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Читать книгу: «Old Shatterhand, das bin ich», страница 3

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Schon an diesen beiden Beispielen lässt sich ersehen, wie eng bei Karl May Leben und Werk verbunden sind, wie er gravierende Ereignisse seines Lebens mit seiner Phantasie bearbeitet und in die Handlung seiner Bücher einfließen lässt. Ein ganzes Heer von Karl-May-Interpreten ist vor allem in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts tätig gewesen und hat diese Zusammenhänge aufgedeckt.

III. Ein junger Mann wird kriminell

»Meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant.«

Karl May

Nach Gnadengesuchen von May selbst und vom Pfarrer seines Heimatortes, die schließlich auch vom Seminarleiter in Waldenburg unterstützt werden, kann Karl May immerhin nach einer weiteren Aufnahmeprüfung seine Ausbildung zum Volksschullehrer am Seminar in Plauen fortsetzen.

Auf die Ähnlichkeit der Lebensumstände in einem Lehrerseminar mit denen in einer Kaserne ist schon hingewiesen worden. In Plauen war dies nicht anders als in Waldenburg. Sittenhaftigkeit im Sinn der Amtskirche wurde großgeschrieben und rigoros erzwungen.

So sah die Aufsichtsbehörde zum Beispiel Onanie als schlimmes Laster der Seminarzöglinge an und versuchte radikal gegen diese »Seuche« vorzugehen. Es fanden, von Lehrern und Ärzten betrieben, regelrechte Hexenjagden statt, von denen abstruse Protokolle überliefert sind. Auch im Rechenschaftsbericht über den Zustand des Lehrerseminars Plauen im Jahre 1860 nimmt dieses Thema einen ungewöhnlich breiten Raum ein. Die Tendenz, die dabei deutlich wird, ist typisch für die damaligen Vorstellungen von Sexualerziehung. Die Sprache, in der sie sich ausdrückt, ist für uns heute nicht ohne Komik:

»Was die traurigen sexuellen Verirrungen betrifft, so hat das Lehrercollegium in der Gemäßheit der hohen Verordnung vom 10. October sich bemüht, alles, was in seinen Kräften steht, zu thun und dem Übel zu steuern und die Gefallenen mit Gottes Hülfe zu retten. Der gehorsamst Unterzeichnete hat nicht nur durch fortgesetzte Beobachtung und sorgfältige Beaufsichtigung der Zöglinge sowie durch mehrmalige Erinnerung an die Heiligkeit des 6. Gebotes und durch eindringliche Warnung vor der fraglichen Versündigung den Verirrungen zu begegnen gesucht, sondern auch den Verirrten seelsorgerlich sich angenommen. Er ließ alle, welche dem Oberlehrer Kühn die Sünde eingestanden hatten, nach und nach einzeln, manche zu wiederholten Malen, zu sich kommen, führte ihnen mit väterlichem Ernste die Unsittlichkeit und Verderbnis der Verirrung zu Gemüthe und forderte sie unter Bezeugung wahrer Theilnahme auf, über ihr gegenwärtiges Verhalten in fraglicher Beziehung ein wahrheitsgetreues, offenes Bekenntnis abzulegen; mehrere erklärten, dass sie wohl früher, aber im Seminar nie in dieser Beziehung sich vergangen hätten; die anderen betheuerten, dass sie, seitdem sie zur Erkenntnis der Verwerflichkeit und Schädlichkeit der Verirrung gekommen seien, sich fest vorgenommen hätten, sich nie wieder in der Art zu versündigen, und dass sie diesem Vorsatz bisher treu geblieben seien. Nachdem sie diese Erklärung auf die Erinnerung, dass sie dieselbe im Angesichte Gottes gegeben ansehen sollten, wiederholt und mit ihres Namens Unterschrift bekräftigt hatten, wurden sie eindringlich ermahnt, ohne Unterlass zu wachen und zu beten, um nicht wieder auf den Weg des Verderbens zu gerathen.«21

Ganz abgesehen von der verteufelnden Haltung der Schulbehörde und der Seminarleitung in puncto Selbstbefriedigung, vermitteln diese Ausführungen auch eine Vorstellung vom bigotten und unfreien Geist, der in diesen Anstalten herrschte. Vorhaltungen über die Sündhaftigkeit des Menschen hörten die angehenden Lehrer jeden Tag. Viele von ihnen mögen sie später an ihre eigenen Schüler weitergegeben haben.

