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5

Die Sonne blendete.

Schon um diese Zeit.

Schichtbeginn.

Timothy befreite die Sonnenbrille aus der Frisur und schob sie auf der Nase zurecht.

Nicht, dass ihn die Sonne gestört hätte.

Im Gegenteil.

Es war eine durchaus verlockende Vorstellung, sich auszuklinken, die Augen zu schließen und die warmen Strahlen auf dem Gesicht zu genießen.

Aber er hatte ja Dienst.

Krankheitsvertretung. Jürgen hatte Magen-Darm. Mist!

Nix mit seliger Träumerei.

Timothy seufzte genervt.

Es war ein anstrengender und verantwortungsvoller Job in langweiliger, öder Umgebung. Die Augen fanden, ob nun mit oder ohne Brille, keine anregenden Eindrücke, die sie als Beschäftigung ans Hirn hätten weiterleiten können.

Immerhin, dachte er, als ein Alarm ertönte und der Führer der Brücke sich meldete, irgendwas hatte sich verklemmt.

Wahrscheinlich nur ein Stubben.

Die hatten oft bizarre Formen und konnten einem ziemlich Arbeit machen.

Missmutig hielt er mit dem Jeep auf die großen Schaufelräder zu.

Seine Gedanken beschäftigten sich nicht mit dem anstehenden Problem, die Augen wanderten gewohnheitsmäßig das Flöz entlang.

Wo war es denn nun? Von allein rausgefallen? Unwahrscheinlich!

Dann entdeckte er das Unfassbare.

Impulse, ähnlich einem Feuerwerk in seinem Denken, wurden ausgelöst, die gesamte Maschinerie setzte sich mit spürbarem Ruck in Gang.

Über dem Band, das den Abraum transportierte.

Aus der Schaufel ragte ein menschlicher Arm!

Seltsam verdreht. Finger – soweit er es erkennen konnte – vollzählig. Zumindest an der Hand, die er sehen konnte. Über die andere war ihm eine Aussage zu treffen unmöglich, die war wohl tiefer in der Schaufel verklemmt. Hastig schob er die Sonnenbrille auf den Kopf zurück und nahm das kleine Fernglas zu Hilfe. Ächzte leise. Tippte auf eine der Kurzwahltasten.

»Ja, äh, Timothy hier. Ich weiß jetzt, was da in der Schaufel klemmt. Sieht aus, als bräuchten wir die Polizei vor Ort. Ich glaube, da steckt ein Körper im Eimer.«

Gestresst und kurzatmig wartete er auf die Antwort.

»Ja, klar. Ich bleibe hier stehen und warte auf die Leute. Und – ja! Ich passe auf, dass niemand aus Versehen in den Gefahrenbereich gerät und dort gedankenlos rumstapft. Logisch. Eine Leiche ist genug, ja, sehe ich genauso.«

Nachdenklich hob er den Kopf.

Wie war der Leichnam da wohl reingeraten? Von alleine?

War jemand hier rumgekraxelt, abgerutscht und tödlich verunglückt? Oder hatten sie eine historische Leiche ausgegraben? Lag hier in der Erde über einer Kohleschicht seit den Zeiten der Dinosaurier?

Nun gut, vielleicht nicht ganz so lange. Er schmunzelte, ertappte sich dabei und zog die Mundwinkel eilig in die Waagerechte. Dort oben lag ein toter Mensch.

Solch eine Entdeckung war kein Grund für Amüsement.

Die Beamten wurden von einem firmeneigenen Fahrzeug an den Fundort gebracht.

Aus Sicherheitsgründen. Das Terrain war gefährlich – Unkundige sollten sich hier besser nicht auf gut Glück bewegen.

Schon von Weitem erkannte Timothy den Ermittler. Einen Kollegen, der selbst im Sitzen so groß war, hatte er nicht.

Und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war der Mann besorgt. Das war selbst auf die Entfernung deutlich zu sehen. Hm, überlegte Timothy, möglicherweise war aus der Stadt jemand abgängig, und nun musste man befürchten, ihn gefunden zu haben. Vielleicht so ein pubertierender Pickeltyp, der sein Glück in der Weite der realen Welt suchen wollte, dem das weltweite Netz nicht mehr ausreichte.

