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Читать книгу: «Der Tee der drei alten Damen», страница 5

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Sie haben sicher schon Heu gesehen, das Pech gehabt hat. Es war halb trocken, dann regnete es drauf, dann trocknete es wieder, dann wurde es wieder naß, und dann wurde es eingeführt, noch halb feucht. Genau wie dieses Heu sah Pillevuits Bart aus. Er war matt und unansehnlich, gar nicht mehr stolz wogend, wie eine blonde Fahne.

4

Madge Lemoyne hatte die Abendvisite in aller Eile erledigt. Sie wollte in die Stadt, sie war unruhig. Wem sollte sie von ihrem merkwürdigen Patienten erzählen? Sie beschloß Professor Dominicé aufzusuchen und mit ihm über Jane Pochon zu sprechen. Als sie mit ihrem Zweisitzer gegen fünf Uhr vor dem Hause des Professors hielt, sprang Ronny als erster aus dem Wagen. Er ging kläffend auf einen Mann los, der an einer Straßenecke stand und in die Luft starrte. Der junge Mann (er war lang, sehr lang, trug rote drahtige Haare über einem mit Sommersprossen besäten Gesicht) schnalzte auf sonderbare Art mit der Zunge, stieß Laute aus, die wie ein zerquetschtes Gebell klangen, worauf Ronny einen kurvenreichen Freudentanz aufführte und den Mann stürmisch begrüßte. Auf die Rufe seiner Herrin hörte er nicht. Madge mußte näher kommen und den Hund am Halsband packen, auch das nützte wenig. Ronny erstickte fast an seiner Freude.

Der Fremde verbeugte sich vor Madge (den Hut konnte er nicht ziehen, denn er war barhaupt). »Entschuldigen Sie«, sagte er, »Cyrill Simpson O'Key.«

»Oh, Sie sind Engländer?« fragte Madge und wurde rot. Das ärgerte sie, denn schließlich war sie eine berufstätige Frau und kein Backfisch, der errötet, wenn er von einem Herrn angesprochen wird. Das weitere Gespräch wurde auf Englisch geführt.

»Ich bin Ire«, sagte O'Key todernst und tätschelte Ronny, der vor Begeisterung über die neue Bekanntschaft fast in hysterische Krämpfe verfiel.

»Kennen Sie denn Ronny?« fragte Madge.

»Nein«, O'Key wackelte ein wenig mit der Nase, was Madge zum Lachen brachte. »Ich kenne nur die Airedaler Sprache und weiß, wie man einem Hunde ein Kompliment zu machen hat.«

Darauf entstand ein Schweigen. Ronny bellte hinter einem Radfahrer her, der einen großen Korb auf dem Rücken trug. Ronnys Antipathie gegen die moderne Technik erstreckte sich auch auf Fahrräder.

»Ja, ich muß weiter«, seufzte Madge, und sie empfand ihr Seufzen selber als unmotiviert. »Einen Besuch machen.«

»Oh«, sagte O'Key, »Sie wollen in dieses Haus? Zu dem Professor? Nehmen Sie sich in acht, Miss Lemoyne, der Professor wird beobachtet.«

»Beobachtet?« Madge war erschrocken. »Von wem denn?«

»Erstens von mir. Denn auch ich muß ihn sprechen und weiß nicht recht, wie ich es anstellen soll. Ihn einfach besuchen geht nicht, ihn auf der Straße abfangen gefällt mir nicht. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll. Wissen Sie mir keinen Rat?«

»Ja, warum wollen Sie ihn denn sprechen? Wer sind Sie eigentlich?« wollte Madge wissen.

