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Читать книгу: «Schattengeister», страница 6

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«Du willst, dass ich für dich stehle?» Makepeace machte ein böses Gesicht und fragte sich, ob das der Grund war, warum er ihr geholfen hatte. «Wenn irgendwas wegkommt, wissen sie doch gleich, dass ich es war. Dann setzt man mich wieder vor die Tür!»

James schaute sie lange an, dann schüttelte er langsam den Kopf.

«Nein», sagte er. «Das machen sie nicht.»

«Aber …»

«Ich meine es ernst. Sie würden dich bestrafen. Sie würden dich schlagen. Vielleicht würden sie dich wieder in dem Vogelzimmer einsperren. Aber sie würden dich nicht wegjagen. Nicht einmal, wenn du sie darum bittest.»

«Wovon redest du denn?»

«Ich versuche seit fünf Jahren wegzulaufen», sagte James. «Immer und immer wieder habe ich es versucht. Und jedes Mal verfolgen sie mich, spüren mich auf und bringen mich wieder hierher zurück.»

Makepeace starrte ihn an. War es normal, dass reiche Leute Dienstboten verfolgten, die weggelaufen waren? Sie hatte gehört, dass man für flüchtige Lehrburschen ein Kopfgeld aussetzte, aber das war wohl etwas anderes.

«Du hattest Albträume, nicht wahr?», sagte James plötzlich. Seine Bemerkung traf Makepeace völlig unvorbereitet. «Träume, die so schlimm waren, dass du schreiend aufgewacht bist. Von Geistern, die versuchen, in dich einzudringen …»

Makepeace wich ein paar Zentimeter zurück und betrachtete ihn mit einem Anflug von Unsicherheit und Misstrauen.

«Solche Träume hatte ich auch», fuhr James fort. «Sie haben vor fünf Jahren angefangen, als ich neun war. Und nicht lange danach haben die Fellmottes mich holen lassen. Meine Mutter wollte mich erst nicht hergeben, dann hat man sie bezahlt, und sie hat nichts mehr gesagt.» Er lächelte bitter. «Die Fellmottes kümmern sich so lange nicht um Bastarde wie uns, bis wir diese Albträume kriegen. Dann sind wir für sie von Interesse. Dann holen sie uns und bringen uns hierher. Sie haben auch von deinen Träumen gehört und dich geholt, oder etwa nicht?»

«Aber warum?» Makepeace war fasziniert. Es stimmte, Obadiah war mehr an ihren Albträumen interessiert gewesen als an irgendetwas sonst. «Was kümmern sie unsere Träume?»

«Ich weiß nicht», gab James zu. «Aber wir sind nicht die Einzigen. Manchmal kommen Lord Fellmottes Kusinen zu Besuch, und jede bringt einen oder zwei Bedienstete mit, die Fellmotte-Blut in den Adern haben. Ich glaube, dass alle Fellmottes ihre Bastarde einsammeln, wenn sie sich als Träumer erweisen.

Sie holen uns, und dann lassen sie uns nicht mehr weg. Das habe ich gemerkt, als ich versuchte, nach Hause zu gehen. Heute würde ich es nicht wieder tun, diese Frau würde mich doch nur ein weiteres Mal an die Fellmottes verkaufen.» Er runzelte scheinbar peinlich berührt die Stirn.

«Nachts werden die Türen mit einem schweren Riegel und Eisenketten versperrt», fuhr James fort, «und die Laufburschen schlafen direkt an den Eingängen. Das Tor ist ebenfalls verschlossen, und im Innenhof streunen die Hunde frei herum. Ich bin am Tag abgehauen. Aber rings um die Mauern erstrecken sich offene Felder, mindestens drei Meilen weit. Da ist man so klar und deutlich zu sehen wie ein Blutstropfen im Schnee.

Bei meinem zweiten Versuch habe ich es weiter geschafft, bis hinaus ins Moor. Da war es bitter kalt und kahl, nichts als Sumpf und Wälder. Vom eisigen Wind waren meine Finger schon ganz grau. Ich bin halb erfroren in ein Dorf getaumelt, und das war’s. Die Bauern dort haben nur einen Blick hierauf geworfen» – er tippte sich gegen das Kinn –, «mich am Kragen gepackt und zurückgebracht. Sie wussten genau, wer ich war und wer mich haben wollte. Und sie hatten Angst.

Letztes Jahr dachte ich, ich hätte es geschafft. Fünfzig Meilen, über drei Flüsse, bis nach Braybridge im nächsten County.» Wieder schüttelte James den Kopf und verzog das Gesicht. «Sie haben mir White Crowe auf den Hals gehetzt. Du kennst ihn, er hat dich hierhergebracht. Die Herrschaften setzen ihn nur bei Angelegenheiten ein, die still und leise über die Bühne gehen müssen. Er ist ihre Schattenhand. Und alle haben sich förmlich überschlagen, ihm dabei zu helfen, mich zu finden, selbst reiche und mächtige Männer. Die Fellmottes sind nicht nur eine einflussreiche Familie. Alle haben Angst vor ihnen.»