»Tja«, murmelte er betroffen, »die Realität hält ungeahnte Gefahren bereit. Sterben wolltest du sicher nicht.«

Der Wagen kam mit einem heftigen Ruck zum Stehen.

»Guten Morgen«, eine Frau kletterte aus dem Fond. »Mein Name ist Klapproth, dies ist mein Kollege Nachtigall. Kriminalpolizei Cottbus.«

»Sie haben den Leichnam gefunden?«, erkundigte sich der Ermittler mitfühlend, musterte dabei das blasse Gesicht Timothys kritisch. »Ist Ihnen nicht gut?«

»Mein Name ist Timothy Weiler. Nun, ja, das war schon ein Schreck. Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie einen Arm und eine Hand. Könnte also durchaus möglich sein, dass der Körper tiefer in der Schaufel liegt. Hochgeklettert bin ich nicht – wegen der Spuren und so. Aber wenn Sie möchten, können wir ihn runterlassen. Wir sollten versuchen, den Arbeitsbereich der Förderbrücke zügig zu verlassen. Hier ist es nicht ganz ungefährlich.«

Timothy unterstrich gestenreich, welche Gefahren er konkret meinte.

Wies auf seinen Helm und die Ermittler setzten ihren Kopfschutz widerspruchslos auf.

»Vielleicht erklären Sie uns zuerst, wie man da hineingeraten kann, während wir auf das Team des Erkennungsdienstes warten. Es wird doch Tag und Nacht an dieser Brücke gearbeitet. Es gibt sicher Überwachungskameras und solche Dinge. Eigentlich hätte ich gedacht, es sei unmöglich, unbemerkt so nah an die Maschinen heranzukommen.« Nachtigall sah an der beeindruckend hohen Wand aus Kohle und Erde, Lehm und Sand hinauf. Erkannte die Hand, von der Herr Weiler gesprochen hatte. Gehörten diese Finger zu dem vermissten Familienvater? Das wäre ein schwerer Schock für die Familie. Bei dem Gedanken daran, dass er die Nachricht überbringen müsste, kroch eine unangenehme Gänsehaut über seine Arme und den Nacken. Und wahrscheinlich war der Tote nicht von allein in die Schaufel geraten, mindestens eine weitere Person wäre involviert, Mord also nicht ausgeschlossen. Nachtigall seufzte.

Timothy zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, wie das zugegangen sein soll. Natürlich kann man diesen Bereich des Tagebaus nicht ohne Probleme erreichen, die Schaufel trägt in Schichten das Material ab. Sie müsste ihn also förmlich aus dem Erdreich gekratzt haben. Und wie sollte er dort hingeraten sein? Ne, das erscheint alles nur wie blühende Fantasie.« Er runzelte die Stirn. »Ist ja so, dass die Kohle hier nicht an der Oberfläche liegt. Es sind mehrere Schichten Erde darüber. Die werden abgebaggert und als Abraum gelagert. Das erledigt der eine Bagger, dieser hier zum Beispiel. Die Kohle selbst können wir erst mehrere Schichten tiefer abbauen.« Er zeigte dabei auf die Wände des tiefen Kraters, wo die Veränderung der Farbe deutlich zu sehen war. Von Braun zu fast Schwarz.

»Wieso sind Sie hier?«, fragte Klapproth und musterte Timothy eindringlich.

»Nun, manchmal verklemmt sich was, dann kommen wir und sehen nach, was es ist. Große Dinge zum Beispiel aus Metall könnten die Förderbrücke beschädigen. Manchmal finden wir Stubben in den Schaufeln. Eigentlich gehen Leute übers Gelände und suchen es nach solchen Dingen ab, bevor der Bagger an die Stelle weiterrückt, aber manchmal wird eben einer übersehen.«

»Während der Nachtschicht ist bestimmt der ganze Bereich gut ausgeleuchtet?«, mutmaßte Klapproth.

