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III

Sprachen können jahrhundertelang schon von Schrift begleitet sein, ohne daß das entstünde, was man mit einem sehr sonderbaren Wort als „Schriftsprache“ bezeichnet. Wohl bildet sich die Schrift überall bald Formen des sprachlichen Ausdrucks, die ihrer eigenen Umständlichkeit ent-sprechen, aber außerhalb der schriftbeherrschten Lebenskreise bleibt die Sprache frei und triebkräftig. So wie ein Schulkind zwar in der Schule selbst das Sprechen verlernt, aber zu Hause schwatzt es noch drauflos. Erst wenn es die Lesewut bekommt, spätestens also wenn es Zeitungen zu lesen anfängt, ist seine Sprachkraft ins Joch gespannt. Von da ab braucht der Mensch eine besondere Erregung, um nicht so zu sprechen wie er oder vielmehr wie man schreibt. So kommt auch im Leben der Völker einmal der Augenblick, wo die Schrift aus einer Gehilfin der Sprache zu ihrer Herrin wird. Und dieser Augenblick kommt dann, wenn ein das ganze Leben des Volks umfassender Gehalt in Schrift gegossen wird, wenn es also zum ersten Male ein Buch gibt, das „jeder gelesen haben muß“. Von diesem Augenblick an kann Sprache nicht mehr unbefangen vorwärts gehen und sich die Richtung ihres Wegs nicht mehr ausschließlich von dem, was ihr unterwegs begegnet, weisen lassen; sie muß sich im Fortgehen alleweil umschauen, ob sie auch nicht jenen Punkt ganz aus den Augen verliert. Wer fortwährend zurücksieht, wird von da ab mindestens langsamer gehn als er zuvor gegangen ist. Und wirklich ist das Entwicklungstempo der Sprache von da an viel schwerfälliger als es vorher war. Wir verstehen heut im großen und ganzen noch Luthers Deutsch, wenn wir es nur orthographisch – die Orthographie ist aber stets Produkt zweckbewußten Willens – modernisieren; davon hat sich der Leser dieser Abhandlung in dem großen Zitat überzeugen können. Dagegen hätte das bei der ihm zeitgenössischen Literatur, soweit sie nicht schon von ihm beeinflußt ist, etwa bei dem letzten Druck der vorlutherschen Bibelübersetzung, dem von 1518, oder bei Dürers Niederländischem Reisetagebuch seine großen Schwierigkeiten; hier hätte ich schon mehr als die Orthographie erneuern müssen, mindestens viele Wortformen. Und Meister Eckhart müssen wir schon übersetzen, geschweige Berthold von Regensburg oder gar die Nibelungen. Die Italiener aber lesen ihren Dante, der doch mit unserm Eckhart gleichzeitig ist, so wie wir Luther; und wenn wir eine italienische Zeitung lesen können, so macht uns das Dantesche Gedicht im wesentlichen auch keine andren Schwierigkeiten mehr als die, über die sich schon das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert die Köpfe zerbrach. Und wenn hier jener Augenblick des Werdens der Schriftsprache und die Regulierung des vorher fessellos sich breitenden Stroms der Sprachentwicklung schon volle 600 Jahre her ist, so finden wir ein Beispiel für eine mehr als doppelt so lange Zeit in der arabischen Schriftsprache. Hier wurde das klassische Werk der Koran. Seine Sprache ist, ähnlich wie das Hochdeutsch heut in der Schweiz oder seit dem Sieg der Lutherbibel Mitte des siebzehnten Jahrhunderts in Niederdeutschland, zwischen allen Dialekten die Sprache des höheren Ausdrucks geworden; nicht bloß die Literatur und die Zeitung bedient sich ihrer, sondern auch das Theater, die parlamentarische und festliche Rede; und der Aufruf zum Heiligen Krieg während des Weltkriegs hatte nach dem Wort eines bekannten Berliner Orientalisten auch aus der Zeit der Omajjaden sein können.

Diese Herrschaft eines Buchs über die Sprache bedeutet ja nun natürlich nicht, daß die Sprachentwicklung fortan stillsteht. Sie ist nur ungeheuer verlangsamt und genau wie beim Einzelnen von der Hebelkraft erregter Momente, so von einem für die Sprache ebenso zufälligen und ebenso nothaften Auftreten sprachschöpferischer Genien abhängig geworden. Und die Geburten dieser spracherneuernden Augenblicke persönlicher, wie der Träger und Austräger völkischer Not weisen fortan nicht mehr immer in sprachliches Neuland, sondern sind nun oft von der Vergangenheit der Sprache gezeugt; so wie dem Einzelnen in seiner Not vielleicht ein einmal gelesenes Wort auf die Lippen kommt, das er sich zu gebrauchen sonst stets gescheut hätte und das ihm nun doch das wahre Wort dieses seines Augenblicks wird, so greift der öffentliche Sprecher in der Not seiner Aufgabe nun fortan nicht mehr nur ins Bereich des schwankenden Sprachmöglichen, sondern oft wird er jetzt die Schatten aus dem Totenreich der Sprache beschwören und sie mit dem Blut dieses seines nothaften Augenblicks zum Reden bringen. Wie aber jener Einzelne in den momenthaften Ausweitungen seines Sprachkreises doch meist gebunden sein wird an den Kreis dessen, was seine Zeit liest, so wird die Sprache als Ganzes, wird also der von ihr mit einer Aufgabe Betraute, die Totenbelebung kaum je über den Zeitpunkt des schriftsprachegründenden Werks hinaus versuchen. Was in der Lutherbibel steht, ist, wenn auch veraltet, doch fast alles wieder belebbar; und wenn man etwa in dem trefflichen Werk des Berliner Aufklärers Teller6 sieht, was er damals in der Lutherbibel alles für veraltet hielt – Worte und Wendungen, die damals, 1794, schon von den Klassikern wieder in lebendigen Gebrauch genommen waren, und noch mehr, die in den unmittelbar folgenden Jahrzehnten wieder in die allgemeine Sprache eindrangen –, dann hält man hier so leicht nichts mehr für unmöglich; aber aus den Sprachbezirken jenseits der Lutherbibel wird nur selten und nur unter besonderen Umständen eine Wiedereinbürgerung gelingen.

Verschärft wird nun die Problematik des klassischen, schriftsprachegründenden Buchs hier dadurch, daß es eine Übersetzung ist. Denn für Übersetzungen gilt das Gesetz einer Einmaligkeit, die sich mit jener Einmaligkeit des klassischen Augenblicks der Sprachgeschichte hier summiert. Jedes große Werk einer Sprache kann in einem gewissen Sinn in eine andre Sprache nur einmal übersetzt werden. Es gibt einen ganz typischen Gang in der Geschichte des Übersetzens. Am Anfang stehen nebeneinander anspruchslose Interlinearübersetzungen, die nur eine Hilfe zum Lesen des Originals sein wollen, und freie Bearbeitungen, Nachdichtungen, die den Sinn, des Originals oder was sie dafür halten irgendwie an den Leser herantragen wollen. Es gibt keinen schlagenderen Beweis, daß etwa für Dante in Deutschland diese erste Periode noch nicht vorbei ist, als daß die Geisowsche und gar die Trencksche „Übersetzung“ einen Verleger und sogar Leser gefunden haben.

Dann geschieht eines Tages das Wunder der Vermählung der beiden Sprachgeister. Es geschieht nicht unvorbereitet. Erst wenn das empfangende Volk aus eigener Sehnsucht und in eigener Äußerung dem Flügelschlag des fremden Werks entgegenkommt, wenn also die Aufnahme nicht mehr aus Neugier, Interesse, Bildungsdrang, selbst ästhetischem Wohlgefallen erfolgt, sondern in der Breite einer historischen Bewegung, erst dann ist die Zeit für einen solchen „Hieros Gamos“, eine solche Heilige Hochzeit gekommen. Also für Schlegels Shakespeare erst in den Jahren, wo Schiller den Deutschen ein eigenes Theater schaffen kann; für Vossens Homer erst, als Goethe antiker Form sich nähert; für Dante noch nicht im Zeitalter der „Weltliteratur“ und der schönseligen oder lebensschiffbrüchigen Romantikerkonversionen, wohl aber – so viel darf man prophezeien – in einer Zeit, die ohne zu katholisieren ins wahrhaft Kat-holische, ins Universelle, Summarische hinausstrebt. Der Übersetzer, den das fremde Werk dann findet, ist gleich fern von jener bescheiden-zaghaften Beschränkung aufs „Philologische“, wie von jener naiven Frechheit, die sich an Dante noch in unserer Zeit heranmachen konnte; ihn trägt der ehrfüchtige Glaube, je treuer das Original in die eigene Sprache eingehe, um so mehr werde die Forderung dieser nationalen Stunde erfüllt.

Danach ist das fremde Buch ein eigenes geworden. Das heißt konkret, daß Jugend – denn für sie allein wird alles Geschriebene geschrieben, die Erwachsenen haben andres zu tun, Besseres und Schlechteres – an ihm, dem fremden Buch, ihre Werdenöte erlebt, erleben kann. Es gibt fortan in Deutschland viele Menschen, denen Homer oder Shakespeare mehr bedeutet als er den meisten Griechen oder Engländern bedeutet hat. Dieser ungeheure Schritt in der Einigung des Babels der Völker wird nicht dem einzelnen Übersetzer verdankt, sondern ist eine Frucht, die das Volksleben unter der Konstellation einer ganz einmaligen Geschichtsstunde gereift hat. So kann er nicht wiederholt werden. Die Stunde der Volksgeschichte kehrt nicht wieder, weil sie nicht wiederzukehren braucht; sie ist, in den Grenzen, die hier allein in Betracht kommen, den Horizontgrenzen der augenblicklichen nationalen Gegenwart, unsterblich. Solange der Zusammenhang dieser Gegenwart mit der Vergangenheit nicht katastrophal zerrissen wird – nicht also wenn bloß eine Mode unmodern wird, wie das Rokoko seit 1770 gegenüber dem Zopf, auch nicht bei einer Teilkatastrophe wie der unsern von 1918, sondern etwa wie beim Untergang der mittelhochdeutschen Kultur, von deren großen Gedichten, die noch um 1400 häufig abgeschrieben wurden, nur noch Parzival und Titurel, und auch sie nur einmal, unter die Druckerpresse kamen – solange also dieser Zusammenhang nicht derart katastrophal zerreißt, woran vorauszudenken ebenso unsinnig wäre wie für den Einzelnen ein Ausmalen dessen was ihn nach dem Tod erwartet, so lange bleibt homerisch dem deutschen Volk, was Voß, und biblisch, was Luther dazu gemacht hat. Kein neuer Übersetzungsversuch kann jene nationale Bedeutung erreichen, er wird in seiner Wirkung immer nur auf Teile des Volks und auf Einzelne beschränkt sein, und nur durch diese seine geschehende Wirkung auch ins Ganze wirken, nicht wie jene einmalige klassische Übersetzung durch ihr bloßes Dasein, durch einen von ihr ausströmenden mythischen Begriff – „biblisch“, „homerisch“ –, der auch, ja sogar der grade die erfaßt, die das Buch nicht aufschlagen. Die neue Homerübersetzung kann zwar viel besser sein als die vossische, aber ein welthistorisches Ereignis ist sie nicht, kann sie nicht werden; sie darf nur noch um die Kränze ringen, die der Geist des eigenen Volkes verleiht, nicht um den nur einmal verliehenen Kranz des Weltgeists, der nur einmal verliehen werden kann, weil das Kampfspiel der Welt nur einmal gespielt wird, nicht wie die Übungsspiele der Völker und Menschen alle Jahre, alle Tage.

Zu der doppelt gegründeten nationalen Einmaligkeit der Lutherbibel kommt noch ihre kirchliche. Sie ist beschränkter als jene, die in ihren mittelbaren Wirkungen – deutsche Klassiker und Mythos des „Biblischen“ auch den katholischen, auch den jüdischen Volksteil ergriffen hat. Der protestantischen Kirche ist Luthers Übersetzung das geworden, was die katholische Kirche in einem reichen System von Institutionen besitzt: der Träger ihrer Sichtbarkeit. Deshalb ist schon von Anfang an, gleich nach Luthers Tod, und bis auf den heutigen Tag der Protestant an keinem Punkt so „katholisch“ wie an diesem. Es wäre lebensgefährlich für den Protestantismus, hätte er nicht, und ebenso schon von Anfang an, dieser Neigung zur Buchvergötzung etwas entgegenzusetzen gehabt: die Wortverwaltung. Die Predigt wird vom Pfarrer unter Zurateziehung des Urtexts vorbereitet; und wo das auch nicht geschicht, geschah doch wenigstens die Vorbereitung der Vorbereitung am Text; die Professoren, bei denen der Landpfarrer einst hörte, haben aus dem Urtext doziert. Trennung von Geistlichen und Laien wird dadurch freilich gesetzt, aber eben durch die Predigt auch wieder überbrückt. Und was die Predigt allsonntäglich erreicht, das haben geschichtlich die seit Luthers Tod nie ganz aussetzenden Revisionsbestrebungen gewirkt, die sich um die Wende des siebzehnten und in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts je zu einem großen Werk verdichteten, der „Cansteinschen“ und der heutigen „revidierten Lutherbibel“, beide genährt von der germanistischen Wissenschaft ihrer Zeit7, beide auf Luthers echten Wortlaut vielfach wieder zurückgehend, doch beide getragen von dem Willen, sein Werk für die Kirche brauchbar und für das Kirchenvolk lesbar zu erhalten. Beiden ist es geglückt. Die Cansteinsche Bibel hat den Text geschaffen, aus dem die Klassiker ihr Deutsch gelernt haben, das die Sprache vor der drohenden Romanisierung gerettet hat. Das Revisionswerk des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts wird von aller Welt außerhalb der Philologenkreise für die wirkliche Lutherbibel gehalten, schon dadurch den aus genialen Blitzen und gelehrten Borniertheiten sonderbar gemischten Protest Lagardes8 widerlegend, der ihren Vätern, voran dem gedankenreichen Franz Delitzsch, grade das vorwarf, was ihr höchstes Verdienst war: daß sie nicht nur nicht Luther nach dem „Stande der Wissenschaft“ (von 1885), vor allem nach den, doch sogar von Olshausen angenommenen(!), Ergebnissen Paul de Lagardes umschrieben, sondern sogar ihre eigene in Delitzschs wissenschaftlichen Übersetzungen niedergelegte bessere Einsicht meistens zurückstellten.

So legt sich noch heute, und soweit von diesem Heute aus ein in diesem Deutschland eingewurzeltes Herz blicken mag und blicken darf, dem Unterfangen einer neuen Bibelübersetzung ein aus drei Einmaligkeiten geflochtener Verhau in den Weg: Einmaligkeit des kircheversichtbarenden, Einmaligkeit des schriftsprachegründenden, Einmaligkeit des weltgeistvermittelnden Buchs. Niedergelegt kann dieser dreifache Verhau nicht werden und darf es nicht. Aber übersprungen werden kann und darf und muß er. Muß er – schon um ohne Gefahr stehenbleiben zu dürfen.

IV

Denn die Stimme dieses Buches darf sich in keinen Raum einschließen lassen, nicht in den geheiligten Innenraum einer Kirche, nicht in das Sprachheiligtum eines Volks, nicht in den Kreis der himmlischen Bilder, die über eines Landes Himmel ziehen. Sie will immer wieder von draußen schallen, von jenseits dieser Kirche, von jenseits dieses Volks, von jenseits dieses Himmels. Sie verwehrt nicht, daß ihr Schall sich echohaft in Räume verfängt, aber sie selber will frei bleiben. Wenn sie irgendwo vertraut, gewohnt, Besitz geworden ist, dann muß sie immer wieder aufs neue als fremder, unvertrauter Laut von draußen die zufriedene Gesättigtheit des vermeintlichen Besitzers aufstören. Dies Buch, es allein unter allen Büchern der Menschheit, darf nicht im Schatzhaus ihres Kulturbesitzes sein Ende finden; weil es nämlich überhaupt nicht enden soll. In der Bibliothek jenes Schatzhauses liegen alle Bücher, die je geschrieben sind; die meisten verstaubt, vergessen, selten einmal gefordert; manche täglich verlangt. Auch die Bibel liegt in diesen Magazinen, in vielen hundert Sprachen, Sprachen der Völker, Sprachen der Künste, Sprachen der Wissenschaften, Sprachen der Institutionen, Sprachen der Programme. Ihre Ausleihziffer ist höher als die jedes andern Buchs, und trotzdem sind stets noch Exemplare vorhanden. Da betritt irgendein Besteller die Ausleihe und verlangt sie. Der Diener kommt zurück: kein Exemplar mehr vorhanden. Die Bibliothekare sind entsetzt, verzweifelt, ratlos: eben, als Frau Professor Vorgestern für ihren Mann eine holte, standen noch alle Regale voll. Um dieses einen Bestellers willen ist sie geschrieben.

Die Lutherbibel war, als sie entstand, das was die Bibel sein soll und wodurch sie, so oft sie es ist, sich als ein einziges unter allen menschlichen, bloßmenschlichen Büchern bewährt: eine Sensation. Das sieht man sowohl aus den Auflageziffern, die Hans Lufft druckte, wie aus den Preisen9, wie endlich aus der Menge der Nachdrucke. Und negativ sieht man es aus dem Entsetzen „Meister Klüglings“, des „verdrießlichen Manns“, der aus „großem Neid“, daß er selber „nichts Gutes machen kann, doch damit Ehre erjagen und Meister sein will, daß er fremde gute Arbeit lästern und schänden kann“10, dieser Lustspielfigur, zu der sich Luther in seinen Bibelvorreden die Personen seiner Kritiker ohne Ansehn der Person zusammengeballt hat: der weiß ja auch, was die Bibel ist, und tobt nun, daß Luthers „gar ein ander Buch denn die lateinische Bibel sei“11, er hat doch seinen „bewährten Text“12, warum geht Luther von dem ab? nicht einmal die Namen13 gibt diese „Haderkatz“14 so, wie sie dem Volk aus der lateinischen Bibel vertraut sind, sondern nähert sie den unvertrauten hebräischen Formen an! er will doch mit Recht seine Bibel nur so verdeutscht haben, wie sie von je „gesungen, gelesen, gebraucht und angenommen ist von der heiligen lateinischen Kirche und sich nicht kümmern lassen, wie es in Jüdisch, Griechisch oder Chaldäisch laute“15.

Dieser Posaunenton in das Ohr der über ihrem Besitz des „angenommenen und bewährten Texts“16 zufrieden Eingeschlafenen ist die Lutherbibel nicht geblieben; sie wurde selber Besitz, nationaler Besitz. Die große überhistorisch-historische Sensation konnte sie nur in den Jahrzehnten ihrer Entstehung bleiben; nachher sind die großen historischen Wirkungen, die von ihr ausgehen, Wirkungen in die einzelnen Kanäle des Kultursystems; Wirkungen also gewiß auch auf den „religiösen Anteil“ der Kultur, aber eben als auf einen Teil; so hat sie vom ausgehenden sechzehnten bis ins beginnende achtzehnte Jahrhundert das protestantische Kirchenlied bis zu den Gipfeln der Bachschen Passionen befruchtet, so vom achtzehnten ins neunzehnte die Dichtersprache der Klassik und Romantik bis hinauf zum Goetheschen Faust; ein Sturm, der das Gewässer des nationalen Lebens aufwühlt, bevor es noch in seine Kanäle gefaßt, verfaßt ist, wurde sie nicht ein zweites Mal, konnte sie, Besitz geworden und so aufs neue „an die Kette gelegt“, nicht wieder werden. Auch der Einzelne verteidigt heut in ihr Besitz, kirchlichen, nationalen, kulturellen; darum hat er ein Recht dazu, – Vollmacht nicht.

Es ist historisch gesehen kein Zufall, daß wenigstens bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein noch die innere Kirchengeschichte des deutschsprachigen Protestantismus sich an ihr abspielte. Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts treten, vorerst meist in grotesker Gestalt, die Versuche auf, sie zu ersetzen, – karikaturhafte Randzeichnungen zu einem sehr ernsten historischen Text: dem Wanken des alten festumschriebenen Glaubensbegriffs, der, wie zu Beginn gezeigt, die bis ins einzelne formbestimmende raft der Lutherschen Übersetzung war. Heute ist dieser Prozeß, in seiner negativen Hälfte wenigstens, zum Abschluß gekommen; denn auch die verschiedenen Orthodoxieen, auch wenn sie in den öffentlichen Formulierungen Rücksicht auf den Zusammenhang mit dem eigenen Mittelalter und mit dessen Spätlingen in ihren Reihen nehmen zu müssen meinen, begründen doch vor sich selber ihren Glauben nicht mehr mittelalterlich. Aber positiv hat der Prozeß, obwohl auch diese Seite schon gleich mit seinen Anfängen anfängt, erst begonnen; auch das zeigt sich am deutlichsten an den Orthodoxieen, nämlich an ihrem hemmungslosen Mitmachen der gegnerischen Argumentationen. So sagt, wer das Positive zu sagen versucht, es heute auf eigene Verantwortung; mag es auch viele geben, die sein Bekenntnis mitsprechen können, er sieht sie nicht, die Stimmen einen sich nicht zum Chor. Trotzdem ist, was er zu sagen hat, wenn es nur Wort um Wort aus echter Erfahrung geschöpft ist, nicht „subjektiv“; und die Lieblingswissenschaft des modernen gelehrten Schilda, die mit schildbürgerlichem Ernst das Fernrohr auseinandernimmt, weil sie hofft, darin die Sterne zu finden, die „Religionspsychologie“, hat an ihm ihr Spiel verloren.

Dieser Mensch ist kein Gläubiger, aber auch kein Ungläubiger. Er glaubt und er zweifelt. Er ist also nichts, aber er lebt. Genauer: er hat Glauben oder Unglauben nicht, sondern Glaube und Unglaube geschehen ihm. Ihm liegt nichts ob, als dem Geschehen nicht davonzulaufen, und wenn es geschehen ist, ihm zu gehorchen. Das klingt beides, solange man weit vom Schuß ist, wie nichts; es ist aber so schwer, daß wohl keiner lebt, der es immer, – nein, wohl keiner, der es mehr als seltene gezählte Male fertiggebracht hat.

Wer so lebt, kann an die Bibel nur herantreten mit einer Bereitschaft zum Glauben und Unglauben, nicht mit einem umschreibbaren Glauben, den er in ihr bestätigt findet. Doch ist auch seine Bereitschaft unumschrieben, unbegrenzt. Ihm kann alles glaubhaft werden, auch das Unglaubenswürdige. Ihm ist nicht das Glaubenswürdige eingesprengt zwischen nicht Glaubens-, also doch Unglaubenswürdiges, wie Metalladern in Gestein, oder jenes mit diesem verbunden wie das Korn der Ähre mit ihrem „strohernen“ Anteil; sondern wie ein Scheinwerfer für eine Weile ein Stück der Landschaft aus dem Dunkel heraushebt, dann wieder ein andres, dann abgeblendet wird, so erhellen diesem Menschen die Tage seines Lebens die Schrift und lassen ihn in ihren Menschlichkeiten heut hier und morgen da – und das Heut übernimmt keine Bürgschaft für ein Morgen – das mehr als Menschliche erkennen. Im Menschlichen selbst; sie ist überall menschlich. Aber allerorten kann dieses Menschliche unter dem Lichtstrahl eines Lebenstages durchsichtig werden, derart, daß es diesem Menschen plötzlich in die eigene Herzmitte geschrieben ist und ihm das Göttliche im menschlich Geschriebenen für die Dauer dieses Herzschlags ebenso deutlich und gewiß ist wie eine Stimme, die er in diesem Augenblick in sein Herz rufend vernähme. Nicht alles in der Schrift gehört ihm, – heute nicht und nie. Aber er weiß, daß er allem gehört. Diese Bereitschaft, sie allein, ist, auf die Schrift gewendet, sein Glaube.

Ist es nicht klar, daß auf dem Grunde solchen Glaubens die Schrift anders gelesen und also auch anders gemittelt werden muß als Luther las und mittelte? Muß nicht jener Grund, der Luther veranlaßte, bisweilen der hebräischen Sprache Raum zu lassen und die deutsche Sprache auszuweiten, bis sie sich der hebräischen Worte gewohne, nämlich wo es um die „Lehre“ und den „Trost unsres Gewissens“ ging, muß nicht jener Grund uns, die wir nicht wissen, aus welchem Wort die Lehre und der Trost fließen werden, und die glauben, daß die verborgenen Quellen der Lehre und des Trostes aus jedem Wort dieses Buchs einmal aufbrechen können, uns also zu einer neuen Ehrfurcht vor dem Wort beugen? einer Ehrfurcht, die notwendig auch unser Lesen, unser Verstehen, und also unser Übersetzen erneuern wird?

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