Das sei immerhin schwer zu definieren, erwiderte O'Key – und ganz verschwommen kam es ihm zum Bewußtsein, daß es ihm Schwierigkeiten machte, die Frau neben ihm anzulügen; sie gingen auf und ab, und Ronny versuchte während dieser Zeit die psychologischen Reaktionen eines Köters zu prüfen, der traurig an einer Ecke saß, indem er diesen Hund sachlich in den Schwanz kniff, – Ronny war nicht umsonst der Hund einer Seelenärztin – ja, wiederholte O'Key, er sei also eigentlich Reporter und von seiner Zeitung ausgesandt, um über eine dunkle Angelegenheit zu berichten. Es sei da ein junger Engländer, ein Diplomat, auf ziemlich mysteriöse Art in die Gefilde der Seeligen hinübergewechselt – Madge schaute bei dieser Ausdrucksweise kurz auf, schwieg aber – und das Londoner Publikum fühle sich von geheimnisvollen Begebenheiten nur allzu sehr angezogen. Als ob der Tod eines chinesischen Kulis nicht ebenso geheimnisvoll sei. Aber Kulis gebe es eben Millionen und diplomatische Sekretäre nur eine kleine Menge und das erkläre vielleicht zum Teil das Interesse eines hungrigen Publikums. Nun ja, kurz und gut, der Professor Dominicé scheine da etwas zu wissen, über den Tod dieses Sekretärs Crawley, und da sei noch die Geschichte mit dem Apotheker, die sei auch düster, und auch da habe der werte Gelehrte seine Hand im Spiele, es empfehle sich daher, ein Interview zu riskieren, nicht wahr? »Lachen Sie«, befahl O'Key plötzlich streng, dann stieß er selber ein Gewieher aus, das seine Zähne zeigte.

»Warum?« Hatte Madge es mit einem Verrückten zu tun? Aber der vielleicht Verrückte ließ ihr keine Zeit, auch nur den Versuch einer Diagnose zu stellen, er hatte ihren Arm gepackt.

»Lachen Sie«, befahl er wieder, »es muß aussehen, als ob wir alte Bekannte wären, und Sie müssen denken, ich hätte Ihnen soeben einen fabelhaften Witz erzählt. Hahaha«, und Madge lachte ängstlich mit. »Noch einmal!« Und noch einmal lachte Madge.

»Ich will Ihnen erklären, warum. Dort drüben an der Ecke steht ein reichlich unsympathischer Zweibeiner mit eingefettetem Schnurrbart, einer fettigen Krawatte und seine Hose hat Wülste über den Knien. Das ist Herr Dériaz, dem soeben telephonisch ein Rüffel überwiesen worden ist, und zwar von meinem Freunde, dem Kommissar Pillevuit. Weil nämlich besagter Geheimpolizist Dériaz gestern abend nicht aufgepaßt hat. Und nun geht es den Herrn gar nichts an, wer Sie sind, und in welchen Beziehungen Sie zu dem Professor stehen. Wir werden also zusammen den Professor besuchen, und Herr Dériaz wird dann seiner Behörde mitteilen können, daß ein Herr und eine Dame… nun ja, das wird er schon gut machen.«

Viertes Kapitel

1

Professor Dominicé führte ein unregelmäßiges Leben. Aber dies störte niemand, da er keine Familie und keine besorgte Gattin hatte. Wohl wurde er von seiner Haushälterin, eben jener Jane Pochon, deren Anblick auf die Seelenärztin Madge Lemoyne so niederdrückend wirkte, ausgiebig tyrannisiert, aber der Professor war über diese Tyrannei hoch erhaben. Er fühlte sie kaum.

Er führte ein unregelmäßiges Leben, sagten wir. Das heißt, er machte die Nacht zum Tag, stand spät auf, erst gegen Mittag, brauchte dann zwei, drei Stunden, bis er das Elend eines neubeginnenden Tages überwunden hatte; darum hatte er auch seine Vorlesungsstunden auf den Nachmittag gelegt. Er las an der Universität zwischen fünf und sechs Uhr und dies nur dreimal in der Woche, es war mehr ein Ehrenamt als ein Beruf. Obwohl zu sagen ist, daß Professor Dominicé in diesen drei wöchentlichen Stunden wahrscheinlich Wichtigeres zu sagen hatte, als gewisse seiner Kollegen in langatmigen Vorlesungen.

Heute war Professor Dominicé erst um zwei Uhr aufgestanden. Als er um sechs Uhr morgens heimgekommen war, hatte er gar nicht sein Schlafzimmer aufgesucht, sondern sich angekleidet auf das Sofa gelegt, das in seinem Arbeitszimmer stand. Nur den grauen Gehrock hatte er sorgfältig über einen Stuhl gehängt, den steifen Kragen darauf gelegt und die breite Plastronkrawatte unter einige Wälzer auf seinem Schreibtisch zum Glätten ausgebreitet. Hernach war er durch einen zähen Schlaf geschwommen, einen unruhigen und quälenden, so wie man durch ein bewegtes Wasser schwimmt, dessen Wellen bedrohend wirken. Aber selbst diesen Schlaf, so unruhig er auch gewesen war, hatte er noch als Wohltat empfunden, dem Erwachen gegenüber: dies war nun bewußte, graue Pein, aus der es keine Fluchtmöglichkeit gab.