»Ja, klar. Aber Sie wissen sicher, dass es immer wieder Leuten gelingt auf unser Gelände vorzudringen. Zum Beispiel Demonstranten, die den Bagger besetzen. Ihre Kollegen haben dann immer alle Hände voll zu tun, bis wir wieder arbeiten können. Es ist eben unmöglich alle Ecken des Geländes im Auge zu behalten. Wenn Sie meinen, dass jemand einen Toten waagerecht im Flöz verstecken könnte, muss ich sagen, dass so was nicht möglich ist. Darüber habe ich beim Warten auch nachgedacht – aber nein, der Buddler bliebe nicht unbemerkt. Außerdem trägt diese Maschine den Abraum ab, also das, was über dem Flöz liegt. Und tatsächlich fällt man nicht einfach so in den Baggerbereich. Das passiert nicht.« Timothy legte den Kopf in den Nacken, sah zu der Hand hinauf. »Also ehrlich, für mich sieht die frisch aus. Nicht, dass ich jetzt Ahnung von solchen Dingen hätte, bewahre, aber ich denke, wenn hier was liegt, dann verwest es. Und eigentlich ist es sowieso vollkommen unmöglich!«

»Hm«, meinte Nachtigall. »Aber dennoch ragt hier ein Arm aus der Schaufel. Irgendwie hat es also funktioniert.«

Timothy Weiler nickte bedächtig. »Wenn Sie mich fragen, entweder sollte der Körper rasch gefunden werden oder derjenige, der ihn loswerden wollte, stammt nicht von hier. Jedes Kind weiß, dass Alarm ausgelöst wird, wenn ein Fremdkörper in der Schaufel steckt. Das lernt man schon in der Schule.«

»Wir sollten ihn runterlassen, damit wir einen Blick auf den Körper werfen können«, meinte Klapproth ungeduldig, zog die Augen schmal. »So kommen wir nicht einen Schritt weiter. Es ist zwar völlig ausgeschlossen und unmöglich, dass dort jemand liegt, Tatsache bleibt, dass es dennoch so ist. Wir müssen klären, wer derjenige ist. Runter mit der Schaufel.«

»Jaja«, maulte eine Stimme hinter ihr, und sie fuhr erschrocken herum. »Wir sind ja da und werden uns mit der Bergung beeilen, damit ihr einen Blick auf die Leiche werfen könnt.« Peddersen gab seinen Leuten ein Zeichen.

Das Tatortfahrzeug des Erkennungsdienstes war von einem der LEAG-Jeeps eskortiert worden, dessen Fahrer sich mit Timothy kurz verständigte, umkehrte und wegfuhr.

»Er meinte, zwei Begleitfahrzeuge seien wohl nicht notwendig. Und wir sollten uns beeilen, jeder Ausfall kostet.«

»Guten Morgen erst mal«, brummte Nachtigall. »Wir müssen nicht nur klären, um wen es sich handelt. Spannend ist, wie er in die Schaufeln gelangen konnte. Sollte es sich um den Vermissten handeln, wissen wir, dass dieser Ort fernab aller genannten Joggingstrecken liegt.«

»Wir können sicher schnell die ersten Antworten geben. Fotos, dann Spuren und Fotos, dann die Bergung.« Peddersen gab Anweisungen, und sein Team machte sich an die Arbeit.

»Lassen Sie um Himmels willen die Helme auf!« Timothy war sehr beunruhigt. »Auch wenn es für Sie nicht so aussieht: Es ist gefährlich.«

»Yupp!« Damit war Peddersen verschwunden.

»Längere Arbeitsausfälle sind in den Abläufen nicht vorgesehen. Leichenfunde natürlich auch nicht. Ich muss mal eben mit dem Schichtleiter sprechen.« Weiler trat zur Seite und begann aufgeregt zu telefonieren.

Einige Zeit später lag der Leichnam in einer Transportvorrichtung, wurde in einen Sarg gelegt.

Klapproth und Nachtigall hatten keine Probleme, Patrick Stein zu erkennen, trotz des dunklen Staubs, des Sandes und der Erde, die an ihm hafteten.

»Er ist es, kein Zweifel.« Klapproth drehte sich zu Timothy Weiler um, der seinen Hals gereckt hatte, damit er einen Blick auf den Toten werfen konnte. »Damit ist eine unserer Fragen geklärt. Die Kollegen sind noch nicht fertig, aber wir müssen die Angehörigen informieren. Bitte geben Sie keine Informationen an die Presse oder andere Neugierige weiter. Wir sind nicht daran interessiert, dem Täter mitzuteilen, dass wir sein Opfer bereits gefunden haben.«

»Ja, logisch!«

Er ließ die beiden in seinen Jeep einsteigen, klemmte sich hinter das Lenkrad. »Hey, macht keinen Blödsinn!«, rief er Peddersen und seinen Leuten zu. »Ich bin gleich zurück.«

Wortlos brachte er die beiden Ermittler zu ihrem Wagen zurück.

Stirnrunzelnd sah er ihnen nach, kehrte dann zu der Fundstelle zurück.

»Das war doch dieser Politiker«, murmelte er, als er neben dem Fahrzeug der Spurensicherung hielt, »dieser Kohleausstiegsbefürworter. Klar doch!«

6

Nachtigall atmete tief durch, drückte dann vorsichtig auf die Klingel, als könne er so das schrille Geräusch im Haus abmildern.

Wieder würde er eine Nachricht überbringen, die Trauer, Entsetzen und Tränen über eine ganze Familie schwappte.

Maja Klapproth beobachtete sein Mienenspiel voller Interesse. Schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ihrer Meinung nach ließ der Kollege all die beruflichen Dinge viel zu nah an sich heran. Inzwischen wusste sie allerdings, dass er das anders sah. Er nannte es »empathisches Denken«.

Sie warteten.

Wortlos.

Regungslos.

Beiden stand das Bild des Toten in der Schaufel deutlich vor Augen. Wollte so gar nicht zu der Idylle des Gartens vor der Tür passen.

Aus dem Haus war Kinderlachen zu hören.

»Nein, das ist natürlich nicht der Weihnachtsmann«, wusste die ältere der Schwestern, »der kommt doch nicht im Sommer!«

»Na und?«, gab die andere schlagfertig zurück, »Mama hat gesagt, nach Ostern beginnt die Vorweihnachtszeit!« Offensichtlich war sie nicht leicht zu beirren.

»Kinder, hört auf zu zanken. Es hat geklingelt! Macht mal die Tür auf!«, rief die Mutter aus dem Obergeschoss.

»Jaha!«, antworteten die Schwestern unisono.

»Was wollen Sie denn schon wieder hier?«, erkundigte sich die Kleine überrascht, was ihr einen rüden Stoß der großen Schwester einbrachte.

»Wir möchten mit eurer Mama sprechen. Lasst ihr uns bitte rein?«

Die Schwestern nickten unsicher.

Während die Kleine die Treppe nach oben polterte und »Mama! Mama! Das sind die beiden von gestern!«, rief, bot die Ältere den Besuchern einen Platz am Küchentisch an.

»Ich sehe mal nach, wo sie ist. Vielleicht hat sie uns nicht gehört.«

»Deine Schwester wird sie finden. Ich gehe nicht davon aus, dass sie sich vor uns versteckt.« Klapproths Ton war schroff, ihre Miene abweisend.

Über ihren Köpfen patschten Schritte durch Räume. »Mama?«

»Fällt heute die Schule aus?«, erkundigte sich Klapproth bei der Großen, die sich wieder zu den Gästen umwandte. »Wie heißt du eigentlich?«

»Das sind gleich zwei Fragen auf einmal«, stellte das Mädchen fest. »Meine Mutter meint, es sei klüger, erst die Antwort auf die erste abzuwarten, bevor man die zweite stellt. Sonst verwirrt man den Gefragten.«

»Okay, dann möchte ich zuerst deinen Namen wissen.« Altkluges Gör, dachte Maja gereizt, versuchte, sich den Ärger nicht anmerken zu lassen.

»Luise. Meine Schwester heißt Paula. Und wir dürfen heute zu Hause bleiben. Mama hat in der Schule angerufen.« Luise warf einen sehnsüchtigen Blick Richtung Treppe.

»Schon gut, Luise. Das weiß Herr Nachtigall sicher schon.« Frau Stein umklammerte das Geländer, die Knöchel traten weiß hervor.

»Woher?«

»Herr Nachtigall sucht nach Papa. Ihr wisst ja, dass er nicht hier ist. Und du gehst bitte rauf zu Paula. Ihr dürft euch ein Video ansehen, es läuft schon. Und keinen Streit!«

Wütend stampfte Luise davon, maulte hörbar: »Immer, wenn es interessant wird!«

Im Blick von Doreen Stein lag ängstliche Gewissheit, gepaart mit der Hoffnung, sie könne sich irren.

»Sie haben ihn gefunden?«, erkundigte sie sich leise im Näherkommen, schwankte erkennbar.

»Ja. Heute Morgen. Es tut uns sehr leid, aber …«

Doreen hob abwehrend die Hände gegen den Sprecher. »Schon gut. Wo?«, hauchte sie.

»Im Tagebau … Er lag in der Schaufel eines Baggers, der die Erdschicht entfernt. Die Todesursache ist noch unbekannt.«

Doreen fiel auf einen der Stühle. Zitterte. Am ganzen Körper.

»In einer Schaufel? Aber dann muss mindestens eine weitere Person involviert gewesen sein. Sie glauben doch nicht, mein Mann habe sich da allein reingelegt.«

»Nein, das glauben wir nicht. Das ist auch technisch gar nicht möglich – ganz abgesehen davon, dass es unwahrscheinlich ist«, stellte Klapproth klar. »Wir gehen von einem Unfall oder einem Tötungsdelikt aus.«

Doreen nickte langsam, so vorsichtig, als habe sie Angst, der Kopf könne sich sonst vom Körper lösen.

»Wir benötigen ein paar Angaben von Ihnen, damit wir …«, begann Nachtigall, wurde von der Witwe unterbrochen.

»Ja. Natürlich. Logisch. Sie wollen sofort mit den Ermittlungen beginnen. Am besten fragen Sie im Büro nach seinen letzten beruflichen Terminen und im Parteibüro ebenfalls. Und«, sie zögerte auffällig, »bei seiner Mutter. Mag sein, dass er ihr bei seinem letzten Besuch erzählt hat, er fühle sich bedroht oder Ähnliches.«

»Wie erreichen wir seine Mutter?«

»Sie wohnt in einem Seniorenstift. Ich suche Ihnen die Nummer raus.« Sie griff nach ihrem Handy, präsentierte nach kurzem Scrollen den Eintrag im Adressbuch. »Ich habe sie bei mir gespeichert. Patrick hatte die Nummer nie parat, wenn er sie brauchte. Irgendwie hat er den Kontakt wohl immer versehentlich am Ende des Telefonats gelöscht. Muss was Psychopathologisches gewesen sein. Offensichtlich wollte er sein Handy vor zu viel Nähe mit seiner Mutter schützen.« Tränen schwappten über den Lidrand, kullerten über die schmalen Wangen. Hektisch fischte Doreen nach einem Taschentuch, wischte energisch über ihr Gesicht. »Wenigstens kann keine Schminke verlaufen. Sieht ja grässlich aus, wenn Mascara sich über und über verteilt. Aber soweit war ich heute noch gar nicht gekommen.«

Nachtigall zuckte bei diesem Kommentar merklich zusammen, was die Witwe offensichtlich nicht bemerkte.

»Gibt es Freunde, die etwas wissen könnten?« Klapproth übernahm wieder.

»Vielleicht bei der Partei.«

»Der Staatsschutz ist an den Ermittlungen beteiligt. Bei den Kollegen, die in dem Fall nachforschen, fragen wir nach.«

»Die Leute sind nervös. Gereizt. Das Thema Kohleausstieg treibt ganze Familien um. Manche glauben, diese Entscheidung treibe sie in den persönlichen Ruin, und die Grünen mit ihren Forderungen nach immer schnellerem und früherem Ausstieg trügen die Schuld daran. Patrick hat versucht, den Menschen zu erklären, dass es eine Umkehr im Denken und Handeln eines Jeden geben muss, damit der Klimawandel aufgehalten werden kann. Aber es ist schwierig. Es gibt ja auch eine Partei, die vehement leugnet, dass der Mensch mit den Veränderungen etwas zu tun hat. Wenn sich nicht einmal die Politiker einig sind, sehen die Menschen nicht ein, dass sie eine Neuorientierung privat und beruflich hinnehmen sollen. Seit dem Mord an Dr. Lübke sind alle besorgt. Es spricht nur keiner gern darüber.«

»Aber hier in der Region wurde Ihr Mann für den Kohleausstieg persönlich verantwortlich gemacht?«

»Nun ja … Wenn man so will, war er wohl das Gesicht der Energiewende in der Region.« Sie schwieg abrupt. Ihre bebenden Finger strichen über die Haare, flatterten um die Lippen, fuhren durchs Gesicht. »Wie soll ich das bloß den Mädchen erklären?«

»Können wir jemanden anrufen, der zu Ihnen kommt? Sie sollten jetzt besser nicht allein sein.« Nachtigall warf Frau Stein einen besorgten Blick zu. »Wir haben ein sehr kompetentes Kriseninterventions-Team.«

Klapproth machte dem Kollegen ein Zeichen und verließ das Haus, um zu telefonieren.

Frau Stein fixierte die Augen des Cottbuser Hauptkommissars kalt. »Wir brauchen niemanden. Wir kommen klar«, behauptete sie mit wankender Stimme trotzig und warf den Kopf zurück.

»Möglicherweise wäre es eine gute Idee, die Mädchen zu Bekannten oder Freunden zu bringen, bevor das Team des Erkennungsdienstes hier herumstöbert. Für Kinder kann so etwas sehr verstörend sein.«

»Was will denn der Erkennungsdienst … ach so, Laptop, Kalender, Notizen. Das Handy haben Ihre Kollegen ja schon, alles andere finden Ihre Leute in seinem Arbeitszimmer.«

»Sein Adressbuch würde ich gern sofort mitnehmen, ebenso den Kalender.«

Doreen deutete auf eine Kommode. »Dort drinnen, oberste Schublade, linke Ecke. Alles andere ist in seinem Arbeitszimmer. Patrick war sehr ordentlich, fast schon zwanghaft. Es wird alles dort liegen, wo Ihr Team es vermutet.«

Nachtigall hielt einen lang gestreckten Wochenkalender und ein schmales schwarzes Büchlein hoch.

Die Witwe nickte.

Klapproth kehrte zu Nachtigall zurück.

»Sein Bruder Eric van Worten wohnt nur zwei Häuser weiter! Warum haben Sie das weder gestern Abend noch heute auch nur einmal erwähnt?«, fragte sie in aggressivem Ton, der ihr einen mahnenden Blick des Kollegen eintrug.

Doreen schüttelte stumm den Kopf. Abwehrend.

»Vielleicht hat er etwas bemerkt. Einen Verfolger zum Beispiel«, schob Nachtigall sanfter nach.

»Und warum Eric van Worten und nicht Eric Stein?«, wollte Klapproth wissen.

»Eric! Van Worten ist sein Pseudonym. Er ist Lyriker. Und bemerkt hat er sicher nichts. Eric hat einen Vogel und gut! Mehr muss man dazu nicht sagen.«

Die Ermittler warfen sich in stillem Einverständnis einen kurzen Blick zu.

Es wäre wohl besser, die Witwe nicht weiter zu behelligen.

»Unsere Nummern haben Sie. Sollten Sie Hilfe benötigen oder Ihnen etwas Wichtiges einfallen, melden Sie sich bitte sofort bei uns. Wir brechen jetzt auf.«

»Können Sie mir bitte die Mädchen schicken? Besser, sie erfahren gleich von mir, was passiert ist, als später von irgendwelchen mitfühlenden Nachbarn, die die Fakten nur aus den Nachrichten kennen.«

»Ich warte im Auto«, erklärte Maja entschieden und nahm dem Kollegen Kalender und Adressbuch ab. »Kinder sind nicht mein Ding!«

Nachtigall ging über die Treppe ins Obergeschoss.

Hinter einer der Türen hörte er laute Stimmen. Ah, das Video!, fiel ihm wieder ein. Er klopfte sanft an, öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Vier fragende Augen tobten über sein Gesicht.

»Wir dürfen das ansehen! Mama hat es erlaubt!«

»Ja. Ich habe das gehört. Aber nun möchte eure Mutter, dass ich euch zu ihr hinunterschicke. Sie möchte etwas Wichtiges mit euch besprechen. Man kann doch sicher irgendwo auf Pause schalten?«

Als er leise das Haus verließ, hörte er Frau Stein sagen: »So, meine beiden, wir haben etwas zu besprechen. Ihr müsst mir gut zuhören …«

Er beneidete die Mutter nicht um diese Aufgabe, huschte nach draußen, zog die Tür geräuschlos hinter sich zu.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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283 стр. 6 иллюстраций
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9783839268001
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