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Читать книгу: «Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig: Eine Novelle», страница 2

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Um das ungerührt erscheinende und verschwindende Grinsen dieser Zwölf flogen die Bälle – trafen mit dumpfem Halt Brust, Aug’ und Stirn. Hie und da gab es einen Treffer. Dem Mandarin fiel dann seine Mütze, dem Offizier sein Tschako, dem Bauer sein Dreispitz in den Nacken.

Manchmal – und ich erinnere mich oft an diese Puppen – kommt mir der Gedanke: Es sind zwölf Höllensträflinge, von Gott verurteilt, als Holzfiguren ihr grauenhaft irdisches Wahnbild weiter zu bewohnen und hier in den Schulbänken des Budenbesitzers zu einer ewigen Turnstunde verdammt, ihr Leben nachzusitzen.

Mögen sie erlöst werden!

Ganz anders aber war die Gesellschaft, die sich im Kreise auf der großen Scheibe drehte, welche die Mitte des Budenhintergrundes einnahm. Es waren wiederum zwölf! Aber zwölf, die eine solche unnachahmlich schäbige Würde auszeichnete, daß sie kaum auseinander zu halten waren. Der Beruf dieser zwölf Holzmenschen war klar. Was denn anders konnten sie sein als Leichenbitter, Wucherer, Zeremonienmeister der Begräbnisse dritter bis siebenter Klasse, Tanzlehrer letzter Sorte, Klavierspieler bei den Unterhaltungen der Armen!

Alle waren sie in Trauer gekleidet, trugen lange, schwarze, ausgefranste Bratenröcke, hohe, blinde Zylinder, von denen Flöre niederhingen. Sie drehten sich langsam und gemessen im Kreise, so, daß ich weniger ihre toternsten, starren Gesichter sehen konnte, als den Rücken, der das Traurigste von der Welt war.

In ihrer schleichenden Haltung schienen sie einem unsichtbaren Sarge zu folgen oder verflucht zu sein, dort, fern im Schatten, eine Türe zu sehn, der sie ewig zustreben, die sie doch nie erreichen durften, immerdar an der Möglichkeit des ersehnten Abgangs vorbeigedreht. Die alten traurigen Männer, mehr als die Teufelsbilder rechts und links, waren Zielscheiben der sausenden Steinigung. – Trat eine Pause im Bombardement ein, so erschien hinter einem Vorhang des Hintergrundes ein Junge und setzte den Greisen die Zylinder auf, die ihnen die Bälle vom Kopf geschlagen hatten.

Er war nicht älter als ich. Vielleicht feierte er heute auch seinen Geburtstag. Sein Antlitz war ebenso mager und blaß wie das meinige; seine schwarzen Augen leuchteten aus tiefen Höhlen.

Und doch! Wie gut hatte er es —, wie schlecht hatte ich es! Er trug an seinen Gliedern keine vorschriftsmäßige Uniform, er ging wohl in die Bürgerschule, wo die Buben zu spät kommen, ausbleiben und Allotria treiben dürfen, so viel sie nur wollen. Sein Vater lachte während der Arbeit viel und aus Herzensgrund, war beredt, behaglich, und jetzt, – jetzt zündete er sich die Pfeife mit dem Türkenkopf an und begann wohlig keuchend zu paffen.

Die Bälle schwirrten, die haßerfüllten Fratzen tauchten auf und nieder, die schäbig würdigen Greise wandelten hoffnungslos an der Türe ihrer Erlösung vorbei.

Auch der kleine Junge hatte mich gleich entdeckt. Wir waren die einzigen Kinder hier. Sofort spann sich eine starke Beziehung von mir zu ihm, – von ihm zu mir.

Er winkte mir, einen Ball zu werfen, kniff bedeutsam die Augen ein, pfiff mir ein Signal zu, schnitt eine Fratze und winkte mir immer wieder.

Oft sah ich nichts als seine Hand, die wie ein Gespenst mit Daumen und Fingern hinter dem Vorhang hervorgestikulierte.

Ich machte schüchtern meinerseits Zeichen, deren Sinn ich selbst nicht verstand.

Verloren starrte ich diesen hohläugigen Knaben an, der mir glücklich wie die Freiheit selbst erschien!

Ich fuhr zusammen. Denn die kommandierende Stimme meines Vaters schnarrte: „Karl, nun zeig’, ob du eine sichere Hand hast und ob du einmal das Recht haben wirst, des Kaisers Rock zu tragen!“

Er gab mir einen Ball in die Hand. Was sollte ich damit anfangen? Auf und nieder tauchten die Bösen; die Leichenbitter schlichen an dem Jungen vorbei, der immer wieder den Kopf vorbeugte und mir mit fünf gespreizten Fingern winkte und winkte.