Der Professor stand auf, ein nervöses Gähnen, das sich stets wiederholte und sich durch keinen Willensakt unterdrücken ließ, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er ging ins Schlafzimmer, wusch sich, bürstete mit zwei Bürsten seinen Apostelbart, sah lange in den Spiegel, schüttelte den Kopf: er fand sich abstoßend, murmelte Worte, die übersetzt etwa –grausige Fresse‹ bedeuteten, ging wieder ins Arbeitszimmer zurück, legte Kragen und Krawatte an, schloß eine Schublade auf und entnahm ihr eine Flasche, die mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Dann war ein zitterndes Klirren zu hören; es war sehr still im Zimmer. Der Professor seufzte tief auf, er blieb noch einige Augenblicke sitzen, den Kopf in die Hand gestützt, das Gähnen hatte aufgehört, trocken wurden seine vorher tränenden Augen, und die Pupillen verengerten sich; sie waren schließlich genau so groß wie Stecknadelköpfe.

Wir wollen nicht allzu geheimnisvoll tun. Professor Dominicé war Morphinist, und dies seit einem Jahre. Wenige Leute nur wußten von dieser Tatsache, die wohl in seinem Leben keine allzu einschneidende Rolle gespielt hätte, wenn durch sie nicht eine rastlose Neugierde in ihm erwacht wäre, eine Neugierde, die ihn dazu trieb, die Wirkung der verschiedenen Nervengifte am lebenden Objekt zu studieren. Doch davon später.

Zwei Stunden saß der Professor ungestört an seinem Schreibtisch, der kleine Haufen Zettel, der links neben ihm lag, wurde immer dünner, während rechts von ihm die ins reine geschriebenen Foliobogen den schon vorhandenen Stoß vermehrten. Von Zeit zu Zeit nahm er seine Zuflucht zu der Flasche, dann war das leise Klirren im Raume wieder zu hören. Auf dem Schreibtisch brannte die Lampe, die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, der Professor haßte das Tageslicht. Und beim Lichte der Lampe betrachtete er manchmal die Hand, welche die Feder hielt, es war eine magere Hand, mit jugendlicher Haut, ohne die blauen hervortretenden Venen, die sonst Greisenhände verunzieren, und jedesmal, wenn der Professor diese seine Hand betrachtete, schüttelte er den Kopf, so, als betrachte er einen fremden, unsympathischen Gegenstand.

Schwerfällig stand er auf, als die Türglocke schrillte. Er nahm noch einen tiefen Zug aus der soeben gedrehten Zigarette, murmelte einen undeutlichen Fluch über Jane Pochon, die immer noch nicht erschienen war, und ging dann öffnen.

»Mein liebes Kind«, sagte er, und es war wirklich Freude in seiner Stimme, »wie freundlich von Ihnen, mich besuchen zu kommen. Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie habe warten lassen, aber ich war in meine Arbeit vertieft. Aber Sie sind nicht allein? Nun, auch Ihr Begleiter ist mir willkommen.«

O'Key wurde vorgestellt. Er verbeugte sich, die drei traten ins Zimmer, der Professor befreite einige Stühle von ihrer papiernen Last, lud mit breiter Armbewegung zum Sitzen ein, ließ sich selbst vor dem Schreibtisch nieder und stellte die Lampe so, daß sie wie ein Scheinwerfer ins Zimmer blendete, während sie seinen Kopf im Schatten ließ; dann faltete er die Hände und sagte: »Nun?« Aber bevor noch seine Besucher antworten konnten, störte ein Kratzen an der Türe: Ronny begehrte Einlaß, er fand es taktlos, daß man ihn draußen hatte stehenlassen, im dunkeln Vorraum, wo es nichts Interessantes zu erleben gab.

»Mein Gott«, sagte Dominicé, »wir haben den Hund vergessen«, und er ging zur Türe, um sie zu öffnen.