Am 9., 10. und 12. September 1861 unterzieht sich der neunzehnjährige Karl May der Lehramtskandidatenprüfung. Werfen wir einen Blick auf die Liste der Prüfungsthemen.

»Von dem apostolischen Ausspruch ›Lasset alles ordentlich zugehen‹ anknüpfend, erstreckte sich das Examen über die Schulordnung, wobei hauptsächlich auf die innere Seite derselben Rücksicht genommen wurde [...]. Der Referent [Prüfer] ließ sich dann zum Behuf der Prüfung in der Weltgeschichte die Völker in der Reihe aufführen, in welcher sie auf den Schauplätzen der Geschichte hervorgetreten sind bis zum Russischen Reiche. [...] hierauf legte der Oberlehrer Lohse, an den Kriegsschauplatz des letzten Jahrzehnts anknüpfend, einzelne Fragen aus der Geographie über Krim, Russland, Frankreich und China vor.«

Bei der Prüfung nimmt die Befragung zu religiösen Themen einen breiten Raum ein. So wird May etwa über Johannes 4,14 »katechisiert«. In Grammatik wird er über das Eigenschaftswort geprüft. Danach hat jeder Examinand einen Choral mit den anwesenden Schulknaben zu singen. Zuletzt wird von den Examinanden eine Predigt aus der Hofackerschen Sammlung vorgelesen.

Zwei der elf Kandidaten fallen durch. May selbst besteht mit der Gesamtnote »gut«. In »Verhalten» erhält er die Beurteilung »Mit Zufriedenheit«, was darauf hindeutet, dass vergangene Sünden nicht ganz vergessen sind.

Seine erste Stelle als Hilfslehrer tritt Karl May am 1. Oktober 1861 an der Armenschule in Glauchau an. Er verdient nun 175 Taler im Jahr samt 25 Taler Mietzuschuss - und gerät nach knapp drei Wochen abermals in Schwierigkeiten, die sich nach den Akten wie folgt darstellen:

»Es erscheint hier der hiesige Kaufmann Herr Ernst Theodor Meinhold in der großen Färbergasse u. gibt an, dass der Hilfslehrer Carl Friedrich May bei ihm seit dem 5ten October d.J. sich in Wohnung und Kost gegeben, während dieser Zeit aber in der unwürdigsten Weise durch Lügen u. Entstellungen aller Art sich bemüht habe, die Ehefrau von ihm abwendig und seiner schändlichen Absichten geneigt zu machen. [...] Herr Meinhold führt ferner aus, dass der p. May ohne sein Vorwissen den Lehrling verführt habe, ihm aus der Ladenkasse 1 rt 5 ngr zu borgen. Wenn nun auch letztere Summe zurückgegeben sei, so findet er dennoch das Versehen des May mit einem jungen, unerfahrenen Menschen unverantwortlich, da er als Lehrer einen solchen in seinen Pflichten zu befestigen, nicht aber irre zu machen habe.«22

Die Sache wird untersucht. May bestreitet schändliche Absichten, muss aber ungehörige und unsittliche Annäherungen einräumen. 1861 wird May aus seiner ersten Lehrerstelle fristlos entlassen.

In der Autobiographie Karl Mays wird der Vorfall nicht erwähnt. Wohl aber ist von Forschern ein Satz aus dem Kolportageroman Der Weg zum Glück auf die junge Frau bezogen worden, der May zu nahe getreten sein soll. Die Stelle lautet: »Ihre vollen Formen, das blendende Weiß ihres Teints, die prächtigen Augen, die berauschenden Lippen, das – das Alles nahm seine Sinne gefangen.«

Auch eine Bemerkung in dem Roman Die Todeskarawane scheint auf diese Affäre bezogen: »Saduk verkehrte viel im Haus des Muschtashed und sah die Tochter desselben. Sie gefiel ihm und er war ein schöner Mann. Er [...] wagte es, zu ihr von seiner Neigung zu sprechen. Der Muschtashed befand sich unbemerkt in der Nähe und ließ ihn festnehmen.«23

Nach Auskunft einer Schwester Karl Mays wurden er und Frau Meinhold bei einem Kuss überrascht.

