Читать книгу: «Zur Genealogie der Moral», страница 3

Шрифт:

9

— "Aber was reden Sie noch von vornehmeren Idealen! Fügen wir uns in die Thatsachen: das Volk hat gesiegt—oder 'die Sklaven' oder 'der Pöbel' oder 'die Herde' oder wie Sie es zu nennen belieben—wenn dies durch die Juden geschehen ist, wohlan! so hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission. 'Die Herren' sind abgethan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen durch einander gemengt)—ich widerspreche nicht; unzweifelhaft ist aber diese Intoxikation gelungen. Die 'Erlösung' des Menschengeschlechts (nämlich von 'den Herren') ist auf dem besten Wege; Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an Worten!). Der Gang dieser Vergiftung, durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint unaufhaltsam, ihr Tempo und Schritt darf sogar von nun an immer langsamer, feiner, unhörbarer, besonnener sein—man hat ja Zeit ... Kommt der Kirche in dieser Absicht heute noch eine nothwendige Aufgabe, überhaupt noch ein Recht auf Dasein zu? Oder könnte man ihrer entrathen? Quaeritur. Es scheint, dass sie jenen Gang eher hemmt und zurückhält, statt ihn zu beschleunigen? Nun, eben das könnte ihre Nützlichkeit sein ... Sicherlich ist sie nachgerade etwas Gröbliches und Bäurisches, das einer zarteren Intelligenz, einem eigentlich modernen Geschmacke widersteht. Sollte sie sich zum Mindesten nicht etwas raffinieren? ... Sie entfremdet heute mehr, als dass sie verführte ... Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns, nicht ihr Gift ... Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das Gift ..."— Dies ist der Epilog eines "Freigeistes" zu meiner Rede, eines ehrlichen Thiers, wie er reichlich verrathen hat, überdies eines Demokraten; er hatte mir bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hören. Für mich nämlich giebt es an dieser Stelle viel zu schweigen. —

10

Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem "Ausserhalb," zu einem "Anders," zu einem "Nicht-selbst": und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks—diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber—gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren,—ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Werthungsweise der Fall: sie agirt und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen,—ihr negativer Begriff "niedrig," "gemein," "schlecht" ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im Verhältniss zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff "wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!" Wenn die vornehme Werthungsweise sich vergreift und an der Realität versündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre, welche ihr nicht genügend bekannt ist, ja gegen deren wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehr setzt: sie verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre, die des gemeinen Mannes, des niedren Volks; andrerseits erwäge man, dass jedenfalls der Affekt der Verachtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens, gesetzt dass er das Bild des Verachteten fälscht, bei weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit der der zurückgetretene Hass, die Rache des Ohnmächtigen, sich an seinem Gegner—in effigie natürlich—vergreifen wird. In der That ist in der Verachtung zu viel Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Wegblicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zu viel eignes Frohgefühl, als dass sie im Stande wäre, ihr Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzuwandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden nuances nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von sich abhebt; wie sich fortwährend eine Art Bedauern, Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu dem Ende, dass fast alle Worte, die dem gemeinen Manne zukommen, schliesslich als Ausdrücke für "unglücklich," "bedauernswürdig" übrig geblieben sind ( vergleiche deiloV [deilos], deilaioV [deilaios], ponhroV [poneros], mocJthroV [mochtheros] letztere zwei eigentlich den gemeinen Mann als Arbeitssklaven und Lastthier kennzeichnend)—und wie andrerseits "schlecht," "niedrig," "unglücklich" nie wieder aufgehört haben, für das griechische Ohr in Einen Ton auszuklingen, mit einer Klangfarbe, in der "unglücklich" überwiegt: dies als Erbstück der alten edleren aristokratischen Werthungsweise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet (—Philologen seien daran erinnert, in welchem Sinne oizuroV [oïzyros], anolboV [anolbos], tlhmwn [tlemon], duVtuchein [dystychein] , xnmjora [ xymphora] gebraucht werden). Die "Wohlgeborenen" fühlten sich eben als die "Glücklichen"; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu construiren, unter Umständen einzureden, einzulügen (wie es alle Menschen des Ressentiment zu thun pflegen); und ebenfalls wussten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich nothwendig aktive Menschen, von dem Glück das Handeln nicht abzutrennen,—das Thätigsein wird bei ihnen mit Nothwendigkeit in's Glück hineingerechnet (woher eu prattein [eu prattein] seine Herkunft nimmt)—Alles sehr im Gegensatz zu dem "Glück" auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, "Sabbat," Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz passivisch auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt ( gennaioV [gennaios] "edelbürtig" unterstreicht die nuance "aufrichtig" und auch wohl "naiv"), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen. Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat:—sie ist eben hier lange nicht so wesentlich als die vollkommne Funktions-Sicherheit der regulirenden unbewussten Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine Feinde, seine Unfälle, seine Unthaten selbst nicht lange ernst nehmen können—das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtniss für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm begieng, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er—vergass). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit Einem Ruck von sich, das sich bei Anderen eingräbt; hier allein ist auch das möglich, gesetzt dass es überhaupt auf Erden möglich ist—die eigentliche "Liebe zu seinen Feinden." Wie viel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch!—und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe ... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem Nichts zu verachten und sehr Viel zu ehren ist! Dagegen stelle man sich "den Feind" vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment concipirt—und hier gerade ist seine That, seine Schöpfung: er hat "den bösen Feind" concipirt, "den Bösen," und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen "Guten" ausdenkt—sich selbst! ...