Ronny begrüßte den Professor demutsvoll und freudig. Er war dem Professor zugetan, auf eine sonderbar respektvolle Art, so, als habe er einen guten Begriff von dessen geistiger Überlegenheit. Sein Benehmen ihm gegenüber war ohne Familiarität, er sprang nicht an ihm hoch, sondern hob nur die rechte Vorderpfote, die der Professor auch, sich niederbückend, vorsichtig schüttelte. Nach dieser Begrüßung war Ronny zufrieden, er wartete noch, bis der Professor sich gesetzt hatte, dann erst ließ er sich nieder, rieb noch ein wenig seine zottige Schnauze an den Schuhen des bärtigen Gottes und schloß mit einem tief befriedigten Seufzer die Augen.

»Professor«, eröffnete Madge die Unterredung, »Sie machen mir Sorge. Wissen Sie, daß die Polizei sich für Sie interessiert?«

»So? Das wundert mich nicht. Die Polizei leidet, wie mir scheint, unter der allgemeinen Arbeitslosigkeit. Auch sie hat nicht genügend zu tun, darum beschäftigt sie sich mit meiner im kriminologischen Sinne wohl herzlich unbedeutenden Persönlichkeit.«

Darauf schien es den beiden Besuchern, als lächle der Professor – seine Züge waren kaum erkennbar im Schatten – und er verschränkte friedlich seine sehr weißen Finger.

»Professor«, sagte Madge, »ich würde die Sache nicht zu spaßhaft nehmen. Unten vor Ihrer Türe steht ein Geheimpolizist, der Sie beobachten und wohl auch Ihre Flucht verhindern soll.«

»Flucht? Aber, mein liebes Kind, ich denke doch gar nicht an Flucht. Ich bin ein alter, harmloser Mann, der ein vielleicht nicht ganz regelmäßiges Leben führt, aber das ist doch noch kein Grund zu einer Verhaftung. Oder?«

O'Key mischte sich ein.

»Wo waren Sie letzte Nacht, Professor?«

Es entstand ein Schweigen, das so schwer im Raum lag, daß Ronny plötzlich die Augen aufschlug, hellwach, den Kopf hob, ein rollendes Stöhnen hervorgurgelte – aber ein sanfter Klaps des Professors beruhigte ihn wieder.

»Mein junger Freund«, sagte Dominicé, und einen Augenblick war sein Gesicht hellbeleuchtet, als er sich vorbeugte, »glauben Sie nicht, daß dies eine Privatangelegenheit ist?«

»Nein«, sagte O'Key, es klang nicht unfreundlich, nur respektvoll und feststellend. »Denn dort, wo Sie diese Nacht waren, ist ein Verbrechen geschehen.«

»Nun, wenn Sie wissen, wo ich gewesen bin, so ist Ihre Frage müßig, mein junger Freund, so ist sie eine Untersuchungsrichterfrage und ich wäre sehr dafür, daß wir dieses Gespräch, falls wir es weiterführen wollen, doch mit menschlichem Anstand fortsetzen. Oder sind Sie ein Emissär der Polizei?«

»Herr O'Key«, sagte Madge und wurde rot, »ist ein Reporter, den eine Londoner Zeitung zur Aufklärung von Crawleys Tod nach Genf geschickt hat.«

»So, von Crawleys Tod…« Dominicé zerdehnte die Worte. »Und an Crawleys Tode soll ich wohl auch schuldig sein.«

»Es scheint so«, sagte O'Key gereizt. Er war über sich selber ärgerlich, denn er mußte sich gestehen, daß der alte Herr da vor ihm auf eine absonderliche Art bedrückend wirkte. Nicht nur, daß es den Eindruck machte, als habe sich der Professor mit einem gläsernen Panzer umgeben, der ihn unantastbar machte, auch sein ganzes Gehaben zeugte von einer Überlegenheit, die niederdrückend wirkte, vielleicht gerade weil sie dem alten Herrn gar nicht bewußt war. »Woher kamen Sie, als Sie in jener Nacht Crawley fanden?«

»Ich bin ein Nachtwandler, lieber Freund«, sagte der Professor mit einer entwaffnenden Herzlichkeit. »Ich bin spazieren gegangen, weil die Nacht schön war, ich habe zuerst die Wellen des Sees belauscht und die Gespräche der Bäume, dann habe ich versucht, die Geschichten zu enträtseln, die auf den Fronten der Häuser eingegraben sind, in Rissen und Sprüngen, und nur wenige vermögen diese Schrift zu entziffern. Da habe ich zufällig Crawley gefunden… und ihn nicht einmal erkannt.«

»Flüchten Sie nicht in die Lyrik, Professor. Crawley war an jenem Abend bei Ihnen, oder wollen Sie das leugnen?«

»Leugnen?« wiederholte Dominicé, »was für sonderbare Worte gebrauchen Sie, mein junger Freund? Ich habe nichts zu verbergen. Crawley war bei mir, das ist wahr, er interessierte sich für eine neue Arbeit von mir, die er ins Englische übertragen wollte. Über diese Arbeit sprachen wir. Und dann verließ er mich, es mochte gegen elf Uhr sein. Und als ich seinen Körper sah, später in der Nacht, so ist es gar nicht erstaunlich, daß ich ihn nicht erkannte. Das Gesicht war verkrampft, Crawley war halb entkleidet, und Sie werden selbst wissen, wie sehr ein Mensch durch seine Kleidung verändert wird.«

»Aber, daß er vergiftet war, das wußten Sie sofort?«

»Gifte! Gifte, lieber Freund sind meine Spezialität, die letzten Jahre habe ich mich mit den Wirkungen der Gifte beschäftigt. Fragen Sie Dr. Thévenoz, meinen Schüler. Die Gifte verändern die Seele, nicht wahr, liebes Kind?« Dominicé wandte sich an Madge, die schweigsam dasaß und mit ängstlich verzerrtem Mund dem Redekampf der beiden Männer folgte. Aber Madge antwortete nichts.

»War Eltester, der Apotheker, ein guter Freund von Ihnen?« bohrte O'Key weiter, »besuchten Sie ihn oft? Waren Sie so gut mit ihm bekannt, daß Sie auch nächtelang mit ihm zusammensein konnten?«

»Sie werden indiskret, junger Mann, und ich bewundere meine Geduld, die mich Ihr Fragen ertragen läßt.«

O'Key wollte auffahren, da aber legte Madge ihre Hand auf seinen Arm. »Ruhig, O'Key, so kommen wir nicht weiter. Sie müssen uns nicht für neugierig halten, Professor, wir wollen Ihnen doch helfen, verstehen Sie das nicht? Wissen Sie nicht, daß Sie in einer bösen Situation sind? Ich habe O'Key zu Ihnen gebracht, damit er Sie kennenlernt, damit er versteht, daß es unmöglich ist, Sie zu beschuldigen, aber Sie dürfen es mir nicht zu schwer machen.«

Wahrhaftig, Madge hatte Tränen in den Augen, ratlos stand Ronny in der Mitte des Zimmers; er ging zu jedem, stieß ihn sanft an mit der Schnauze, und seine Blicke bettelten um Frieden; aber auch hier wurde es deutlich, von welch kleinen Zufälligkeiten beginnende Friedensaktionen manchmal abhängig sein können. Ronny fühlte nämlich den Stich eines Flohs, er mußte abhocken und sich kratzen. So kam es, daß die folgende Verständigung ohne seine Hilfe zustande kam.

Professor Dominicé lenkte ein.

»Ich glaube Ihnen, mein Kind, auch Ihnen, junger Mann, glaube ich den guten Willen. Ihre Fragen entstammen wohl nur zu einem kleinen Teil der Neugierde. Sie wollen mir helfen, sagen Sie, und Sie machen Ihre Hilfe abhängig von der Beantwortung einer Reihe von Fragen. Nun, diese Fragen kann ich nicht beantworten. Nehmen Sie meine Behauptung wörtlich: ich kann nicht, und nicht: ich will nicht. Ich bin gebunden, durch ein Versprechen, nennen Sie es ruhig ein Gelübde, also durch ein Gelübde bin ich gebunden. Sie müssen mir einfach glauben, daß ich weder über Crawleys Tod noch über Eltesters Unfall etwas weiß. Diese Dinge sind geschehen ohne mein Zutun. Ich muß es einfach tragen, wenn ich verdächtigt werden sollte. Ich werde mich wehren, und wenn ich Ihrer Unterstützung sicher sein kann, junger Mann, dann will ich zufrieden sein.«

»Aber, Professor«, rief O'Key, »Sie werden eine Verhaftung doch gar nicht überstehen.«

»Warum nicht?« fragte Madge, während der Professor den Kopf im Schatten verbarg. »Mein liebes Kind«, sagte Dominicé, »Sie haben noch viel zu lernen. Haben Sie noch nicht bemerkt, daß ich Morphinist bin. Und in meinem Alter – eine Entwöhnungskur… Ich weiß nicht, ob ich das aushalten werde.«

»Cyrill«, sagte Madge, und sie schob ihren Arm unter den Arm des Reporters, »Cyrill, Sie müssen dem guten Mann helfen.« Dann erst merkte sie, daß sie den Mann, den sie vor knapp einer Stunde kennengelernt hatte, mit dem Vornamen angeredet hatte, nicht nur das, daß sie Arm in Arm mit ihm dasaß, aber trotzig verzog sie das Gesicht und lehnte sich noch enger an O'Key.

»Der arme Thévenoz«, sagte Dominicé in die Stille.

Aber nicht einmal diese Bemerkung machte Eindruck auf Madge. Sie mußte lächeln, denn ihr fiel eine Kindheitserinnerung ein. Nahe beim Sommerhaus ihres Vaters war ein hoher Baum gestanden, der, ganz nahe am Wipfel, zwei Äste getragen hatte. Dort war sie oft gesessen, mit baumelnden Füßen über der grünen Leere, und neben ihr war der Sohn des Gärtners gesessen, ein rothaariger Bursche. Wie alt war sie damals gewesen? Zehn Jahre? Aber sie hatte den Buben sehr lieb gehabt, er hatte eine lange bewegliche Nase gehabt, wie ein Kaninchen, und er war der einzige gewesen, unter all ihren Kameraden, den sie nicht tyrannisiert hatte. Merkwürdig, daß O'Key sie an jenen Jungen erinnerte. Sie hatte eine Zärtlichkeit für ihn gefühlt, schon unten auf der Straße, eine merkwürdig heitere Zärtlichkeit, die nicht zu vergleichen war mit dem verkrampften Zustand, der sie jedesmal ergriff, wenn sie mit Thévenoz zusammen war. Sie blieb an O'Key gelehnt, auch als es draußen läutete. Dominicé ging öffnen.

2

»Es ist Thévenoz«, sagte der Professor und versperrte die Türe mit seinen breiten Schultern.

»Er soll nur kommen«, sagte Madge und richtete sich ein wenig auf. Aber als sie Thévenoz sah, bedauerte sie ihre Haltung, sie ging ihm entgegen und schüttelte ihm die Hand.

Thévenoz sah schlecht aus. Seine dünnen Haare waren glanzlos und sein Gesicht schien bedeckt zu sein mit einem staubigen Gewebe. Er war zu müde, um sich über irgend etwas zu wundern, er starrte an Madge vorbei in das grelle Licht der Lampe, die immer noch, wie ein Scheinwerfer, gegen das Innere des Zimmers gerichtet war. Endlich schien ihn die Helle doch zu stören, er schloß die Lider und drückte Daumen und Zeigefinger auf die Augen.

»Er ist uns doch abhanden gekommen«, sagte Thévenoz und nichts hätte verzweifelter wirken können, als sein schwacher Versuch, zu kohlen, »und Rosenstock hat sein zugenähtes Knopfloch zerrissen, zum Zeichen der Trauer und als Symbol für das Zerreißen der Kleider. Er hat Klagetöne ausgestoßen, und ich habe ihn aus dem Zimmer werfen müssen. Aber denken Sie, Meister, die Russin ist wieder dagewesen, kurz vor dem Exitus. Sie kam ins Zimmer, beugte sich über Eltester, strich ihm mit den Fingern über die Stirn, und dann verschwand sie wieder, lautlos, schweigend. Ich hab sie aufhalten wollen, nichts zu machen. Sie hätten eher einen Schatten aufhalten können. Was glauben Sie, Meister, sollte ich der Polizei davon erzählen?«

»Das wird nicht nötig sein, Thévenoz.« Professor Dominicé saß wieder am Schreibtisch, das Gesicht in den Schatten des Lampenschirmes getaucht. »Der Herr dort steht mit zwei modernen Gewalten auf vertrautem Fuße, mit der Presse und mit der Polizei, er wird Ihre Bestellung ohne weiteres übernehmen.« Und Dominicé legte ein Bein über das andere, verschränkte mit einer sanften Bewegung die Hände und wartete geduldig auf die Wirkung seines Ausspruches. Es sah aus, als wolle er sich auf eine kindliche Art für lästige Ausfragerei rächen, und doch wirkte diese Rache viel eher traurig als boshaft. Thévenoz blickte böse in die Ecke, in der O'Key neben Madge saß. Aber er schwieg, nur Madge sagte ruhig:

»Jonny, du mußt nicht alles glauben, was dein Meister sagt. O'Key will uns helfen, das hat er mir gesagt, und ich glaub's ihm. Es ist nur schwer, mit dem Professor zu verkehren, er ist so mißtrauisch und so verschwiegen.«

Da räusperte sich O'Key und während sein Blick auf Thévenoz' Füßen haften blieb, fragte er – er ahmte den zögernden Tonfall Thévenoz' nach –: »War Ihr… Besuch, Ihr… Krankenbesuch interessant, Dr. Thévenoz?«

Thévenoz sah hilflos aus, wie ein ertappter Schuljunge. In diesem Augenblick, und mit diesem Ausdruck, fühlte Madge mit Thévenoz ein Mitleid, das in des Wortes wahrster Bedeutung als brennend zu bezeichnen war. So brennend, daß es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie sah diesen Doktor Thévenoz, den sie oft gequält, oft verspottet hatte, mit einer Deutlichkeit, die an Hellsichtigkeit grenzte: diesen grundanständigen Kerl, der sich abplagte, gewissenhaft, mit andern, mit sich selbst, dem es nie gelingen würde, sich durchzusetzen, weil er eben zu anständig war, weil er sich zu große Mühe gab, die andern zu verstehen, und weil er es nicht verstand, auch gegen sich selbst rücksichtsvoll zu sein. Und sie verglich ihn mit dem Manne an ihrer Seite, jenem O'Key, den sie erst seit einer Stunde kannte (war es wirklich nur eine Stunde, und nicht Jahre?): ›Vergleichen kann man die beiden nicht‹, dachte sie, ›denn das ist der Befreier.‹

Ihr Leben in den letzten Jahren schien ihr plötzlich dem Zustand jener Eichhörnchen zu gleichen, die in einer Drahttrommel die Pfoten bewegen, und die Trommel dreht sich, aber die Tiere kommen doch nicht vom Platz. Thévenoz, der war eben solch ein Eichhörnchen, eingesperrt in die Trommel des Berufs, und die Trommel drehte sich, man wurde müde, aber man kam doch nicht vom Platz. Sie sehnte sich danach, mit O'Key irgendwohin, weit weg zu gehen, in der Sonne am Meer zu liegen und den Sand durch die Finger rinnen zu lassen; keinen weißen Mantel mehr anziehen zu müssen, keine Kranken mehr zu sehen, keine Visite mehr zu machen, nur dazuliegen, im warmen Sand, oder über die Felsen zu klettern. Mit diesem O'Key verstand man sich ohne zu reden, er wußte sicher viel, nahm einen an der Hand, ging mit einem fort – und alles war leicht und gar nicht mehr kompliziert. Und wieder sah sie den Baum auf dem väterlichen Landgut und den kleinen rothaarigen Jungen, mit dem sie, ganz oben in den Zweigen, tagelang geschwiegen hatte. Sie seufzte, und dann hörte sie Thévenoz antworten:

»Das sind meine Angelegenheiten, und ich habe es nicht gerne, wenn man sich in meine Angelegenheiten mischt.«

›Wie komisch doch die Männer sind‹, dachte Madge, ›sie sind so stolz darauf, eigene Angelegenheiten zu haben. Was heißt das, eigene Angelegenheiten! Sie wollen sich ja nur interessant machen.‹

O'Key schien Ähnliches zu denken, denn er grinste und sein Grinsen war reichlich frech. Dann erhob er sich und sagte abschließend:

»Ich werde also Fräulein Lemoyne heimbringen und Sie beide Ihren Angelegenheiten überlassen. Wenn aber diese ›Angelegenheiten‹ reif für die Öffentlichkeit sein werden, so möchte ich mich empfohlen halten. Ich könnte vielleicht dann noch nützlich sein.« Er machte zwei große Schritte, stand vor dem Professor, schüttelte ihm die Hand, verbeugte sich vor Thévenoz und verließ das Zimmer; doch vergaß er nicht, Madge und ihrem Hunde Ronny den Vortritt zu lassen.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 августа 2016
Объем:
300 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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