Es ist ungeklärt, ob das Kind, das Henriette Meinhold neun Monate später zur Welt bringt, mit May gezeugt worden ist.

Welcher Art Mays Gefühle bei dieser Beziehung gewesen sind, bekennt der junge Lehrer Max Walther in Der Weg zum Glück: »Ich liebte sie wirklich von ganzem Herzen. Nach dem Scheiden schwärmte ich für sie und dichtete auf sie Liebesgedichte, wie ich sie so schön vielleicht in meinem Leben nicht wieder dichten werde.«24

Es gelingt Karl May innerhalb kurzer Zeit, als Lehrer in einer Fabrikschule in Altchemnitz eingestellt zu werden. Seine Schüler sind von schwerer Arbeit erschöpfte Kinder.

Als er in diesem Winter zum Weihnachtsfest zu seinen Eltern heimfährt, nimmt er eine Uhr, eine Pfeife und eine Zigarrenspitze jenes Mannes mit, mit dem er das Zimmer teilt, wohl nicht in der Absicht, sie zu stehlen, wohl aber um mit den Gegenständen daheim zu renommieren.

»Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides besessen; nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahe lag, sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien. Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm gewöhnlich gefällig und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Er hatte von seinen Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte sie eine neue bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzubezahlen hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb das zuweilen; ich behielt sie sogar stundenlang in der Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht mir gehörte, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach der Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich merken, daß ihm die Teilung der Wohnung nicht behage. Da kam Weihnachten. Ich teilte ihm mit, daß ich die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach Ernstthal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht gedacht.« (Leben und Streben, S. 103f.)

Der rechtmäßige Besitzer, jener Buchhalter also, der May, aus welchen Gründen auch immer, nicht wohlgesinnt ist, stellt Strafanzeige. May wird festgenommen, er streitet zunächst ab, die Gegenstände in seinem Besitz zu haben. Sie werden dann aber bei ihm gefunden. Schließlich behauptet er, er habe sie nach Weihnachten zurückgeben wollen. In einer durch zwei Instanzen laufenden Gerichtsverhandlung wird May zu sechs Wochen Gefängnis nicht wegen Diebstahls, sondern wegen »widerrechtlicher Benutzung von fremden Sachen« verurteilt. Diesmal nützen auch Gnadengesuche nichts. Vom 8. September bis zum 20. Oktober 1863 verbüßt er die verhängte Strafe im Gerichtsgefängnis zu Chemnitz. Nach seiner Entlassung sind alle Versuche, wieder als Lehrer tätig zu werden, erfolglos. Sein Name ist aus der Liste der Lehramtskandidaten gestrichen worden.

May ist tief betroffen. Er empfindet die Strenge, mit der die Justiz gegen ihn vorgegangen ist, als empörend ungerecht – zumal er vermutet, dass seine soziale Herkunft aus der Unterschicht, die Kerzenaffäre und das Disziplinarverfahren in Glauchau sich bei diesem Richterspruch strafverschärfend ausgewirkt haben.

Die Konsequenz, die er daraus zieht, mag man als unreif beurteilen, sie ist aber andererseits aus seiner Situation heraus verständlich. Er sinnt auf Rache. »Die Rache sollte darin bestehen, daß ich, der durch die Bestrafung unter die Verbrecher Geworfene, nun auch wirklich Verbrechen beging.«25

Über die Ereignisse zwischen Karl Mays Entlassung aus dem Gefängnis und seiner erneuten Straffälligkeit ist wenig bekannt. Seine Behauptung, er sei in dieser Zeit in Amerika gewesen, gilt als widerlegt. Nun gibt es aber in der Nähe seines Heimatortes ein Dorf mit Namen Amerika. Bei Mays Hang zur Erfindung phantastischer Geschichten ist es möglich, dass ihn diese Namensgleichheit zu der Behauptung inspiriert haben könnte, er sei um diese Zeit in Amerika gewesen. Wahrscheinlicher ist, dass er eine Auswanderung plante, sie aber nicht ausführen konnte, weil er keinen Pass bekam.

Er verfasste in diesen zwei Jahren Kompositionen. Auch gibt er später an, schon damals literarische Arbeiten konzipiert zu haben. Tatsächlich scheint er sich mit Sprach- und Musikunterricht und als Leiter des örtlichen Gesangvereins eher kümmerlich durchs Leben geschlagen zu haben.

Irgendwann dürften seine spärlichen Einkünfte selbst für das Existenzminimum nicht mehr ausgereicht haben. Die Folge von Straftaten, die er nun begeht, um sich über Wasser zu halten, rufen bei einem unvoreingenommenen Beobachter, ohne dass sie entschuldigt werden sollen, ein leises Schmunzeln hervor. Bezeugen sie doch auch, ganz ähnlich wie die Geschichte um den so genannten Hauptmann von Köpenick, die Autoritätsgläubigkeit weiter Bevölkerungsschichten damals.

Den ersten Streich führt May in Penig, einer Kleinstadt nördlich seines Heimatortes Ernstthal. Er bestellt dort, unter dem Namen Dr. med. Heilig auftretend, bei einem Schneider fünf Kleidungsstücke, die auch angefertigt werden. Als er sie abholt, spielt er die Rolle eines Mediziners so gekonnt, dass ihn der Schneider bittet, einen augenkranken Hausbewohner zu untersuchen. Er stellt ein Rezept für den Kranken aus und entschwindet dann, unter dem Vorwand, er müsse zu genauerer Diagnose daheim bestimmte Instrumente holen, mit den angefertigten Kleidungsstücken.

In Chemnitz erbeutet er unter falschem Namen und als Lehrer auftretend einige Pelze. Auch in Leipzig erschwindelt er sich, diesmal unter dem Namen Hermes – bekanntlich in der griechischen Mythologie der Gott der Kaufleute und Diebe – einen Biberpelz. Die Beute lässt er durch einen ahnungslosen Mittelsmann in einem Pfandhaus versetzen.

Die Polizei kommt ihm auf die Spur. Er wird verhaftet, wie es im Protokoll heißt, mit einem Beil unter dem Rock, und ist sofort geständig. Einen Teil der Beute hat er versetzt, einige der ergaunerten Kleidungsstücke werden noch bei ihm gefunden. Im Juni 1865 wird er wegen dreifachen Betruges zu vier Jahren und einem Monat Arbeitshaus verurteilt.

Die Erwartung, die die Gesellschaft mit einer im Arbeitshaus zu verbüßenden Haft verbindet, ist es, den Straffälligen durch Arbeit zu bessern. May kommt zunächst auf die Schreibstube, fertigt später Geld- und Zigarrentaschen an und wird schließlich wegen guter Führung in die oberste Disziplinarklasse befördert. Er wird als Musiker im Arbeitshaus tätig, hilft dem Direktor bei statistischen Arbeiten und scheint auch in der immerhin 4000 Bände umfassenden Gefängnisbibliothek tätig geworden sein. Den Grundstock für seine recht umfassende literarische Bildung dürfte er dort gelegt haben.

Seine Vorstellungen über die Lesebedürfnisse eines Strafgefangenen formuliert er später in seinen Lebenserinnerungen. Dabei drückt er in Wirklichkeit aus, welche Bedeutung Lesen für ihn selbst besitzt:

»Wenn ich behaupte, daß ich die literarischen Bedürfnisse der Volksseele kennenlernte, so bitte ich, diese Bemerkung ernst zu nehmen. Man soll nicht sagen, daß jeder Volksbibliothekar genau dieselben Erfahrungen machen könne, denn das ist nicht wahr. Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei letzterem kann das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedürfnis werden […].« (Leben und Streben, S. 132)

Wer als heutiger Karl-May-Leser findet, hin und wieder tue der Autor bei der Zugabe von Moralin in seinen Romanen etwas zu viel des Guten, wird die Ursache dafür in dessen Erfahrungen im Gefängnis finden:

»Der Gefangene hat während der Detention [Haft] auf alle seine leiblichen Sonderrechte zu verzichten. In leiblicher Beziehung ist er nicht mehr Person, sondern nur noch Sache, eine Nummer, die in den Büchern eingetragen wird und bei der man ihn auch nennt. Um so kräftiger, ja ungestümer tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich, ihre Rechte und Bedürfnisse, geltend zu machen. Der Leib ist gezwungen, sich in die Gefängniskleidung und Gefängniskost zu fügen. Wehe, wenn man den Fehler begeht, den gleichen Zwang auf die Seele ausüben zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus den Gefängniskleidern, und sie verlangt mit Heißhunger nach einer Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu befreien. Man glaube mir, kein Sträfling wünscht das Böse für sich; sie alle wünschen das Gute. Im tiefsten Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur körperlich, sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der scheinbar Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, hungrige Seele sich gut kleiden und gut nähren, nämlich gut im ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den sonntäglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen Besuchen des Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten? Aus dem Zusammenleben mit den Strafgefährten? Man beantworte diese Fragen, wie man will, die Hauptquelle aller Erziehung, Besserung und Emporhebung kann bei derartig gegebenen Verhältnissen nur die Bibliothek sein.« (ebenda, S. 132f.)

Nun lässt sich gegen diese idealistischen Ansichten manches einwenden, beispielsweise ist Mays Vorstellung, alle Strafgefangenen wünschten sich einen ethischen Crash-Kurs, doch etwas arg blauäugig; ebenso sein Vertrauen in deren Willen zum Guten und in die Wirkung »guter« Bücher, was immer man überhaupt darunter verstehen will. Eines jedoch deckt dieses Zitat auf: die Wurzel, aus der sein Wille entsprang, später als Schriftsteller eine Literatur der »Erziehung, Besserung und Emporhebung« zu schaffen, ein Programm, das er auf alle seine Publikationen – freilich nicht immer zum Vorteil für ihre literarisch-künstlerische Qualität – angewendet hat.

Es entsteht auch schon hier im Arbeitshaus das so genannte Repertorium C. May, eine Auflistung jener Schriften, die er später einmal schreiben will.26

Anfang November 1868 wird May vorzeitig entlassen.

Er kehrt in seinen Heimatort zu den Eltern zurück, kann dort jedoch nicht recht Fuß fassen. Wann immer Straftaten bekannt werden, fällt der Verdacht zunächst auf ihn. So wird er etwa einer Brandstiftung bezichtigt und nicht einmal die eigene Mutter mag glauben, dass er es nicht gewesen ist.

Erste literarische Versuche, wenn sie überhaupt einen Abnehmer finden, bringen nicht genug ein.

Eine neue Kette von Straftaten beginnt. May gibt sich als Polizeileutnant aus, der angebliches Falschgeld beschlagnahmen soll. Ein zweiter Versuch ähnlicher Art misslingt, aber er entkommt seinen Verfolgern.

Er lernt zwei Amerikaner kennen, die ihm anbieten, ihn als Hauslehrer für ihre Kinder in die Neue Welt mitzunehmen. Seinen Eltern teilt er von unterwegs mit, er werde dieses Angebot annehmen. Es ist dann aber offenbar nichts daraus geworden.

Nach Sachsen zurückgekehrt, findet er im Haus seines Paten vorübergehend Unterschlupf. Als ihm bei dem Schmied der Boden zu heiß wird, versteckt er sich, unter Mitnahme von einigen Gebrauchsgegenständen von geringem Wert, in einer Höhle, die heute noch eine Touristenattraktion und Pilgerstätte für Karl-May-Fans darstellt.

Er stiehlt Billardbälle in einem Restaurant und verkauft sie – eine ziemlich kümmerliche Form des Gelderwerbs -, er stiehlt ein Pferd und schlägt es für 15 Taler wieder los. Er gibt sich bei einer Familie in Mülsen St. Jakob als Angestellter eines Advokaten aus, der die Nachricht von einer Erbschaft überbringt. Es gelingt ihm, die Männer der Familie fortzuschicken. Als er mit den Frauen allein ist, behauptet er, in Wahrheit eine Haussuchung wegen des Verdachts von verstecktem Falschgeld vornehmen zu müssen, und erbeutet dabei 28 Taler.

In einem Kegelhaus, in dem er eine Scheibe einschlägt und eingestiegen ist, um dort zu nächtigen, wird er schließlich gestellt. Bei ihm werden falsche Papiere gefunden, die ihn als Generalstaatsanwalt Dr. Schwarze ausweisen.

Man bringt ihn zu den verschiedenen Orten seiner Untaten, um ihn den Geschädigten gegenüberzustellen. Ihm gelingt die Flucht. Obwohl Polizei und Feuerwehr zu einer großen Suchaktion aufgeboten werden, bleibt er vorerst verschwunden. Er besucht zwei Frauen, Mutter und Tochter, in Plößnitz und gibt sich bei ihnen als Schriftsteller und illegitimer Fürstensohn aus.

Schließlich wird er in der Nacht vom 3. zum 4. Januar 1870 in Algersdorf, einem Ort in Nordböhmen, das damals zu Österreich gehört, aufgegriffen und zur Überprüfung seiner Identität nach Tetschen gebracht. Er erfindet eine haarsträubende Geschichte, die er aber offenbar mit großer Überzeugungskraft vorbringt. Heinz Stolte hat sie nach den Gerichtsakten rekonstruiert und dabei gezeigt, dass hier eigentlich der Erfindungsmechanismus eines Romanautors tätig wird. Offenbar braucht es nur einen Namen, Albin Wadenbach, und schon entsteht um diesen Namen eine Familie, eine ganze Welt.

»Niemals, wir wissen das schon, hat auch späterhin der Schriftsteller, der Erzähler Karl May davon lassen können, wenigstens in der literarischen Fiktion, das große ›Ich‹ selber zu sein, was er aus Tiefen der Traumkraft hervor brachte: Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Hier freilich, in der Amtsstube von Bensen, war dies, sich identisch zu erweisen mit seinem Traumgebilde, das dringendste Gebot der Stunde, war es gewiss noch mehr Hochstapelei als Literatur.«27

Ergänzen möchte man: Aber so verschieden waren die Situationen nicht. Hier die Ordnungshüter, dort die Leser. Wahrscheinlich hatten es die Beamten auf dem Polizeiposten noch nie zuvor mit einem Menschen zu tun, der eine erfundene Geschichte, oder soll man sagen eine Lüge, so erfolgreich und überzeugend und auch mit so vielen schwer nachprüfbaren Details versehen vorzutragen in der Lage war. Hermann Wohlgschaft hat in seiner großen Karl-May-Biographie auf die Ähnlichkeit der Geschichte mit Max Frischs Roman Stiller hingewiesen. Auch da behauptet jemand, nicht der zu sein, der er »amtlich« sein sollte. Der Germanist Heinz Stolte hat die Geschichte um die Identität des Landstreichers Wadenbach nach den Originalakten rekonstruiert. Er erzählt sie kommentierend so:

»Aus Orby ist er gekommen, weit über das Meer, von der Insel Martinique, und wir verstehen wohl schon, was diese Insel bedeutet: Sie ist so viel wie Otahiti, wie die Insel der Glückseligen, die Goldinsel der alten Sagen, die Insel Utopia des Thomas Morus. Und Orby (das man auf keiner Landkarte von Martinique hat auffinden können), dieses Orby ist vielleicht auch nichts anderes als jenes ›Orplid, mein Land, das ferne leuchtet‹, was dem gewesenen Seminaristen Karl May aus Mörikes Gedichten im Kopf rumort.

Exotische Ferne, Märchenland steigt herauf, und wer dem Werden eines zentralen Motivs in der Erzählwelt Karl Mays näher nachspüren wollte, käme wohl auch darauf, dass dieser Insel-Mythos, der am Anfang steht, und der Mythos von Sitara, der das Ende kennzeichnet, ausgesponnen im Epos Ardistan und Dschinnistan, aus gleichem Ursprung kommen, ja, dass sie ein und dasselbe sind. Dort jedenfalls, im Jenseits, im Garten Eden, liegt seine wahre Heimat, das glückliche Idyll seiner Kindheit und Jugend. Nichts darin von den Kümmernissen und Nöten von Ernstthal, dem ernsten Tal seiner wirklichen Herkunft. Zwar ist die Mutter schon lange tot, aber der Vater ein reicher Mann. Tabak, Vanille und Hanf wuchsen auf seinen Plantagen, und er, Heinrich Wadenbach, konnte es sich leisten, seinem ältesten Sohn Albin eine ausgezeichnete Erziehung und Bildung mitzugeben. Nicht auf einer gewöhnlichen Schule wurde er unterrichtet, nein, er hat immer einen Hauslehrer gehabt und Privatunterricht genossene Die Landwirtschaft hat er als Praktikant erlernt, aber auch - nebenher - bei einem berühmten Arzt namens Legrand ›practische Kenntnisse in der Medizin‹ erworben. Die Sache mit den praktischen Kenntnissen in der Medizin mag uns hier ja besonders ins Auge springen: Es ist dies eine große Versagung seiner Jugend. Es muss ihn zutiefst frustriert haben, dass sein Lebenswunsch, Medizin zu studieren, nicht in Erfüllung gegangen ist. Hier hat eine seiner Hochstaplerrollen, der Doktor Heilig, ihren Ursprung; aber auch durch das ganze Erzählwerk zieht es sich als ein Leitmotiv in hundert Varianten hindurch: Seine ›practischen Kenntnisse in der Medizin‹ brillieren, wo immer sich im Fluss seiner Geschichte ein Anlass bietet, sodass wir ja nun sogar seit kurzem schon eine medizinische Doktorarbeit über dieses Thema bekommen haben.«28

Wenn das einer liest, der selbst schreibt, so erschrickt er, welche Anhaltspunkte über die eigenen geheimen Wünsche und Verdrängungen man einem geschickten Interpreten bietet. Auch wird klar, wie nahe das Erfinden einer Handlung für eine Geschichte oder einen Roman und Hochstapelei beieinander liegen, eine Tatsache, über die Thomas Mann häufig nachgedacht hat, Überlegungen, die ihn vielleicht schließlich zu seinem amüsant-geistreichen Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull geführt haben. Literatur und Lüge liegen also dicht beieinander. Aber sollen wir deswegen aufhören zu schreiben, zu erzählen?

Mays »Garn« jedenfalls ist noch nicht zu Ende: »Albin Wadenbach hat noch einen jüngeren Bruder namens Franz Friedrich. Der war Kaufmann geworden und hatte es auch zu etwas gebracht. Aber nun war der reiche Vater gestorben, das Schicksal hatte auch hier zugeschlagen. Albin Wadenbach musste Grundbesitz und Ökonomie übernehmen, nun selbst ein Mann von 20000 Dollar Vermögen. Das hätte wohl ein behagliches Leben versprochen, aber die beiden jungen Leute litt es nicht langer in Orby. Die Ländereien wurden zur Verwaltung dem Monsieur Marligny übergeben und man trat die große Reise über den Ozean an. War es eine Suche nach der verlorenen Liebe? Jedenfalls suchten die beiden in der alten Familienheimat Deutschland nach zwei lieben alten Tanten, von denen sie außer den Namen nichts wussten, nicht einmal die Adresse: Malwine Wadenbach die eine, Wirtschafterin bei Rittergutsbesitzer Oberamtmann Poppel in der Nähe von Halle, Frau Ulrich auf einem Rittergut in der Nähe von Görlitz die andere, im Dezember 1869 reisten also Friedrich und Albin durch Deutschland und nahmen dabei, nach Amerikanerart, allerhand Sehenswürdigkeiten in Augenschein. Im Fürstentum Coburg-Gotha schließlich fassten sie den Plan, getrennt auf die Suche zu gehen, jeder nach einer Tante, Friedrich nach der bei Halle, Albin nach der bei Görlitz. Fasst man ihre Lage ins Auge, so muss füglich am gesunden Menschenverstand der beiden jungen Herren gezweifelt werden, zumal sich Albin beim Abschied von den 800 Dollar Reisegeld, die Friedrich, der Kaufmann, bei sich hatte, ›nur das nöthigste Geld‹ aushändigen ließ, Friedrich aus Versehen auch die Ausweispapiere seines Bruders mit sich nahm und beide ganz vergessen hatten, einen Treffpunkt oder eine Postanschrift zu verabreden.«29

Hier ist ein höchst begnadeter Krimischreiber am Werke. Als ich mir den Fall vergegenwärtigte, dachte ich: Die Realität ist ungerecht. Ging es nach meinen Sympathien, so dürfte man einen Mann, der sich all das ausdenkt, nicht bestrafen, vielmehr müsste er belohnt werden.

»Albin Wadenbach wollte von Coburg nach Görlitz, aber es muss auch mit seinen Geographiekenntnissen nicht gut bestellt gewesen sein, denn er reiste, wie er minutiös zu Protokoll gab, statt durch Sachsen, wie es näher gewesen wäre, durch Bayern nach Böhmen über Eger, Carlsbad, Teplitz, Aussig und Tetschen. Dann aber war sein Geld zur Neige gegangen, und da war er denn, nachdem er schon drei volle Tage ohne Geld und Verpflegung und zu Fuß seinen Weg nach Görlitz weiter verfolgt hatte, schließlich in Niederalgersdorf angekommen. ›Ich wollte‹, so versicherte er, ›im Dachboden nur ausruhen, vor Erschöpfung schlief ich ein und erwachte erst früh.‹«30

»Da haben wir die Geschichte«, kommentiert Stolte, »und wenn man weiß, dass der Mann, der sie erzählte, nach Pseudologen-Manier im selben Augenblick, in dem er sie produzierte, an ihre Wahrheit beinahe selber zu glauben vermochte, kann es nicht wundernehmen, dass er seine Verhörer zu überzeugen vermochte.«

So wurde der Diebstahlsverdacht gegen Karl May fallen gelassen, berichtet Stolte, »und eigentlich nur noch einiges routinemäßig in die Wege geleitet, um seine vermeintliche Identität zu überprüfen. Albin Wadenbach selber zeigte sich eifrig, die Beamten in ihrer Nachforschungsarbeit zu unterstützen. Er ließ sich Papier, Tinte und eine Feder geben und schrieb zwei schön stilisierte Briefe, die ich den Lesern unmöglich vorenthalten kann, legen sie doch eindrucksvoll Zeugnis ab von Mays schriftstellerischer Begabung:

›An das Bankhaus Plaut und Comp. in Leipzig, Katharinenstr. 13. Meine erste Bitte an Sie ist die um Verzeihung, dass ich Sie mit einem Schreiben von meinem gegenwärtigen Aufenthalt incommodire; aber, bitte werfen Sie die Schuld auf meine unangenehme Lage. Ich habe ohne Legitimation Böhmen durchreist, um meine Verwandten in der Lausitz zu besuchen, bin von der Polizei aufgegriffen worden und muss mich ausweisen, um meine Freiheit wieder zu erhalten. Diese Ausweisung kann nur durch meinen Bruder Fredrico Wadenbach, Kaufmann aus Orby auf Martinique, geschehen, welcher bei unserer Trennung die betreffenden Legitimationspapiere bei sich behalten hat. – Da nun derselbe einen Wechsel zur Präsentation auf Ihr Haus bei sich führt, sich Ihnen jedenfalls schon vorgestellt hat, so wage ich es, an Sie die ergebene Bitte auszusprechen, ihm umgehend Nachricht von meiner Lage zu geben und ihn zu veranlassen, mich durch seine Gegenwart und Vorzeigung der betreffenden Papiere zu erlösen. – Indem ich Ihnen schon im Voraus für die freundlichen Bemühungen meinen Dank ausspreche, behalte ich mir vor, später bei meiner Gegenwart in Leipzig demselben noch mündlichen Ausdruck geben zu dürfen. Achtungsvoll Albin Wadenbach, Plantagenbesitzer in Orby auf Martinique.‹

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9783862871353
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