her­aus­zu­tre­ten, daß sie ge­gen die­sel­be an­kämp­fen. Das steht au­ßer­halb ih­res Wil­lens, und, so we­nig sie es an­er­ken­nen, spä­ter ent­deckt man, wie sie zu den kräf­tigs­ten För­de­rern der dé­ca­dence ge­hört ha­ben.

Neh­men wir die Phi­lo­so­phen Grie­chen­lands, z. B. Pla­to. Er lös­te die In­stink­te ab von der Po­lis, vom Wett­kampf, von der mi­li­tä­ri­schen Tüch­tig­keit, von der Kunst und Schön­heit, von den Mys­te­ri­en, von dem Glau­ben an Tra­di­ti­on und Groß­vä­ter … Er war der Ver­füh­rer der no­bles: er selbst ver­führt durch den ro­tu­rier So­kra­tes … Er ne­gir­te alle Voraus­set­zun­gen des »vor­neh­men Grie­chen« von Schrot und Korn, nahm Dia­lek­tik in die All­tags-Pra­xis auf, con­spir­ir­te mit den Ty­ran­nen, trieb Zu­kunfts­po­li­tik und gab das Bei­spiel der voll­kom­mens­ten In­stinkt-Ab­lö­sung vom Al­ten. Er ist tief, lei­den­schaft­lich in al­lem An­ti­hel­le­ni­schen

Sie stel­len der Rei­he nach die ty­pi­schen dé­ca­dence-For­men dar, die­se großen Phi­lo­so­phen: die mo­ra­lisch-re­li­gi­öse Idio­syn­kra­sie, den An­ar­chis­mus, den Ni­hi­lis­mus άδιάφορία, den Cy­nis­mus, die Ver­här­tung, den He­do­nis­mus, den Re­ak­tio­nis­mus.

Die Fra­ge vom »Glück«, von der »Tu­gend«, vom »Heil der See­le« ist der Aus­druck der phy­sio­lo­gi­schen Wi­der­sprüch­lich­keit in die­sen Nie­der­gangs­na­tu­ren: es fehlt in den In­stink­ten das Schwer­ge­wicht, das Wo­hin.

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436.

In­wie­fern die Dia­lek­tik und der Glau­be an die Ver­nunft noch auf mo­ra­li­schen Vor­urt­hei­len ruht. Bei Pla­to sind wir als einst­ma­li­ge Be­woh­ner ei­ner in­tel­li­giblen Welt des Gu­ten noch im Be­sitz ei­nes Ver­mächt­nis­ses je­ner Zeit: die gött­li­che Dia­lek­tik, als aus dem Gu­ten stam­mend, führt zu al­lem Gu­ten (– also gleich­sam »zu­rück« –), Auch Des­car­tes hat­te einen Be­griff da­von, daß in ei­ner christ­lich-mo­ra­li­schen Grund­denk­wei­se, wel­che an einen gu­ten Gott als Schöp­fer der Din­ge glaubt, die Wahr­haf­tig­keit Got­tes erst uns uns­re Sin­ne­s­urt­hei­le ver­bürg­t. Ab­seits von ei­ner re­li­gi­ösen Sank­ti­on und Ver­bür­gung uns­rer Sin­ne und Ver­nünf­tig­keit – wo­her soll­ten wir ein Recht auf Ver­trau­en ge­gen das Da­sein ha­ben! Daß das Den­ken gar ein Maaß des Wirk­li­chen sei, – daß was nicht ge­dacht wer­den kann, nicht ist, – ist ein plum­pes non plus ul­tra ei­ner mo­ra­lis­ti­schen Ver­trau­ens­se­lig­keit (auf ein es­sen­ti­el­les Wahr­heits-Prin­cip im Grund der Din­ge), an sich eine tol­le Be­haup­tung, der uns­re Er­fah­rung in je­dem Au­gen­bli­cke wi­der­spricht. Wir kön­nen ge­ra­de gar nichts den­ken, in­wie­fern es ist

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437.

Die ei­gent­li­chen Phi­lo­so­phen der Grie­chen sind die vor So­kra­tes (– mit So­kra­tes ver­än­dert sich Et­was). Das sind al­les vor­neh­me Per­son­na­gen, ab­seits sich stel­lend von Volk und Sit­te, ge­reift, ernst bis zur Düs­ter­keit, mit lang­sa­mem Auge, den Staats­ge­schäf­ten und der Di­plo­ma­tie nicht fremd. Sie neh­men den Wei­sen alle großen Con­cep­tio­nen der Din­ge vor­weg: sie stel­len sie sel­ber dar, sie brin­gen sich in Sys­tem. Nichts giebt einen hö­he­ren Be­griff vom grie­chi­schen Geist, als die­se plötz­li­che Frucht­bar­keit an Ty­pen, als die­se un­ge­woll­te Voll­stän­dig­keit in der Auf­stel­lung der großen Mög­lich­kei­ten des phi­lo­so­phi­schen Ideals. – Ich sehe nur noch Eine ori­gi­na­le Fi­gur in dem Kom­men­den: einen Spät­ling, aber nothwen­dig den letz­ten, – den Ni­hi­lis­ten Pyr­rho: – er hat den In­stinkt ge­gen al­les Das, was in­zwi­schen oben­auf ge­kom­men war, die So­kra­ti­ker, Pla­to, den Ar­tis­ten «Op­ti­mis­mus Hera­klit’s. (Pyr­rho greift über Pro­ta­go­ras zu De­mo­krit zu­rück …)

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Die wei­se Mü­dig­keit: Pyr­rho. Un­ter den Nied­ri­gen le­ben, nied­rig. Kein Stolz. Auf die ge­mei­ne Art le­ben; eh­ren und glau­ben, was Alle glau­ben. Auf der Hut ge­gen Wis­sen­schaft und Geist, auch Al­les, was bläht … Ein­fach: un­be­schreib­lich ge­dul­dig, un­be­küm­mert, mild. άπάδεια, mehr noch πραύτης Ein Bud­dhist für Grie­chen­land, zwi­schen dem Tu­mult der Schu­len auf­ge­wach­sen; spät ge­kom­men; er­mü­det; der Pro­test des Mü­den ge­gen den Ei­fer der Dia­lek­ti­ker; der Un­glau­be des Mü­den an die Wich­tig­keit al­ler Din­ge. Er hat Alex­an­der ge­sehn, er hat die in­di­schen Bü­ßer ge­sehn. Auf sol­che Spä­te und Raf­fi­nir­te wirkt al­les Nied­ri­ge, al­les Arme, al­les Idio­ti­sche selbst ver­füh­re­risch. Das nar­ko­ti­sirt: das macht aus­stre­cken (Pas­cal), Sie emp­fin­den and­rer­seits, mit­ten im Ge­wim­mel und ver­wech­selt mit Je­der­mann, ein we­nig Wär­me: sie ha­ben Wär­me nö­thig, die­se Mü­den … Den Wi­der­spruch über­win­den; kein Wett­kampf; kein Wil­le zur Aus­zeich­nung: die grie­chi­schen In­stink­te ver­nei­nen. (Pyr­rho leb­te mit sei­ner Schwes­ter zu­sam­men, die Heb­am­me war.) Die Weis­heit ver­klei­den, daß sie nicht mehr aus­zeich­net; ihr einen Man­tel von Ar­muth und Lum­pen ge­ben; die nied­rigs­ten Ver­rich­tun­gen thun: auf den Markt gehn und Milch­schwei­ne ver­kau­fen … Sü­ßig­keit; Hel­le; Gleich­gül­tig­keit; kei­ne Tu­gen­den, die Ge­bär­den brau­chen: sich auch in der Tu­gend gleich­set­zen: letz­te Selb­st­über­win­dung, letz­te Gleich­gül­tig­keit.

91,49 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
5253 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783962815295
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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