Parkanlagen vor dem Gymnasium – Melchior, Otto, Georg, Robert, Hänschen Rilow, Lämmermeier
Kann mir einer von euch sagen, wo Moritz Stiefel steckt?
Dem kann′s schlecht gehn! – O dem kann′s schlecht gehn!
Der treibts so lange, bis er noch mal ganz gehörig ′reinfliegt!
Weiß der Kuckuck, ich möchte in diesem Moment nicht in seiner Haut stecken!
Eine Frechheit! – Eine Unverschämtheit!
Wa – wa – was wißt ihr denn?
Was wir wissen? – Na, ich sage dir …
Ich möchte nichts gesagt haben!
Ich auch nicht – weiß Gott nicht!
Wenn ihr jetzt nicht sofort …
Kurz und gut, Moritz Stiefel ist ins Konferenzzimmer gedrungen.
Ins Konferenzzimmer …?
Ins Konferenzzimmer! – Gleich nach Schluß der Lateinstunde.
Er war der letzte; er blieb absichtlich zurück.
Als ich um die Korridorecke bog, sah ich ihn die Tür öffnen.
Hol dich der …!
Wenn nur ihn nicht der Teufel holt!
Vermutlich hatte das Rektorat den Schlüssel nicht abgezogen.
Oder Moritz Stiefel führt einen Dietrich.
Ihm wäre das zuzutrauen.
Wenn′s gut geht, bekommt er einen Sonntagnachmittag.
Nebst einer Bemerkung ins Zeugnis!
Wenn er bei dieser Zensur nicht ohnehin an die Luft fliegt.
Da ist er!
Blaß wie ein Handtuch.
(Moritz kommt in äußerster Aufregung.)
Moritz, Moritz, was du getan hast!
– — Nichts – — nichts – — —
Du fieberst!
– Vor Glück – vor Seligkeit – vor Herzensjubel —
Du bist erwischt worden?!
Ich bin promoviert! – Melchior, ich bin promoviert! – O jetzt kann die Welt untergehn! – Ich bin promoviert! – Wer hätte geglaubt, daß ich promoviert werde! – Ich fass′ es noch nicht! – Zwanzigmal hab′ ich′s gelesen! – Ich kann′s nicht glauben – du großer Gott, es blieb! – Es blieb! Ich bin promoviert! – (lächelnd) Ich weiß nicht – so sonderbar ist mir – der Boden dreht sich … Melchior, Melchior, wüßtest du, was ich durchgemacht!
Ich gratuliere, Moritz. – Sei nur froh, daß du so weggekommen!
Du weißt nicht, Hänschen, du ahnst nicht, was auf dem Spiel stand. Seit drei Wochen schleiche ich an der Tür vorbei wie am Höllenschlund. Da sehe ich heute, sie ist angelehnt. Ich glaube, wenn man mir eine Million geboten hätte – nichts, o nichts hätte mich zu halten vermocht! – Ich stehe mitten im Zimmer – ich schlage das Protokoll auf – blättere – finde – — und während all der Zeit … Mir schaudert —
… während all der Zeit?
Während all der Zeit steht die Tür hinter mir sperrangelweit offen. – Wie ich heraus … wie ich die Treppe heruntergekommen, weiß ich nicht.
– Wird Ernst Röbel auch promoviert?
O gewiß, Hänschen, gewiß! – Ernst Röbel wird gleichfalls promoviert.
Dann mußt du schon nicht richtig gelesen haben. Die Eselsbank abgerechnet zählen wir mit dir und Röbel zusammen einundsechzig, während oben das Klassenzimmer mehr als sechzig nicht fassen kann.
Ich habe vollkommen richtig gelesen. Ernst Röbel wird so gut versetzt wie ich – beide allerdings vorläufig nur provisorisch. Während des ersten Quartals soll es sich dann herausstellen, wer dem andern Platz zu machen hat. – Armer Röbel! – Weiß der Himmel, mir ist um mich nicht mehr bange. Dazu habe ich diesmal zu tief hinuntergeblickt.
Ich wette fünf Mark, daß du Platz machst.
Du hast ja nichts. Ich will dich nicht ausrauben. – Herrgott, werd′ ich büffeln von heute an! – Jetzt kann ich′s ja sagen – mögt ihr daran glauben oder nicht – jetzt ist ja alles gleichgültig – ich – ich weiß, wie wahr es ist: Wenn ich nicht promoviert worden wäre, hätte ich mich erschossen.
Prahlhans!
Der Hasenfuß!
Dich hätte ich schießen sehen mögen!
Eine Maulschelle drauf!
(gibt ihm eine)
– — Komm, Moritz. Gehn wir zum Försterhaus!
Glaubst du vielleicht an den Schnack?
Schert dich das? – — Laß sie schwatzen, Moritz! Fort, nur fort, zur Stadt hinaus!
(Die Professoren Hungergurt und Knochenbruch gehen vorüber.)
Mir unbegreiflich, verehrter Herr Kollega, wie sich der beste meiner Schüler gerade zum allerschlechtesten so hingezogen fühlen kann.
Mir auch, verehrter Herr Kollega.
Sonniger Nachmittag. – Melchior und Wendla begegnen einander im Wald.
Bist du′s wirklich, Wendla? – Was tust denn du so allein hier oben? – Seit drei Stunden durchstreife ich den Wald die Kreuz und Quer, ohne daß mir eine Seele begegnet, und nun plötzlich trittst du mir aus dem dichtesten Dickicht entgegen!
Ja, ich bin′s.
Wenn ich dich nicht als Wendla Bergmann kennte, ich hielte dich für eine Dryade, die aus den Zweigen gefallen.
Nein, nein, ich bin Wendla Bergmann. – Wo kommst denn du her?
Ich gehe meinen Gedanken nach.
Ich suche Waldmeister. Mama will Maitrank bereiten. Anfangs wollte sie selbst mitgehn, aber im letzten Augenblick kam Tante Bauer noch, und die steigt nicht gern. – So bin ich denn allein heraufgekommen.
Hast du deinen Waldmeister schon?
Den ganzen Korb voll. Drüben unter den Buchen steht er dicht wie Mattenklee. – Jetzt sehe ich mich nämlich nach einem Ausweg um. Ich scheine mich verirrt zu haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wie viel Uhr es ist?
Eben halb vier vorbei. – Wann erwartet man dich?
Ich glaubte, es wäre später. Ich lag eine ganze Weile am Goldbach im Moose und habe geträumt. Die Zeit verging mir so rasch; ich fürchtete, es wolle schon Abend werden.
Wenn man dich noch nicht erwartet, dann laß uns hier noch ein wenig lagern. Unter der Eiche dort ist mein Lieblingsplätzchen. Wenn man den Kopf an den Stamm zurücklehnt und durch die Äste in den Himmel starrt, wird man hypnotisiert. Der Boden ist noch warm von der Morgensonne. – Schon seit Wochen wollte ich dich etwas fragen, Wendla.
Aber vor fünf muß ich zu Hause sein.
Wir gehen dann zusammen. Ich nehme den Korb und wir schlagen den Weg durch die Runse ein, so sind wir in zehn Minuten schon auf der Brücke! – Wenn man so daliegt, die Stirn in die Hand gestützt, kommen einem die sonderbarsten Gedanken …
(Beide lagern sich unter der Eiche.)
Was wolltest du mich fragen, Melchior?
Ich habe gehört, Wendla, du gehest häufig zu armen Leuten. Du brächtest ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Tust du das aus eigenem Antriebe oder schickt deine Mutter dich?
Meistens schickt mich die Mutter. Es sind arme Taglöhnerfamilien, die eine Unmenge Kinder haben. Oft findet der Mann keine Arbeit, dann frieren und hungern sie. Bei uns liegt aus früherer Zeit noch so mancherlei in Schränken und Kommoden, das nicht mehr gebraucht wird. – Aber wie kommst du darauf?
Gehst du gern oder ungern, wenn deine Mutter dich sowohin schickt?
O für mein Leben gern! – Wie kannst du fragen!
Aber die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen strotzen von Unrat, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest …
Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn es wahr wäre, ich würde erst recht gehen!
Wieso erst recht, Wendla?
Ich würde erst recht hingehen. – Es würde nur noch vielmehr Freude bereiten, ihnen helfen zu können.
Du gehst also um deiner Freude willen zu den armen Leuten?
Ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind.
Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen?
Kann ich denn dafür, daß es mir Freude macht?