11

Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen, der den Grundbegriff "gut" voraus und spontan, nämlich von sich aus concipirt und von da aus erst eine Vorstellung von "schlecht" sich schafft! Dies "schlecht" vornehmen Ursprungs und jenes "böse" aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses—das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Complementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche That in der Conception einer Sklaven-Moral—wie verschieden stehen die beiden scheinbar demselben Begriff "gut" entgegengestellten Worte "schlecht" und "böse" da! Aber es ist nicht derselbe Begriff "gut": vielmehr frage man sich doch, wer eigentlich "böse" ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet: eben der "Gute" der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment. Hier wollen wir Eins am wenigsten leugnen: wer jene "Guten" nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zu einander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen,—sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubthiere. Sie geniessen da die Freiheit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der Wildniss schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschliessung und Einfriedung in den Frieden der Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildniss zurück:—römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger—in diesem Bedürfniss sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff "Barbar" auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus ihrer höchsten Cultur heraus verräth sich ein Bewusstsein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühmten Leichenrede, "zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten und Schlimmen aufrichtend" [Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, 2. 41]). Diese "Kühnheit" vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äussert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen—Perikles hebt die raJumia [rhathymia] der Athener mit Auszeichnung hervor—ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit—Alles fasste sich für Die, welche daran litten, in das Bild des "Barbaren," des "bösen Feindes," etwa des "Gothen," des "Vandalen" zusammen. Das tiefe, eisige Misstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder—ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem Jahrhunderte lang Europa dein Wüthen der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutsverwandtschaft besteht). Ich habe einmal auf die Verlegenheit Hesiods [Werke und Tage: 107-201] aufmerksam gemacht, als er die Abfolge der Cultur-Zeitalter aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken suchte: er wusste mit dem Widerspruch, den ihm die herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewaltthätige Welt Homer's bot, nicht anders fertig zu werden, als indem er aus Einem Zeitalter zwei machte, die er nunmehr hinter einander stellte—einmal das Zeitalter der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so wie jene Welt im Gedächtniss der vornehmen Geschlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eignen Ahnherrn hatten; sodann das eherne Zeitalter, so wie jene gleiche Weit den Nachkommen der Niedergetretenen, Beraubten, Misshandelten, Weggeschleppten, Verkauften erschien: als ein Zeitalter von Erz, wie gesagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos, Alles zermalmend und mit Blut übertünchend. Gesetzt, dass es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als "Wahrheit" geglaubt wird, dass es eben der Sinn aller Cultur sei, aus dem Raubthiere "Mensch" ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier herauszuzüchten, so müsste man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiment-Instinkte, mit deren Hilfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge der Cultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, dass deren Träger zugleich auch selber die Cultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegentheil nicht nur wahrscheinlich—nein! es ist heute augenscheinlich! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit—sie stellen den Rückgang der Menschheit dar! Diese "Werkzeuge der Cultur" sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen "Cultur" überhaupt! Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist: aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr los werden können? Und ist das nicht unser Verhängniss? Was macht heute unsern Widerwillen gegen "den Menschen"?—denn wir leiden am Menschen, es ist kein Zweifel.— Nicht die Furcht; eher, dass wir Nichts mehr am Menschen zu fürchten haben; dass das Gewürm "Mensch" im Vordergrunde ist und wimmelt; dass der "zahme Mensch," der Heillos-Mittelmässige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als "höheren Menschen" zu fühlen gelernt hat;—ja dass er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Gerathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes ...

12

— Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche? Das, womit ich allein nicht fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht? Schlechte Luft! Schlechte Luft! Dass etwas Missrathenes in meine Nähe kommt; dass ich die Eingeweide einer missrathenen Seele riechen muss! ... Was hält man sonst nicht aus von Noth, Entbehrung, bösem Wetter, Siechthum, Mühsal, Vereinsamung? Im Grunde wird man mit allem Übrigen fertig, geboren wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein; man kommt immer wieder einmal an's Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Siegs,—und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Noth immer nur noch straffer anzieht.— Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir—gesetzt, dass es himmlische Gönnerinnen giebt, jenseits von Gut und Böse—einen Blick, gönnt mir Einen Blick nur auf etwas Vollkommnes, zu-Ende-Gerathenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphirendes, an dem es noch Etwas zu fürchten giebt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen complementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um desswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf! ... Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt unsre grösste Gefahr, denn dieser Anblick macht müde ... Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in's Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere—der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer "besser" ... Hier eben liegt das Verhängniss Europa's—mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüsst. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde—was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist? ... Wir sind des Menschen müde ...

13

— Doch kommen wir zurück: das Problem vom andren Ursprung des "Guten," vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluss.— Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen "diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm,—sollte der nicht gut sein?" so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals Nichts auszusetzen, sei es auch, dass die Raubvögel dazu ein wer spöttisch blicken werden und vielleicht sich sagen: "wir sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm."— Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere, dass sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere. Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken—vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein "Subjekt" versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein "Sein" hinter dem Thun, Wirken, Werden; "der Thäter" ist zum Thun bloss hinzugedichtet,—das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen "die Kraft bewegt, die Kraft verursacht" und dergleichen,—unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobnen Wechselbälge, die "Subjekte" nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische "Ding an sich"): was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affekte Rache und Hass diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den, es stehe dem Starken frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein:—damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein ... Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: "lasst uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist Jeder, der nicht vergewaltigt der Niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergiebt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der allem Bösen aus dem Wege geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns den Geduldigen, Demüthigen, Gerechten"—so heisst das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als: "wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts thun, wozu wir nicht stark genug sind"—aber dieser herbe Thatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl todt stellen, um nicht "zu viel" zu thun, bei grosser Gefahr), hat sich Dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst—das heisst doch sein Wesen, sein Wirken, seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit—eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine That, ein Verdienst sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie "Subjekt" nöthig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die Seele) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen.

Бесплатный фрагмент закончился.

190,56 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
210 стр.
ISBN:
9783754172186
Редактор:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают