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4 Seoul, Redaktionsbüro der LAN

„Gut, Se Ung. Bis halb sechs – am Chogyesa-Tempel.“

Al legte den Telefonhörer auf und sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Um halb sechs Uhr war er mit seinem Schwager Se Ung, dem Bruder seiner toten Frau, verabredet. Zum ersten Mal seit Shing-hees Tod würde er einem Mitglied der Familie Bae gegenübertreten. Er konnte nicht behaupten, dass ihm seit seiner Ankunft vor drei Tagen leichter zumute war. Im Gegenteil – ein mulmiges Gefühl bemächtigte sich seiner Magengrube. Sein Schwager hatte sich am Telefon ausgesprochen kühl angehört, als sie soeben den Termin verabredeten. Dass er mit Al überhaupt sprechen wollte, ließ ihm einen winzigen Hoffnungsschimmer.

„Ich gehe dann, Bill“, rief er Cooper zu, der in seinen Papierstapeln wühlte.

„In Ordnung, Al“, antwortete Bill knapp, ohne aufzusehen. „Und bitte, sei morgen pünktlich!“, setzte er nach.

Dieser Kleingeist! Als ob Al nicht selbst wissen würde, wann er zum Dienst zu erscheinen hätte, wenn sie einen Termin in der amerikanischen Botschaft hatten. Wieder einmal zog er es vor, nicht zu antworten, und verließ wortlos das Büro. Als er aus der Schwingtür des Hochhauses auf die Straße hinaustrat, kam es ihm vor, als würde ihm eine unsichtbare Hand den Hals zuschnüren. Er atmete tief durch und schlug den Weg nach Insadong ein, der engen Straße mit ihren Antiquitätengeschäften und Kunstgalerien.

Sein Weg führte ihn die Sejongno-Straße hinaus zu den prächtigen Anlagen des Toksugung-Palastes. Auf den steinernen Stufen mit den imposanten mittelalterlichen Bauten posierten Hochzeitspaare vor der malerischen Kulisse für Fotoaufnahmen. Dann schlenderte er an einigen der Kaufhäuser entlang, die das Rathaus umgeben. Er passierte mehrere Hochhäuser mit ihren zahlreichen ausländischen Botschaftsbüros und verweilte vor dem Koreanischen Pressezentrum. Es schien, als wollte ihn der gigantische Wolkenkratzer mit seinen über zwanzig Stockwerken erschlagen. Die US-amerikanische Botschaft war in einem eigenen, aber älteren und durch einen Vorgarten etwas von der Straße zurückgesetzten flachen Gebäudekomplex untergebracht.

Als er die Straße weiter hinaufging, fiel sein Blick auf das breite, bunt bemalte Tor des Kyongbokkung-Palastes, das die breite Sejongno-Straße nach Norden hin abschließt. Links und rechts bog auf mehreren Spuren vor dem Tor der Straßenverkehr ab, wie eine Reverenz an die längst vergangenen, aber immer noch lebenden Traditionen.

Shing-hee hatte ihm damals bei einem Spaziergang durch die Palastanlage die Geschichte der Choson-Dynastie nähergebracht. Geradezu ehrfurchtsvoll hatten sie von dem strengen, konfuzianischen Herrscherhaus erzählt: Es hatte nicht nur den Palast samt seinen prunkvollen Pavillons, Sälen und Hallen im vierzehnten Jahrhundert erbauen lassen und damit das heutige Seoul gegründet. Es hatte vor allem das koreanische Alphabet, das Hangul, eingeführt. Shing-hee hatte Al bei der Gelegenheit auch durch das Nationalmuseum geschleppt. An der Stelle des ehemaligen Museumsgebäudes klaffte heute hier lediglich eine tiefe Baugrube. Al konnte sich noch sehr gut an den imposanten Steinbau aus den Zwanzigerjahren mit seinen hunderttausend Exponaten erinnern. Er war damals zutiefst beeindruckt gewesen. Inmitten der hochbetagten Palastbauten hatte er das Museum aber irgendwie als unpassend empfunden. Nun, offenbar dachten auch Verantwortliche so.

Er folgte dem Straßenverlauf in östlicher Richtung. Nach einem kurzen Blick zum französischen Kulturzentrum hinüber, hinter dem sich die Dienststelle des CIA befinden musste, erreichte er auf einem kleinen Umweg den antiken Chogyesa-Tempel.

Eine Weile ging er vor dem Tempel nervös auf und ab. Seine Gedanken kreisten um seine verstorbene Frau und um ihre Familie. Shing-hees Eltern hatten der Hochzeit mit ihm damals nicht zugestimmt. Zu tief fühlten sie sich den alten konfuzianischen Traditionen verhaftet. Fleißig und nationalbewusst waren sie – und bei aller Bescheidenheit sehr stolz. Der Vater hatte im Krieg gegen die kommunistischen Eindringlinge aus dem Norden für seine Heimat gekämpft. Nach dem Krieg hatte er ein Konfektionsgeschäft aufgebaut und später geheiratet. Aus der Ehe waren die Tochter Shing-hee und deren jüngerer Bruder Se Ung hervorgegangen. Der allmähliche Aufschwung und ein bescheidener Wohlstand ermöglichten den Eltern, die Kinder ein Geschichtsstudium absolvieren zu lassen. Als selbstverständliche Gegenleistung hatten sie von ihren Kindern Gehorsam erwartet und Respekt vor den elterlichen Entscheidungen. Se Ung fand eine Tätigkeit im auswärtigen Dienst der Regierung. Damit waren die Eltern einverstanden. Die Auslandsverwendungen ihres Sohnes in New York und in Deutschland erfüllten sie mit Stolz. Ein Diplomat, der aus einer Schneiderfamilie hervorgegangen war! Dabei kannten sie die wirkliche Tätigkeit ihres Sohnes beim ANSP bis heute nicht.

Erbitterte Auseinandersetzungen hatte es in der Familie gegeben, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte und bald ihre Absicht kundtat, ihn zu heiraten und mit ihm nach Kalifornien zu gehen. Weiß Gott, sie hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt! Jetzt brach der Tod ihrer einzigen Tochter den alten Leuten das Herz. Al hielt es für besser, sie vorerst nicht aufzusuchen. Sie würden ihm die Schuld anlasten. Stattdessen wollte er abwarten, bis die frische Narbe es ihnen möglich machte, mit ihm zu sprechen.

Shing-hees Bruder war Al als aufgeschlossener junger Mann in Erinnerung. Er hatte ihn zum letzten Mal vor zwei Jahren gesehen, als er für zwei Wochen in Los Angeles zu Besuch war. Es war dem Bruder aus zwingenden beruflichen Gründen nicht möglich gewesen, kurzfristig an der Beerdigung seiner Schwester teilzunehmen.

Al erreichte das Eingangstor nach Insadong. Jeder seiner Schritte fiel ihm schwerer, nicht nur, weil die Nachmittagshitze unerträglich auf der Stadt lastete. Dort erwartete Se Ung ihn bereits. Was würde er nun von ihm zu hören bekommen?

Die beiden Männer gingen mit allmählich langsamer werdenden Schritten aufeinander zu. Wortlos drückten sie sich die Hände, sahen verschämt zu Boden.

Nach einer Weile sagte Se Ung: „Was willst du hier?“

Al atmete tief durch. Die Frage traf ihn wie ein Keulenschlag. Se Ung wiederholte die Frage, eindringlicher, nachdrücklicher. Al verstand nicht. Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

„Müssen wir das hier besprechen, auf der Straße?“, fragte Al. „Lass uns in das Teehaus dort drüben gehen“, schlug er vor. Se Ung nickte wortlos.

Sie betraten das in einer Seitenstraße gelegene, im altkoreanischen Baustil errichtete, romantisch-bezaubernde Teehaus. Al musste seinen Kopf tief einziehen, um ihn sich nicht an der niedrigen Holztür anzuschlagen. Würziger Teeduft erfüllte den kleinen Raum, dessen einzige Gäste sie waren. Sie zogen nach koreanischer Tischsitte ihre Schuhe aus und nahmen auf den dicken Kissen auf dem Fußboden vor einem der niedrigen Holztischchen Platz. Ein ebenso freundliches wie schüchternes junges Mädchen goss aus einem silberfarbenen Teekessel dampfenden Ginsengtee in tönerne Tassen.

„Also, was willst du?“, wiederholte Se Ung.

„Das klingt wie eine Anklage“, antwortete Al gefasst. „Du bist Shing-hees Bruder!“

„Ja – ich war Shing-hees Bruder“, verbesserte Se Ung mit gesenktem Kopf, „bis zu ihrem Tod.“

„Meinst du, es geht mir nicht nahe, was passiert ist?“, fragte Al. Aber es kommt mir vor, als würde deine Familie mich für Shing-hees Tod verantwortlich machen.“

Se Ung wandte den Kopf ab, sah wie teilnahmslos durch eines der kunstvoll gearbeiteten, gitterartigen Fenster des Teehauses. Er schien leise zu schluchzen.

„Se Ung, du hast doch gesehen, wo wir gelebt haben, wie wir gelebt haben – und dass wir glücklich waren. Das hast du doch gesehen, vor zwei Jahren, nicht wahr?“, fragte Al nach einer Weile und fasste seinen Schwager dabei am Arm.

„Ja, das habe ich gesehen“, räumte Se Ung gebrochen ein.

„Ich habe deine Schwester geliebt wie niemanden sonst“, schloss Al an.

„Und dann gehst du von dort weg? Wie ist das denn alles passiert, was euer Leben zerstört hat? Was willst du hier?“, fragte Se Ung erneut, bevor er nachsetzte: „Ich denke heute noch an die erbitterten Auseinandersetzungen in unserer Familie, als Shing-hee den amerikanischen Kapitänleutnant Albert Ventura mit nach Hause brachte, ihn heiraten und mit ihm nach Kalifornien gehen wollte. Eine schwere Prüfung für unsere Eltern.“

„Schon wieder so vorwurfsvoll … Weiß Gott, eure Eltern hatten sich die Zukunft ihrer Tochter anders vorgestellt. Aber Shing-hee und ich auch!“

„Al, Du kannst dir das nicht ausmalen. Ihr Tod bricht den alten Leuten das Herz“, setzte Se Ung nach.

„Das glaube ich dir. Sie haben nie akzeptiert, dass wir geheiratet haben. Noch nicht einmal nach unserer Hochzeit, an der sie nicht teilgenommen haben, konnten sie mich als rechtmäßigen Schwiegersohn anerkennen. Ihr Leben lang haben sie zu mir ‚Herr Ventura‘ gesagt …“

Al ließ den Arm seines Schwagers wieder los und richtete sich auf. Er hatte das Gefühl, mit ihm jetzt vernünftig reden zu können.

„Pass auf, Se Ung! Keiner weiß, wie Shing-hee ums Leben kam. Keiner weiß, warum sie sterben musste. Ich weiß es auch nicht. Ich glaube aber nicht, dass es bloß ein Unfall war. Aber mein Leben geht weiter, das ganze Leben geht weiter, verstehst du?“

Al schlug sich mit der rechten Faust ein paarmal vorwurfsvoll an die Brust. Seine Stimme schwoll an.

„Und es nützt niemandem etwas, wenn ich in Los Angeles im Selbstmitleid versinke, begreifst du, nie-man-dem!“

Er redete jetzt so laut, dass die Bedienung erschien. Al winkte sie weg. Er sprach in gemäßigtem Ton weiter: „Ich muss etwas tun. Dauernd fragst du, was ich hier will. Ich werde es dir sagen.“

„Sprich!“, forderte Se Ung.

„Ich werde hier ein neues Leben beginnen, hier, im Land deiner Schwester, das ich durch sie kennen- und lieben gelernt habe.“

Aus Se Ung brach ein abruptes, irres Lachen hervor, bevor er mit einer abfälligen Handbewegung ungläubig entgegnete: „Wie willst du das denn anstellen? Du bist Amerikaner. Du kommst doch aus einer völlig anderen Welt.“

„Sieh das nicht als Nachteil. Meine Vorfahren kamen als Einwanderer nach Amerika, aus Portugal. Sie haben es geschafft, in einem fremden Land zurechtzukommen. Und ich werde es auch schaffen.“

„Al“, rang Se Ung mit den Händen, „Korea ist nicht Amerika! Du sprichst wie ein Idealist.“

„Ja, ich bin Idealist – aber ich bin auch Realist. Mein Boss schätzt diese Eigenschaften. Deshalb hat er mich hergeschickt. Aber – ich bin kein Fantast und kein Politiker! Und schon gar nicht bin ich korrupt …“

Ihm, dem sonst eher zurückhaltenden Mann, lag es nicht zu prahlen. Aber vielleicht konnte er mit seinen Worten jetzt auf Se Ung Eindruck machen.

Das letzte Wort ließ Se Ung überrascht aufhorchen. Er hatte von Al nicht erwartet, dass er es in den Mund nehmen würde. Etwas verlegen spielte Se Ung mit seiner Tasse, auf die er seine Augen richtete.

„Ja, hör mir nur gut zu, Se Ung. In Korea gibt es genauso käufliche Politiker wie in Amerika – und wie auf der ganzen Welt. Die Welt ist ungerecht, weil sie verlogen ist. Aber ich will mithelfen, den Sumpf trockenzulegen – und noch einiges andere. Das will ich hier, deshalb bin ich hergekommen. Und das lässt sich hier aufklären, nicht drüben in Los Angeles, verstehst du?“

„Aha, Albert Ventura – der Retter der verloren gegangenen Tugenden. Der Weltverbesser, der zum Kreuzzug gegen das Böse aufgebrochen ist. Tätigkeitsfeld weltweit …“, spöttelte Se Ung.

„Blödsinn! Die Los Angeles News sind nicht irgendein drittklassiges Provinzblättchen.“

Se Ung saß jetzt mit aufgesperrtem Mund da. Al hatte sich in Rage geredet und fuhr lautstark fort:

„Schonungslos werde ich sein, scho-nungs-los. Denn ich glaube an die Wahrheit, weil sie das Einzige ist, was zu Gerechtigkeit führt. Das ist mein Beruf. Du müsstest das doch eigentlich verstehen. Ich meine, als Diplomat vertrittst doch gerade Du ein Land, das auf einem Pulverfass sitzt …“

„Ich verstehe das, Al. Du weißt aber genauso gut wie ich, dass die Presse nicht immer die Wahrheit schreibt“, entgegnete Se Ung. „Mal schönt sie, mal fletscht sie die Zähne, je nachdem, was gewünscht wird, je nach den Interessen, die auf dem Spiel stehen.“

„Ich habe mir geschworen, nie mehr die Unwahrheit zu schreiben, nichts mehr zu unterdrücken, glaube mir“, versicherte Al, indem er mit der flachen Hand andächtig auf die Tischplatte pochte. „Und ich werde Shing-hees Tod aufklären, glaube mir“, versicherte Al.

„Ein ehrenwertes Ziel. Vielleicht kann ich dir dabei helfen“, meinte Se Ung und beugte sich zu Al vor, wobei er einen Zeigefinger auf die Lippen legte.

„Du?“, zweifelte Al.

„Warum nicht? Al, ich habe nie darüber gesprochen, auch nicht mit Shing-hee“, flüsterte er, „ich arbeite für das ANSP.“ „Aha“, bemerkte Al erstaunt.

„Meine Legende lautet: Referent im Außenministerium. Ich bin aber in der Beschaffungsabteilung des ANSP tätig. Ich denke, ich kann dir bei deiner Arbeit behilflich sein. Unsere Regierung hat der Korruption den Kampf angesagt – und den Kommunisten aus dem Norden, die unser Land pausenlos piesacken.“

„Hm, hört sich gut an“, räsonierte Al.

„Dann sind wir uns also einig?“

„Ich denke schon.“

Wortlos legte Al eine Zehntausend-Won-Note auf den Tisch.

Die beiden Männer wandten sich zum Gehen.

„Noch etwas, Al“, sagte Se Ung.

„Ja?“

„Ich denke, du solltest keinen Kontakt zu unseren Eltern aufnehmen, wenigstens vorerst. Sie können überhaupt nicht begreifen, was passiert ist. Ich hoffe auf dein Verständnis“, sagte Se Ung mit mitleidsvoller Miene.

„Wissen sie von deiner Tätigkeit?“

„Sie sind stolz, einen Diplomaten hervorgebracht zu haben, dessen Karriere bis jetzt keinen Knick aufweist.“

„Ich halte es auch für besser, deine Eltern vorerst nicht aufzusuchen. Sie würden mir die Schuld an Shing-hees Tod geben.

Die Narbe auf ihrer Seele ist noch zu frisch. Sie könnte wieder aufbrechen …“

„Nein, Al. Sie wird nie mehr verheilen.“

5 Seoul, Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika

Robert O. Woods – Presseattaché

In großen Lettern prangte der Name auf dem messingfarbenen Türschild. Gerade als sie anklopfen wollten, öffnete der untersetzte Mann mittleren Alters mit dem schütteren, blond gekräuselten Haar schwungvoll von innen die Tür. Das kugelrunde, volle Gesicht durchstach ein eisiger Blick hinter einer dicken Hornbrille. Es war, wie Bill es vorhergesagt hatte – der Mann trug zu seinem zeitlosen hellgrauen Anzug eine auffällige Fliege: dunkelgrün mit weißen Tupfen.

Bei dem überraschenden Anblick von Al und Bill reagierte er sofort.

„Ah, schön, dass Sie da sind!“

„Bob, das ist Albert Ventura, mein Nachfolger …“

„Hallo, Al, ich freue mich.“

„Ganz meinerseits, Bob.“

„Habe schon einiges von Ihnen gehört – und gelesen. Los Angeles News …“

„Hoffentlich nur Gutes“, witzelte Al.

Der Attaché bat sie in sein Dienstzimmer. Sie nahmen in dem großzügig eingerichteten Büro auf einer wuchtigen Garnitur Platz. Bob Woods schlug die Beine übereinander.

„Nun, dann werden wir es künftig häufiger miteinander zu tun haben. Bill Cooper und ich kamen glänzend miteinander aus, nicht wahr, Bill?“, hob Woods an. „Schade, dass Ihre Zeit zu Ende ist.“

„Ja, ja. Wahnsinnig gut“, nickte Bill eifrig.

„Ich hoffe, mit uns wird das genauso gut gehen, Al.“

„Das hoffe ich auch“, entgegnete Al.

„Sie kommen also aus L. A. Kennen Sie Korea überhaupt, Al?“

Bob fragte schneidend. Seine Fähigkeit, Dinge direkt auf den Punkt zu bringen, galt als phänomenal. Andererseits schätzte ihn der Botschafter wegen seines Geschicks, gerade in heiklen politischen Angelegenheiten bedeutungsschwere Inhalte wortreich in nichtssagenden Sprachhülsen zu verbergen.

Er fuhr fort:

„Bevor Sie antworten – das mit Ihrer Akkreditierung wird in Ordnung gehen; wir kümmern uns darum.“

„Danke. Nun, ich war früher bei der US-Navy und zwei Jahre in Korea stationiert. Hier lernte ich meine Frau kennen, eine aus Seoul stammende Koreanerin. Sie hatte gerade begonnen, für die Korea Times zu arbeiten. Wir haben geheiratet und sind nach Los Angeles gegangen. Dort hat sie bei den LAN sofort einen Job bekommen.“

„Doch nicht etwa … Halt, lassen Sie mich raten … – Shinghee Ventura? Sie hat das Feuilleton gemacht, nicht wahr?“

„Nein, die Seite über die sogenannten interessanten Persönlichkeiten.“

„Ah, die Klatschspalte“, lächelte Bob spitzzüngig. „Nun, wie geht es Ihrer Frau?“

Bill musste fürchterlich laut husten, weil er sich plötzlich verschluckt hatte.

„Sie kam vor einigen Wochen bei einem mysteriösen Verkehrsunfall ums Leben …“, sagte Al einsilbig.

„Tut mir leid …“

Bob übersprang das unangenehme Thema.

„Habe ich richtig gehört? Sagten Sie US-Navy? Wie kommt man von der Navy zur Zeitung?“, bohrte er weiter. „Presseoffizier?“

„Sagt Ihnen das Stichwort Flottenskandal etwas?“, fragte Al zurück.

„Sie meinen die Geschichte mit dem Fregattenkapitän, der für die Russen spioniert hat? Oder waren es die Chinesen?“

„Es waren die Russen. Kapitän Blyer war im Flottenkommando stationiert. Er hatte zu geheimen Unterlagen Zugang, genauer gesagt zu den Einsatzplänen für die Marine im Mittelmeer und am Golf. Hochinteressantes Material, vor allem für die Russen. Schließlich ist der Bosporus einer der herausragendsten strategischen Punkte, vom Persischen Golf ganz zu schweigen“, führte Al aus.

„Was hattest du damit zu tun?“, fragte Bill dazwischen.

„Ich war damals Korvettenkapitän – und einer der verantwortlichen Sicherheitsoffiziere im Führungsstab der Marine. Auf Befehl des kommandierenden Admirals Schroeder musste ich mich der Sache annehmen – dienstinterne Untersuchung. Ich kam bei meinen Nachforschungen dahinter, dass im Flottenkommando einige hohe Offiziere geschlampt hatten, sonst wäre der Mann nie an die Unterlagen herangekommen. Admiral Schroeder befürchtete einen Rieseneklat. Die Angelegenheit war sowieso schon heikel genug. Um keinen Preis durfte die Öffentlichkeit Wind von dem Skandal bekommen.“

„Was natürlich nicht zu verhindern war. Und der Admiral fürchtete bestimmt um seinen Kopf“, kräuselte Bob.

„Ganz zu Anfang wäre es noch zu verhindern gewesen. Vor allem hätte die Sache lückenlos aufgeklärt werden müssen.

Aber ich war in meiner Untersuchungsarbeit nicht frei.“

„Was heißt das?“, fragte Bill zweifelnd.

Al fuhr fort: „Bestimmte Unterlagen wurden mir vorenthalten, wichtige Zeugen waren plötzlich irgendwohin versetzt worden und so weiter. Ich schlug dem Admiral vor, in die Offensive zu gehen. Doch er zögerte noch immer.“

„Ja, jetzt erinnere ich mich genau“, warf Bob ein. „Der Admiral wollte das nicht, weil er vor einer Beförderung stand.“

„Nein, er hatte politische Ambitionen“, korrigierte Al, „– für die Zeit seines Ruhestands. Eine vernünftige Pressearbeit hätte den Schaden wenigstens begrenzt. Irgendwann sickerte doch etwas durch. Associated Press tickerte eines Tages eine kleine Notiz über die Fernschreiber – und die Lawine war losgetreten. Eine Woche später erschien ein Artikel in den LAN, bei dem die Marineführung gar nicht gut aussah. Die Spekulationen blühten. Der Admiral tobte. Er ließ seine Beziehungen zum Pentagon spielen. Eine Woche später hatte er viel Zeit, spazieren zu gehen.“

„Und dann suchten sie einen Sündenbock?“, mutmaßte Bob.

„Genau. Obwohl sie mir nichts anhaben konnten, wurde ich versetzt. Der Anfang vom Ende – Karriere ade!“

„Und dann haben Sie die Uniform an den Nagel gehängt …“ Bob ließ nicht locker.

„Nicht sofort. Es hat noch fast zwei Jahre gedauert. Meinen Posten als Sicherheitsoffizier war ich allerdings los. Sie haben mich leerlaufen lassen und mir belanglose Verwendungen gegeben – Offiziersbewerber aussuchen, Lehrtätigkeit an der Marineschule, Dinge, die man kurz vor dem Ruhestand tut, aber nicht mit Anfang vierzig. Die Beförderung zum Fregattenkapitän konnte ich in den Kamin schreiben. Meine Bewerbungen um ein Kommando auf einem Schiff wurden abgelehnt. Am Ende half alles nichts. Wenn ich nicht versauern wollte, musste ich Shing-hees Vorschlag annehmen und umsatteln – zum Journalisten. David B. Goldmann wollte einen Insider wie mich unbedingt haben. Volontariat, Trainee-Programm und so weiter – Sie kennen das. Erstaunlicherweise macht die Schreiberei Spaß.“

Bob war allmählich in seinen Sessel zurückgesunken.

„Wenn ich heute noch einmal die Chance bekäme, einen Skandal aufzuklären …“

„Dann?“, wollte Bob wissen.

„Ich würde die Sache anders angehen. So, dass die Wahrheit an den Tag käme. Auf jeden Fall. Koste es, was es wolle.“

„Nun, dann sind Sie in Korea richtig“, beruhigte ihn Bob.

„Die Ruhe täuscht. Am achtunddreißigsten Breitengrad ist immer was los. Hier ist der kalte Krieg noch in vollem Gang. Sie sollten die Grenze in Panmunjom besuchen. Wir haben da ausgezeichnete Verbindungen zum UN-Kommando“, beteuerte Bob. „Sie werden bald merken, dass es brodelt. Bill kann das bezeugen. Habe ich recht?“

„Ja, Bob. Hier lebt es sich wahnsinnig gefährlich. Fast so wie … wie auf einem Pulverfass“, bestätigte Bill. „Aber, Bob – Al wollte von Ihnen eigentlich Hintergründe zur Korea-Politik der USA hören.“

Das Telefon läutete. Bob hob den Hörer ab.

„Ich sagte doch, dass ich nicht gestört …“, entrüstete sich Bob und nahm sich sofort zurück: „Oh ja, Sir, selbstverständlich, natürlich Sir. Ich komme sofort.“

Er legte den Hörer zurück.

„Tut mir leid, meine Herren, der Botschafter verlangt nach mir. Das kann dauern. Wir werden ein andermal weiterreden. Bis bald. Unsere Presse-Übersetzungen bekommen Sie ja täglich in die Redaktion. Da können Sie sich ausgiebig informieren.“

Bob stand auf, rückte sich die Fliege zurecht, schwang sein Jackett über die Schulter und griff nach einer Schreibmappe.

Bill und Al hatten verstanden. Sie erhoben sich und verließen mit Bob den Raum. Al bedauerte den abrupten Gesprächsabbruch.

„Ist der immer so kurz angebunden?“, fragte er Bill.

„Diplomat – wenn du verstehst, was ich meine. Kleinere Störungen sind manchmal recht willkommen.“

„Du meinst, der war ganz froh, dass er zum Botschafter musste?“

Bill nahm seinen gewohnten Redefluss wieder auf.

„Kann ich mir wahnsinnig gut vorstellen. Es würde mich nicht wundern, wenn der gerissene Kerl das Telefonat nur lanciert hätte. Hast du gemerkt, wie er dich ausgefragt hat? Als es ans Eingemachte ging, musste er plötzlich weg. Merkwürdig, was? Die Presseverlautbarungen der Botschaft kannst du vergessen. Das Zeug stapelt sich wie wahnsinnig in meinem Büro. Wahre Hintergründe erfährst du von Woods ohnehin nicht. Er gibt nur zu, was du ihm beweisen kannst. Du wirst selbst herausfinden müssen, wer hinter den Kulissen welche Rolle spielt. Und da ist einiges faul.“

„Das sagt Goldmann auch.“

„Sei sicher, Goldmann hat dafür eine Nase. Nicht umsonst ist er so wahnsinnig erfolgreich …“

„ …und einflussreich“, setzte Al hinzu und sah sich im Botschaftsgebäude eingehend um. „Ich möchte mich einmal in diesem Gebäude vierundzwanzig Stunden mit einer Tarnkappe bewegen können“, wünschte er. „Ich hätte bestimmt Stoff auf Jahre hinaus.“

„Bestimmt!“

Bill wechselte das Thema.

„Mist – ich habe vergessen, mich bei Bob für die Einladung zu bedanken und mich zu entschuldigen.“

„Welche Einladung?“

„Die Einladung zum Botschaftsempfang. Hier ist sie.“

Bill fuchtelte mit einem weißen Briefkuvert vor Al herum und zog eine bedruckte Karte heraus.

„Der Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in der Republik Korea beehrt sich, Herrn William Antony Cooper und Begleitung aus Anlass des Unabhängigkeitstages am vierten Juli neunzehnhundertsechsundneunzig zu einem Empfang in seine Residenz einzuladen …“, las er halblaut vor. „Mensch, Al, da bin ich doch längst nicht mehr in Korea! Deswegen wollte ich Bob ansprechen und ihm vorschlagen, dass du hingehst.“

„Ich? Zum Empfang? Weiß nicht, solche Dinge liegen mir nicht besonders. Ich bin kein Salontiger“, sträubte sich Al.

„Al, du musst hin! Du triffst alles, was Rang und Namen hat. Landsleute aus Politik, Wirtschaft, Sport, Medien. Es wird vor interessanten Figuren wimmeln. Die Koreaner werden da sein, die Briten, Franzosen, Japaner und die Deutschen – viele der befreundeten Geheimdienste. Nirgendwo anders kannst du bessere Kontakte anbahnen. Du wirst auf sie angewiesen sein“, dozierte Bill.

„Ich weiß nicht …“

„Stell dich nicht so an wie ein Debütant beim ersten Ball. Außerdem legt unser Botschafter größten Wert darauf, dass seine Gäste erscheinen. Also?“

„Überredet. Okay – meinetwegen.“

„Es wird dir guttun, wenn du unter Leute kommst. Und keinesfalls solltest du ohne Begleitung hingehen“, riet Bill.

„Begleitung? Wie stellst du dir das vor? Shing-hees Familie würde mir das bestimmt übel nehmen, so kurz nach ihrem Tod.“

„Schließlich machst du nur deinen Job!“

„Obwohl – das heißt … Da fällt mir jemand ein.“

Al fasste sich an das Kinn und senkte seinen Kopf. Sein Lächeln verriet die freudige Überraschung seines Einfalls.

936,01 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
342 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783957163127
Издатель:
Правообладатель:
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