Und doch sollst du dafür in den Himmel kommen! – So ist es also richtig, was mir nun seit einem Monat keine Ruhe mehr läßt! – Kann der Geizige dafür, daß es ihm keine Freude macht, zu schmutzigen kranken Kindern zu gehen?
O dir würde es sicher die größte Freude sein!
Und doch soll er dafür des ewigen Todes sterben! – Ich werde eine Abhandlung schreiben und sie Herrn Pastor Kahlbauch einschicken. Er ist die Veranlassung. Was faselt er uns von Opfer-Freudigkeit! – Wenn er mir nicht antworten kann, gehe ich nicht mehr in die Kinderlehre und lasse mich nicht konfirmieren.
Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch konfirmieren; den Kopf kostet′s doch nicht. Wenn unsere schrecklichen weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür begeistern können.
Es gibt keine Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! – Ich sehe die Guten sich ihres Herzens freun, sehe die Schlechten beben und stöhnen – ich sehe dich, Wendla Bergmann, deine Locken schütteln und lachen, und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. – — Was hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst?
– — Dummheiten – Narreteien —
Mit offenen Augen?!
Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettelkind, ich würde früh fünf schon auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und käm′ ich abends nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte so viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd′ ich geschlagen – geschlagen —
Das kenne ich, Wendla. Das hast du den albernen Kindergeschichten zu danken. Glaub′ mir, so brutale Menschen existieren nicht mehr.
O doch, Melchior, du irrst. – Martha Bessel wird Abend für Abend geschlagen, daß man andern Tags Striemen sieht. O was die leiden muß! Siedendheiß wird es einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. – Ich wollte mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle sein.
Man sollte den Vater kurzweg verklagen. Dann würde ihm das Kind weggenommen.
Ich, Melchior, bin in meinem Leben nie geschlagen worden – nicht ein einziges Mal. Ich kann mir kaum denken, wie das tut, geschlagen zu werden. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu erfahren, wie einem dabei ums Herz wird. – Es muß ein grauenvolles Gefühl sein.
Ich glaube nicht, daß je ein Kind dadurch besser wird.
Wodurch besser wird?
Daß man es schlägt.
– Mit dieser Gerte zum Beispiel! – Hu, ist die zäh und dünn.
Die zieht Blut!
Würdest du mich nicht einmal damit schlagen?
Wen?
Mich.
Was fällt dir ein, Wendla!
Was ist denn dabei?
O sei ruhig! – Ich schlage dich nicht.
Wenn ich dir′s doch erlaube!
Nie, Mädchen!
Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior!
Bist du nicht bei Verstand?
Ich bin in meinem Leben nie geschlagen worden!
Wenn du um so etwas bitten kannst …!
– Bitte – bitte —
Ich will dich bitten lehren! – (er schlägt sie)
Ach Gott – ich spüre nicht das Geringste!
Das glaub′ ich dir – — durch all′ deine Röcke durch....
So schlag′ mich doch an die Beine!
Wendla! – (er schlägt sie stärker)
Du streichelst mich ja! – Du streichelst mich!
Wart′ Hexe, ich will dir den Satan austreiben!
(Er wirft den Stock beiseite und schlägt derart mit den Fäusten drein, daß sie in ein fürchterliches Geschrei ausbricht. Er kehrt sich nicht daran, sondern drischt wie wütend auf sie los, während ihm die dicken Tränen über die Wangen rinnen. Plötzlich springt er empor, faßt sich mit beiden Händen an die Schläfen und stürzt, aus tiefster Seele jammervoll aufschluchzend, in den Wald hinein.)
Abend auf Melchiors Studierzimmer. Das Fenster steht offen, die Lampe brennt auf dem Tisch. – Melchior und Moritz auf dem Kanapee.
Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas aufgeregt. – Aber in der Griechischstunde habe ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem. Nimmt mich Wunder, daß mich der alte Zungenschlag nicht in die Ohren gezwickt. – Heut′ früh wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen. – Mein erster Gedanke beim Erwachen waren die Verba auf μ. – Himmel-Herrgott-Teufel-Donnerwetter, während des Frühstücks und den Weg entlang habe ich konjugiert, daß mir grün vor den Augen wurde. – Kurz nach drei muß ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch einen Klex ins Buch gemacht. Die Lampe qualmte, als Mathilde mich weckte; in den Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die Amseln so lebensfroh – mir ward gleich wieder unsagbar melancholisch zu Mute. Ich band mir den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs Haar. – — Aber man fühlt sich, wenn man seiner Natur etwas abgerungen!
Darf ich dir eine Zigarette drehen?
Danke, ich rauche nicht. – Wenn es nun nur so weiter geht! Ich will arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. – Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage; und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! – Röbel erschießt sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man nicht! – Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen vorübergehe. Er ging vorüber – wenngleich mir auch heute noch seine Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage. – Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das Genick zu brechen.
Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige zu hängen. – Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!
Dein Tee wird mir gut tun, Melchior! – Ich zittre nämlich. Ich fühle mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe – ich höre – ich fühle viel deutlicher – und doch alles so traumhaft – o, so stimmungsvoll. – Wie sich dort im Mondschein der Garten dehnt, so still, so tief, als ging′ er ins Unendliche. – Unter den Büschen treten umflorte Gestalten hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit über die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint, unter dem Kastanienbaum soll eine Ratsversammlung gehalten werden. – Wollen wir nicht hinunter, Melchior?
Warten wir, bis wir Tee getrunken.
– Die Blätter flüstern so emsig. – Es ist, als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von der „Königin ohne Kopf“ erzählen. – Das war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten, daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin, und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich und in Freuden.... Verwünschter Unsinn! Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen sehe, seh′ ich es ohne Kopf – und erscheine mir dann plötzlich selber als kopflose Königin.... Möglich, daß mir nochmal einer aufgesetzt wird.
(Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und Melchior auf den Tisch setzt)
Hier Kinder, laßt es euch munden. – Guten Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen?
Danke, Frau Gabor. – Ich belausche den Reigen dort unten.
Sie sehen aber gar nicht gut aus. – Fühlen Sie sich nicht wohl?
Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett gekommen.
Denke dir, er hat die ganze Nacht durch gearbeitet.
Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit nicht. – Fleißig spazieren gehn in der frischen Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als ein korrektes Mittelhochdeutsch.
Ich werde fleißig spazieren gehn. Sie haben recht. Man kann auch während des Spazierengehens fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht auf den Gedanken gekommen! – Die schriftlichen Arbeiten müßte ich immerhin zu Hause machen.
Das Schriftliche machst du bei mir; so wird es uns beiden leichter. – — Du weißt ja, Mama, daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag! – Heute mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart gestorben sei. – „So?“ sagt Sonnenstich, „hast du von letzter Woche her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? – Hier ist der Zettel an den Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung teilnehmen.“ – Hänschen war wie gelähmt.
Was hast du da für ein Buch, Melchior?
„Faust.“
Hast du es schon gelesen?
Noch nicht zu Ende.
Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.
Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei Jahre damit gewartet.
Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich so viel Schönes gefunden. Warum hätte ich es nicht lesen sollen.
– Weil du es nicht verstehst.
Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich fühle sehr wohl, daß ich das Werk in seiner ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande bin …
Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert das Verständnis außerordentlich!
Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu können, was dir zuträglich und was dir schädlich ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. Ich werde die erste sein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals Grund gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen. – Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch das Beste nachteilig wirken kann, wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. – Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgendbeliebige erzieherische Maßregeln setzen. – — Wenn ihr noch etwas braucht, Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer. (Ab.)
– — Deine Mama meinte die Geschichte mit Gretchen.
Haben wir uns auch nur einen Moment dabei aufgehalten!
Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber hinweggesetzt haben!
Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht in dieser Schändlichkeit! – Faust könnte dem Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin verlassen haben, er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. – Sieht man, wie jeder darauf immer gleich krampfhaft die Blicke richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe sich um P.... und V....!
Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe ich nämlich tatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. – In den ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Plötz in der Hand. – Ich verriegelte die Tür und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt – ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen ins Ohr, wie ein Lied, das einer als Kind einst fröhlich vor sich hingesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd aus dem Mund eines andern entgegentönt. – Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los. Glaub′ mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist süßer, denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen Seligkeit.
– Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!
Aber warum denn nicht?
Ich will nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen müssen!
Ist dann das noch Genuß, Melchior?! – Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitternis frei, um mit einem Mal alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterschlingt … Die Befriedigung, die der Mann dabei findet, denke ich mir schal und abgestanden.
Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. – Ich denke sie mir nicht gern …