Alle Puppen hatten ihre Hüte auf – denn kein Mensch warf mehr einen Ball, so scharf war die Stimme meines Vaters gewesen. Die Leute sahen ihn erstaunt und feindlich an. Alle Blicke waren auf uns beide gerichtet. Zitternd hielt ich den Ball in meiner Hand. Alles schwieg und nur der Budenbesitzer sagte: „Nun, junger Mann!?“…

Mein Vater richtete sich auf. Die Bedrückung, einer nur unter Tausenden zu sein, war von ihm gewichen. Er stemmte die Hand in die Hüfte, wie es der tut, der endlich das Übergewicht über andere gewonnen hat, wie der geblähte Leutnant es macht, der vor seine Rekruten tritt. Das Schweigen um uns tat ihm sichtlich wohl.

„Wird’s bald!? Wirf!!“ sagte er mit lauter Kasernhofstimme.

Mein ganzer Körper brannte vor Scham und Angst. Ich hob den Ball und warf ihn kraftlos ins Ungewisse hinein. Er fiel schon in der Mitte der Bude zu Boden. Nichts unterbrach das Schweigen, nichts als die kleine Lache, die der Junge aus seinem Versteck hervor anschlug.

„Tolpatsch!“ Der Vater reichte mir streng einen zweiten Ball.

„Wähle dir eine Figur, ziele gut, und dann erst wirf!“

Alles tanzte vor meinen Augen! Auf und nieder tauchten die Höllensträflinge. Ich nahm alle Kräfte zusammen, meinen Blick zu sammeln. Mir war, als müßte mein Kopf sogleich in Flammen aufgehen. In den Gelenken der Hand, die den Ball hielt, spielte ein süßlich giftiges Gefühl. Immer furchtbarer wurde der Rhythmus des Auf- und Niedertauchens. Da! – Eine Gestalt löste sich aus den andern, wurde deutlicher, die Grimasse fletschte mir eindringlich entgegen, ein ewig verschlossener Mund schien mir zurufen zu wollen: „Ich! Ich!“ Es war der Offizier in Phantasieuniform.

Ich sah ihn, – ich sah ihn! – Die Pferdezähne meines Vaters waren entblößt, seine Schnurrbartspitzen starrten, an seinen Epauletten blitzten die Messingknöpfe.

Ich beugte mich weit über das Brett und warf, einen kurzen Schrei ausstoßend, den Ball, – der aber ganz nah von mir in irgend eine sinnlose Ecke fuhr.

Jetzt lachte der Knabe im Hintergrund laut und höhnisch auf.

Der Vater trat dicht an mich und zischte mir ins Ohr:

„Rindvieh! Du blamierst mich! Jetzt wirf und triff, sonst – — – — —!“

Ich fühlte einen neuen Ball in der Hand.

Dort! Auf und nieder raste der Legionsoffizier. Von Mal zu Mal immer klarer offenbarte er sich. Wo stand mein Vater? Nicht neben mir!

Dort stand er! Dort…!

Er blies Rauch durch die Nase, so wenig ermüdete ihn die furchtbare Bewegung. Ohne Falte blaute sein Waffenrock.

„Korporal! Korporal!“ rief er —

Gott! Gott!

Ich will es tun!

Er selbst befiehlt es mir ja!

Er selbst, – er selbst – — – — – —

Ich spannte alle Muskeln an, und, indem ich wild aufschrie, schleuderte ich den Ball mit solcher Kraft, daß es mich umriß und ich zu Boden stürzte. – — – — —

Sogleich erwachte ich aus meiner kurzen Bewußtlosigkeit. Menschen standen um mich, die auf mich einredeten.

Abseits erblickte ich den Vater, ohne Hut, ein blutiges Taschentuch an die Nase pressend.

In einem entsetzlichen Augenblick erkannte ich alles. Ich hatte nicht jenen Offizier, ich hatte meinen Vater getroffen!! Ich sah das Blut, das aus seiner Nase stürzte. Ein ungeheures Weh überspülte mich. Dieses Weh wuchs und wuchs. Das Herz vermochte es nicht mehr zu tragen. Mein letzter Blick traf das merkwürdig starrende und neugierige Gesicht des Budenbesitzersjungen, der sich über mich beugte.

Dann versank ich in eine Ohnmacht der Träume und Fieberschreie, aus der ich erst drei Monate später zum Leben erwachen durfte. Diese drei Monate aber waren eine einzige Nacht, in der im Schein einer teuflischen Lampe verdammte Chinesen, Neger, Henker, Gehenkte, Bauern, Verbrecher riesenhaft aus Gebirgen von Schulbänken auf und nieder schwebten, gebrechliche Greise mit Fackeln in der Hand durch eine schwarze Türe davonschlichen und durch eine helle wiederkamen und steif, lang und streng der fremde Offizier, mein Vater, unbeweglich unter den bewegten Erscheinungen stand.

Zweiter Teil

Es waren dreizehn Jahre vergangen. Ich hatte meine Fähnrichszeit bei einem detachierten Bataillon an der Ostgrenze des Reiches abgedient und war nun zum Leutnant vorgerückt und in eine größere galizische Garnison versetzt worden.

Daß ich es nur gleich gestehe, mein Leben, das durch keine gute Stunde, keine liebe Erinnerung, keine Wärme von mir und zu mir, keinen Besitz und keine Hoffnung erleuchtet war, ekelte mich so sehr an, daß ich mich oft ganz ernsthaft fragte: „Warum höre ich nicht einfach auf, zu atmen?“ Ich hielt dann auch, so lange es nur ging, den Atem zurück, als könnte ich so ein Ende machen. —

Die Zeit, die hinter mir lag, war schrecklich. Nächte des angestrengtesten Studiums kalter, gleichgültiger Lehrfächer, Examen über Examen; zerrüttenden Blick des Vorgesetzten ewig in der Seele; das Vaterhaus, andern ein Asyl, mir war es nur die schärfere Wiederholung des Instituts und der Kaserne gewesen. Niemals eine freie Stunde und wenn ich mir endlich eine – unter Demütigungen, Meldungen, Bitten, Vorschriften, die Legion waren, – wenn ich mir endlich eine freie Stunde erkämpft hatte, so wußten meine zerstörten Nerven mit ihr nichts anzufangen, und ich litt unter der kleinen Freiheit noch mehr als in der Tretmühle. Nein! Ich war nicht zum Soldaten geboren! Jedes Kommandowort empfand ich wie einen Messerstich, jede Ausstellung wie eine Mißhandlung, jedes militärische Gespräch, jede dienstliche Handlung lähmte mich – so war ich viel zu elend und unglücklich, um auch nur Erbarmen mit mir selbst haben zu können. —

Einsam wie keiner.

Wenn ich nur einen meiner Kameraden ansah, ergriff mich Langeweile und Gleichgültigkeit wie eine Pest und ich brachte kein Wort heraus.

Mich an eine Frau oder an ein Mädchen heranzutrauen, dieser Mut schien mir eine Gnade zu sein, die mir nicht gegeben war. Fünfzehn Jahre Einschüchterung und Angst hatten meine Seele gebrochen, die nicht so widerstandsfähig war, wie die der andern. Wenn die polnischen Gräfinnen Sonntags zur Kirche fuhren, schwärmte ich sie von Ferne an, die Düsterkeit meiner Träume genießend, in denen ich den Herrn der Welt spielte. Die jüngeren Herrn unseres Offizierkorps hatten längst schon die Bekanntschaft einer oder der anderen Schloßbewohnerin gemacht, es geschah sogar, daß sie mitunter zum Diner, ja sogar zur Jagd eingeladen wurden.

Mich kannte niemand; – niemand lud mich ein.

In aller Frühe trat ich alltäglich den Dienst an. Die starke Sonne der Steppe machte mich krank und schlaff. Wir exerzierten, bildeten Schwarmlinien, hielten Gefechtsübungen ab, – ich redete und tat nur das Notwendigste und das unvollkommen, lässig. Ich vermied jedes Kommandieren, jedes Scheltwort, jeden scharfen Ton, aber die mir zugeteilte Menschenherde, diese Sklaven, nahmen mir die Feinfühligkeit übel und ich spürte, daß sie sich über mich lustig machten.

Ja – der Leutnant Ruzič, der Oberleutnant Cibulka, der Hauptmann Pfahlhammer, diese Kujone, die die Langgedienten anspuckten und die Rekruten während des Menagierens mit Ohrfeigen traktierten, die waren beliebt. Woher das kam, fragte ich mich oft! Doch nur zu bald lernte ich begreifen, was die körperliche Schönheit und Wohlbildung im Leben bedeuten.

Diese Offiziere waren fesche Herren. Sie trugen des Abends oder Sonntags, wenn sie über den Ringplatz flanierten, ihre schlanken langen Beine in ausgezeichnet gemachten, scharfgebügelten schwarzen Hosen, ihre kleinen Lackstiefel blitzten nicht minder als die meines Vaters, ihre Waffenröcke waren sehr in die Taille gearbeitet und persönlich geschnitten. Ihre Gesichter waren blond, jung, brutal und von jener frischen Dummheit, die in der Welt so angenehm berührt.

Und ich? – Ich war klein, mager – unansehnlich. Mein Gesicht verlitten und früh gealtert. Ich mußte bei meiner Kurzsichtigkeit eine Brille tragen, denn ich war ungeschickt und hätte ein anderes Augenglas viel zu oft zerbrochen.

Einmal befahl mich der Oberst zu einem privaten Rapport.

„Herr Leutnant,“ begann er scharf, „das geht nicht so weiter. Es ist vom Oberstbrigadier nun zum zweiten Mal ein Dienstzettel gekommen, in dem er Ihre Adjustierung beanstandet. Man muß Sie ja nur ansehen und es wird einem übel. Rasieren Sie sich besser und öfter!“

„Jeder Gefreite sieht adretter aus als Sie. Wollen Sie dem Herrn Feldmarschallleutnant (er meinte meinen Vater) Schande machen?“

„Lieber Duschek,“ fuhr der Kommandant begütigend und außerdienstlich fort, – „Du mußt mehr auf Dich halten. Geh zum Schneider! Equipier’ Dich! Herrgott, wenn ich noch einmal so jung sein könnte!“

Solche Reden machten trotz der gehässigen Nervosität, die ich immer angesichts eines Vorgesetzten empfand, wenig Eindruck auf mich.

Unter guten Figuren – eine gute Figur zu sein, das war mein Ehrgeiz nicht. Was aber war mein Ehrgeiz?

Ich wohnte in der Wirtschaft einer Frau Koppelmann, über deren Höhleneingang auf einer Tafel das viel verheißende Wort „Restauracya“ geschrieben stand. Ich vermied es am Abend, den Gelagen in der Offiziersmesse beizuwohnen. Nach dem Dienst um fünf Uhr setzte ich mich in die „Herrenstube“ der Frau Koppelmann. Selbst hier, unter hustenden und spuckenden polnischen Fuhrleuten, unter den die Heiligen beschwörenden ruthenischen Bauern, unter schreienden und haareraufenden Juden fühlte ich mich glücklicher, als unter den Kameraden. Bei dem grünen Pfefferminzschnaps der Wirtin starrte ich, der Herr Offizier, um dessen Tisch die Bauern und Juden mit „ai“ und „oi“ und tausend Bücklingen dienerten, – ja ich starrte in erregter Beobachtung auf diese freien vielbewegten Gestalten und fühlte mit einem gewissen Triumph in der Seele: Hierher, zu diesen da gehörst du! Um sieben Uhr leerte sich die Stube und ich blieb allein mit den surrenden Völkern der galizischen Fliegenplage. —

Das kleine schmutzige Fenster bräunte sich in der Abendröte. Draußen schnatterten die Gänse, und die Schritte der barfüßigen Bäuerinnen patschten in dem ewigen Sumpf der Straße. Nun kam meine Stunde. Ich setzte mich an das zerbrochene Klavier der Frau Koppelmann und siehe, es waren dennoch Töne, dennoch Akkorde, Verzückungen der schwingenden Luft, die meine Hand griff. Wenn nichts meine renitente Gleichgültigkeit lösen konnte, jetzt stürzten nie gefundene Tränen aus meinen Augen, Boten und Herolde einer Heimat, die ich nicht kannte, meine Seele dehnte sich, als empfänge sie Liebe und Mütterlichkeit. Der Zustand steigerte sich fast zur Epilepsie, denn die verhemmte Leidenschaft pochte an alle Tore meiner Verschlossenheit. Damals wußte ich noch nicht, daß mein natürlicher Beruf die Musik sei!

Wie hätte ich das auch wissen sollen, ich, der Sprößling einer ärarischen Familie, Sohn eines Generals, Enkel eines Oberstleutnants, Urenkel eines Stabsprofosen, ich, dem die Scheu vor Anmut und Geist schon seit dem sechsten Lebensjahr eingeprügelt worden war.

Mit meinem Vater wechselte ich jedes halbe Jahr einen Brief. Meine Mutter war schon lange gestorben. Ihr dumpfes und kleines Licht, vor der Zeit war es zugrunde gegangen. In ihren letzten Jahren soll sie recht seltsam gewesen sein. Sie wurde von zwei krankhaften Trieben beherrscht. Der eine war ein Reinlichkeitstrieb ohnegleichen. Sie schmierte und putzte die Türklinken bis tief in die Nacht, sie wusch die Fenster zwei und dreimal des Tages, sie lag immer auf dem Boden und scheuerte die Dielen, die vom vorigen Tage noch blank waren. Immer spähte sie nach Flecken und Schmutzspuren, auf die sie sich stürzen konnte. Ihre zweite Krankheit war eine Art Beichtfieber. Sie ging täglich in drei Kirchen zur Beichte und wird gewiß schreckliche Sünden erfunden haben, die Arme, um ja ihr Leben nur mit etwas auszufüllen.

Oft dachte ich an jene Nacht, wo meine Mutter mit offenem Haar, die Kerze in der Hand, wie aus schwerem Schlaf erwacht, weinend an mein Bett getreten war und mich leidenschaftlich umarmt hatte. Damals und niemals mehr, ist sie mir als Frau erschienen. Heute verzeihe ich ihr, der Unerweckten, alle Härte. Sie hat gelitten, ohne zu wissen, daß sie leidet.

Die Briefe, die ich an meinen Vater richtete, begannen mit der Anrede „Lieber Vater“, enthielten einen trockenen Abriß über Dienstverhältnisse, Veränderungen, Avancements, taktische Aufgaben, die mir gestellt worden waren, und schlossen mit der Floskel: „Verehrungsvoll grüßt Dich Dein dankbarer Sohn Karl.“

Diese Briefe zu schreiben war eine Qual, die mir regelmäßig Kopfschmerzen machte. Hingegen mochte es geschehen, daß, wenn ein Brief meines Vaters fällig war, ich in Unruhe und erwartungsvolle Aufregung geraten konnte; kam dann dieser Brief, so wirkte er wie ein kalter Guß. Auch er brachte nur trockene Daten, aber aus seinem Ton spürte ich eine ärgerliche Mißachtung. Alles, was der Vater schrieb, jede harmlose Aussage, klang wie ein Befehl. Die Briefe waren in die Schreibmaschine diktiert und trugen nur die eigenhändige Unterschrift: „Dein Vater Karl Duschek, Edler von Sporentritt, Feldmarschallleutnant“.

Der frühere Frontoffizier hatte eine glänzende Karriere gemacht. Die Stufenleiter des Generalstabs, spielend war sie von ihm erstiegen worden. Als Befehlshaber einer der glänzendsten Divisionen zum Frontdienst zurückgekehrt, war er neuerdings zum Korpskommandanten der Residenz ernannt worden.

Er gehörte zu den einflußreichsten Militärs des Reiches, hatte den starräugigen, jägerbösen Thronfolger zum Freund, ohne deshalb am greisenhaft eigensinnigen Hofe mißbeliebt zu sein, und es war ein offenes Geheimnis, daß im Kriegsfalle ihm die Führung einer Armee zuteil werden würde.

Von allen Seiten hörte ich, daß die Stellung meines Vaters die beste Prognose meiner eigenen Laufbahn sei und, daß ich ein Schlemihl und Schwachkopf sein müßte, wenn ich nicht vorwärts käme.

Schon sieben Jahre hatte ich den General nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen – doch dafür verging keine Nacht, in der ich ihn nicht (allerdings war er da fast immer nur Hauptmann) in meinen qualvollen Träumen sah. Ein Traum kehrte oft wieder.

Es ist Krieg. Ich liege schwer verwundet mit aufgerissener Bluse auf der Erde. Mein Blut dringt langsam durch den dicken Stoff. Die Generalität ist um mich versammelt. Grüne Federbüsche wehen. Da tritt ein knieweicher Greis in purpurroten Hosen und schneeweißem Galarock, eine goldstrotzende Feldbinde um die Hüfte, auf mich zu und heftet mir ein großes weißes Kreuz (Maria Theresienorden) an die Brust. Auch mein Vater kommt auf mich zu. Er trägt die Uniform eines Feldwebels und raucht eine Pfeife. Kaum sieht er mich, so wird er blaß, schwankend, durchsichtig und fällt auf den Rücken. Er liegt nun da und ich erhebe mich. Furchtbare Wonne durchströmt mich. Versöhnung! Versöhnung! Von diesem Begriff bin ich ganz durchtönt. Ganz allein sind wir nun.

Klein und gelb in einer Mulde liegt er hingestreckt. Von Schluchzen durchschüttelt reiche ich ihm die Hand.

Donnerschlag! Weltuntergang!

Wir beide schweben im formlosen, grauen Raum. Stimmen zirpen von allen Seiten:

 
Vater, Sohn und Geist.
Geist, Sohn und Vater.
 

Dies ist noch der gelindeste meiner Träume. Dennoch ist mir der Tag, der ihm folgt, ein rasselndes Gespenst.

Der Vater, der inzwischen eine zweite Frau, eine sehr begüterte Dame der hohen Aristokratie geheiratet hatte, schickte mir keine Zulage zu meiner Leutnantsgage. So lebte ich schlechter als die andern Herren unseres Regiments, dessen Offizierkorps nicht zu den armseligen Kommisschluckern der übrigen Infanterie gehörte und an Geltung den Artilleristen gleichkam. Nur zu meinem Geburtstag erhielt ich ein väterliches Geschenk, eine Hunderter-Note, auf den Tag, ohne Glückwunsch und Brief, mit Postanweisung zugestellt. Dagegen schrieb ich zum Geburtstag des Vaters einen Brief, der mit jener Phrase anfing, die mich die Mutter gelehrt hatte, wenn ich auf einen großen, glänzenden Bogen, dessen Kopf einen gemalten Alpenblumenstrauß zeigte, meinen Glückwunsch schreiben mußte:

„Lieber Vater, zu Deinem Wiegenfeste…“

So begann die lange, stereotype Formel!

Da geschah es, daß ich in eine höchst peinliche Geschichte hineingezogen wurde. Ich hatte, schwach und leicht zu überreden, wie ich bin, für die Ehrenschuld eines mir im übrigen recht widerlichen Kameraden gebürgt. Der Mann, ein Intrigant und Feigling, hatte sich vor der Zeit aus dem Staube gemacht und in kurzer Frist zu verschiedenen Truppenkörpern versetzen lassen. Der Zahltag kam, ich stand mittellos und ohne Freund, der mir hätte beistehen können, da. Die Verwicklungen mehrten sich. Es stellte sich heraus, daß bei einem reichen polnischen Zivilisten Bank gehalten wurde, an welche die Kavalleristen der Garnison fabelhafte Summen verspielt hatten und die jungen Herren unseres Regiments nach ihrem Vermögen bestrebt gewesen waren, ihnen nachzueifern. Falschspielerei, Dokumentenfälschung, gebrochene Ehrenwörter kamen nach und nach ans Tageslicht. – Zu alledem war die vierzehnjährige Tochter eines Gutsbesitzers geschwängert worden und, ohne zu gestehen, wer der Verführer gewesen, im Kindbett gestorben. Der Hauptverdacht in diesem Rattenschwanz von Schmutzereien fiel auf mich, – auf mich, der ich weder je eine Karte, noch ein Weib berührt hatte.

Denn ich bin zum Sündenbock wie geschaffen.

Systematisch zerstörten Selbstbewußtseins war ich gesonnen, wenn in der Gegend irgend ein Mord begangen worden war, mich selbst für den Mörder zu halten. Ich identifizierte mich mit jedem Angeklagten, dessen Verhandlung ich im Gerichtssaalsbericht las. Auf meiner Seele lastete die Überzeugung meiner Mitschuld an jedem Verbrechen. Bei allen Verhören, und mochte es sich auch nur um einen entwendeten Federstiel in der Kadettenschule handeln, war ich verstockt, und eine unüberwindliche Selbstzerstörungslust in mir zog wie ein Blitzableiter den Verdacht an. – So war es auch in den Verhören, die der Oberst und seine Kommission mit mir pflogen. Ich war verstockt und bösartig, besonders dann, wenn die Vorgesetzten mir gütig zuredeten, obgleich in solchen Augenblicken mein Gemüt in heiße Tränen sich auflöste. Gänzlich unschuldig, ja gar nicht fähig, den Fall zu übersehen und zu verstehen, erfand ich in krankhaftem Zwang Lügen, phantasierte von Beziehungen, die ich niemals gehabt hatte und spann so mit eigenen Händen ein irrsinniges Netz, in dem ich endlich ganz bedenklich zappelte.

Man schüttelte bedeutsam die Köpfe, man nahm die Gelegenheit der Rache an einem häßlichen Sonderling wahr, – diejenigen, die am meisten Butter am Kopf hatten, begannen mich zu schneiden, ja im Grunde waren alle zufrieden, den Sohn eines in Fachkreisen und in der Gesellschaft berühmten Generals als Hauptperson in einer üblen Angelegenheit agieren zu sehen, denn das bedeutete einen doppelten Vorteil: Erstens war die Ehre des Regiments weniger in Gefahr – und zweitens gönnt man einem Erfolgreichen stets Beschämung.

Es kam immer ärger. Protokolle häuften sich, der Urheber des Schmutzes, jener Leutnant, der sich hatte versetzen lassen, war verschwunden und trotz aller dienstlichen Anfragen unauffindbar – ich selbst in meinen eigenen tollen Widersprüchen gefangen, war nicht mehr in der Lage, die einzige vernünftige Wahrheit zu sagen: Ich weiß von nichts!

Meine Situation wurde immer schiefer. Man schnitt Grimassen, zuckte die Achseln und schon wurde die Ansicht laut, daß ein ehrenrätliches Verfahren nicht genüge, einen kriminellen Fall auszutragen.

Da brachte eines Tages der Postunteroffizier drei Briefe. Einer davon wanderte in die Kanzlei des Kommandanten. Das große weiße Dienstkuvert trug die Absenderadresse: Militärkanzlei Seiner Majestät!

Die beiden anderen Briefe waren an mich gerichtet. Der eine kam von meinem Vater, der andere von seinem Adjutanten. Der Brief des Vaters enthielt keine Anrede und lautete so:

„Ich werde es nicht dulden, daß ein Name, der Generationen hindurch der k. u. k. Armee zur Ehre gereicht hat, durch Dich in Verruf gebracht wird. Die Militärkanzlei Seiner Majestät hat die Akten und Protokolle über das unverantwortliche Treiben, dessen Hauptschuldiger Du bist, eingefordert, und wird selbst die Entscheidung treffen.

Du hast sofort abzugehen, hierorts einzurücken und innerhalb von achtundvierzig Stunden Dich bei mir zu melden.

Duschek von Sporentritt, Fmlt.“

Der Brief des Adjutanten enthielt diesen persönlichen Befehl in dienstlicher Fassung. —

Jetzt erst, nachdem mein Vater mir unrecht getan hatte, empfand ich die ganze lächerliche Tragik, der ich unschuldig verfallen war. Ich ging nach Hause und in dem Loch der Frau Koppelmann, das ich bewohnte, befiel mich ein stundenlanges Zittern, so daß ich das Teegeschirr, meinen Wasserkrug und den Handspiegel zerbrach, aus dem mich mein leichenhaft spitzes Gesicht mit den übertriebenen Backenknochen angeblickt hatte. —

Ich lag die ganze Nacht auf dem unsagbar dreckigen Fußboden ausgestreckt. Ungeziefer kroch langsam über meine Stirne, eine große Ratte, schwer wie eine trächtige Katze, lief über meinen Bauch. Ekel ließ mich den Tod ersehnen. Aber ich stand nicht auf. So war es recht. In den Abgrund gehörte ich. In die Schlangenhöhlen, in die Nester der Ratten, in die sumpfigen, stinkigen Schlupfwinkel der verfluchten Geschöpfe.

Gegen Morgen sah ich meinen Vater im Traum. Er trug jenen windigen Zivilanzug, in dem er wie ein Postassistent aussah, und hatte starkes Nasenbluten, das er durch ein vorgehaltenes Taschentuch zu stillen suchte. „Du meinst immer?“, sagte er mit einer recht umgänglichen Stimme, die nicht die seine war. „Du meinst, daß ich an nichts anderes denke, als dich zu züchtigen. Weit gefehlt! Ich habe mehr Gnade – als Züchtigung an dir geübt. Schau nur!“

Er hielt mir ein paar Handfesseln entgegen, pfiff sich eins, wie ein Arzt, der zu spät zu einem Kranken geholt wird und sieht, daß nicht mehr zu helfen ist. Dann rief er noch, während sein Bild schon zu schwanken begann:

„Habt acht, Korporal! Was sich liebt, das neckt sich!“

Er verschwand und ich begann im Gänsemarsch hinter trauertragenden Zivilisten einherzugehen, deren gerötete Stiernacken von Ausschlag und Furunkeln entstellt waren.

Plötzlich bemerkte ich, daß ich mich nicht selbst bewege, sondern gedreht werde, immer schneller – und – da erwachte ich.

Mittags meldete ich dem Oberst mein Abgehen vom Regiment. Er schüttelte mir um einen Grad zu kameradschaftlich die Hand, wünschte mir Glück und versicherte, er sei überzeugt, daß die unangenehme Affäre sich zu allgemeiner Zufriedenheit aufklären werde, zumal die allerhöchste Stelle ein unbezweifelbares Interesse an den Tag lege. Er selbst zweifle keinen Augenblick daran, daß der Sohn seiner Exzellenz des Herrn Feldmarschalleutnants Duschek von Sporentritt nicht anders als rechtlich handeln könne.

Als ich dem Oberleutnant Cibulka die Hand zum Abschied reichen wollte und in seinem Gesicht eine hochmütige Verlegenheit bemerkte, unterließ ich es, meinen anderen Kameraden Adieu zu sagen. Was gingen mich diese näselnden Dummköpfe an?

Am Abend war mir schon viel leichter zumute. Ich fühlte sogar ein Prickeln, wenn ich an die Residenz dachte, die ich nur als Kind besucht hatte. Erst als ich im Zuge saß, ergriff mich Unruhe. Denn ich sah ja nach langem das erstemal und unter wie peinlichen Umständen dem Wiedersehen mit meinem Vater entgegen.

Am frühen Morgen kam ich in der Residenz an. Wie groß war selbst zu dieser Stunde das Leben hier! Der Asphaltboden zitterte in feinem Ausschlag wie das Deck eines Dampfers, wenn die Maschinen ihre Arbeit aufnehmen.

Lastwagen, Straßenbahnen, Automobile! Menschen mit scharfen, unbeugsamen Gesichtern, die nicht gesonnen waren, sich beschimpfen zu lassen; sie alle, Arbeiter, Marktweiber, Commis, Ladenmädeln, Kaufleute, Studenten, sie gingen, ohne rechts und links zu schauen, zielbewußt ihres Wegs. Soldaten sah ich fast keine, und das machte mir die meiste Freude. All diese fünf Jahre war ich an keinem Ort gewesen, wo ich nicht ununterbrochen hätte spähen müssen, ob mir nicht salutiert würde, oder ob ich nicht salutieren müsse.

Hier war ich nichts, drum war ich Wer! Und hier war ein anderer auch nichts, drum war ich doppelt Wer! – Mit Trotz und Trumpf fühlte ich das und mußte plötzlich stehen bleiben – denn vor langen – langen Jahren, ich wußte nicht wann und nicht wie, – hatte ich diese Empfindung schon erlebt.

Ich bezog in einem sehr wenig standesgemäßen Gasthof eines äußeren Bezirks Quartier.

Der Portier sah mich zuerst sehr erstaunt an und war nachher überaus katzenfreundlich.

Ich wusch, rasierte und kleidete mich streng nach der Dienstvorschrift, denn ich kannte meinen Vater. Er stellte jeden jungen Offizier, dessen Kappe nicht die vorgeschriebene Höhe hatte und dessen Adjustierung nicht genau den Satzungen des Dienstbuchs X entsprach.

Dann begab ich mich, ärgerlich, daß ich das feige, zaghafte Gefühl in mir nicht zu überwinden vermochte, zum Korpskommando.

In einem Vorzimmer fragte ich nach dem General. „Seine Exzellenz sind noch nicht hier,“ hieß es.

Ich wartete eine Stunde.

Offiziere schlugen krachend die Türen zu, schimpften mit den Ordonnanzen, ihr Reden war immer laut und überdeutlich, als stünden sie vor einer Front. Feldwebel eilten beflissen mit Akten und Dienststücken hin und her, sie blieben, wenn sie etwas meldeten, in großem Abstand vor dem Offizier stehen, auf ihrem Gesicht zeigte sich Todesfurcht, Eifer und Zerknirschung.

Ich wartete noch eine Stunde. Meine Aufregung war kaum mehr zu bemeistern.

Dann wandte ich mich an den diensthabenden Rittmeister und nannte meinen Namen.

„Ah, das freut mich wirklich.“

Er war zuvorkommend, höflich und rückte mir sogar einen Stuhl zurecht.

„Bitte nimm nur Platz! Exzellenz muß gleich kommen. Er ist bloß ins Ministerium gefahren. Wie gesagt, er wird gleich hier sein. Aber jetzt – du siehst, wie ich zerrissen werde – mußt du mich entschuldigen!“

Er eilte einem höheren Offizier entgegen, mit dem er in einer Türe verschwand.

Ich zog es vor, auf dem Gang zu bleiben, der wilder als eine Straße von hundert Schritten hallte. Plötzlich verstummte alles, das ganze Getriebe blieb wie angewurzelt stehen, Hände fuhren an die Hosennaht, Hacken klappten aneinander, Köpfe erstarrten in scharfer Wendung.

Es klirrte die Stiege hinauf, das Schweigen durchbrach ein mit erhobenen Stimmen geführtes Gespräch.

Von zwei Stabsoffizieren flankiert, die angestrengt und ergeben ihr Ohr neigten, schritt ein General mit fabelhaft spiegelnden Lackreitstiefeln, breiten rotstreifigen Breeches und hellblau-goldknöpfigem Waffenrock über den Gang.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2018
Объем:
150 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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