Makepeace biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und sagte nichts. Er war vermutlich bloß ein Aufschneider, wie die meisten Lehrlinge in Poplar, und bauschte seine Erfahrungen und Erlebnisse auf, aber seine Worte rissen kleine Kratzer von Unbehagen in ihrem Geist auf.

«Aber jetzt kannst du mir helfen!», fuhr James fort. «Mir trauen sie nicht mehr, aber dich werden sie nicht verdächtigen. Du kannst für mich die Augen offenhalten. Oder Sachen beiseiteschaffen, die wir für die Flucht brauchen – Vorräte, Bier, Kerzen …»

«Ich kann doch nicht weglaufen!», protestierte Makepeace. «Ich kann nirgends hin! Wenn ich meinen Platz hier aufgebe, werde ich noch vor Pfingsten verhungern oder erfrieren! Oder ermordet werden!»

«Ich werde dich beschützen», beharrte James.

«Wie denn? Das Land zerbricht, das sagen alle, und ich habe es gesehen! Du kannst mich nicht beschützen vor … vor dem wild gewordenen Mob oder vor Gewehrkugeln! Oder vor Geistern, die mein Gehirn fressen wollen! Hier habe ich ein Bett und genug zu essen, und das ist viel mehr, als mich draußen auf dem Moor erwartet! Ich habe heute sogar Weißbrot gegessen!»

«Das Blut unseres Vaters verschafft uns gewisse Vergünstigungen, das ist wahr», sagte James. «Mein Essen ist immer ein bisschen besser als das, was die anderen Dienstboten bekommen. Manchmal, wenn ich meine Pflichten erfüllt habe, bekomme ich sogar Unterricht. Ich lerne lesen, fremde Sprachen, reiten. Du vielleicht auch. Die anderen Dienstboten zucken nicht mit der Wimper; sie wissen, wessen Bastard ich bin, auch wenn sie es nicht aussprechen.»

«Und warum willst du dann weglaufen?»

«Hast du den alten Obadiah gesehen?», fragte James scharf.

«Ja», sagte Makepeace langsam; ihre Stimme bebte unwillkürlich. «Er ist …»

Sie verstummte.

«Du kannst es auch sehen, nicht wahr?», flüsterte James. Er wirkte verblüfft und erleichtert zugleich.

Makepeace zögerte und blickte ihm ins Gesicht. Sie fragte sich plötzlich, ob das eine Art Prüfung war, die sich Obadiah ausgedacht hatte. Wenn sie jetzt etwas Respektloses sagte, würde James sie vielleicht melden, und vielleicht würde man sie dann wegschicken oder wieder im Vogelzimmer anketten.

Menschen konnte man nicht vertrauen. Hunde knurrten, bevor sie zubissen, aber Menschen nicht. Menschen lächelten.

James hatte ein sonnenverbranntes Gesicht und weit auseinanderstehende Augen. Aber was ihr besonders auffiel, waren seine Hände mit den verschorften Knöcheln. Es waren die Hände einer sorglosen, rücksichtslosen Person, eines Raufbolds, aber es waren ehrliche Hände. Ihr Anblick entschied die Sache zu seinen Gunsten. Makepeace beschloss, ein Körnchen Vertrauen in die Waagschale zu werfen.

«Ich weiß auch nicht, was es bedeutet», flüsterte sie, «aber an ihm ist irgendetwas …»

«… falsch», beendete James ihren Satz.

«Es fühlt sich an wie … wenn ich ihm in die Augen schaue … wie die toten Wesen in meinen Albträumen.»

«Ich weiß.»

«Aber er ist lebendig!»

«Ja. Und trotzdem kriegst du eine Gänsehaut und dir kribbeln die Finger, nicht wahr? Niemand sonst sieht es, nur wir beide, oder wenn sie es sehen, dann reden sie nicht darüber. Und …», James beugte sich vor und wisperte ihr ins Ohr, «Obadiah ist nicht der Einzige. Alle älteren Fellmottes sind so wie er.»

«Sir Thomas nicht!», widersprach Makepeace, die sich an die hellen braunen Augen des Mannes erinnerte.

«Nein, noch nicht», sagte James ernst. «Sie sind nicht von Anfang an so. Erst wenn sie ihr Erbe antreten und Land und Titel übernehmen, dann passiert etwas. Sie verändern sich. Es ist, als ob ihr Blut über Nacht kalt wird. Auch andere Menschen merken, dass etwas anders ist. Die Diener nennen sie nur die ‹Elder›, die klugen Alten. Sie sind zu flink, sie sind zu clever. Sie wissen zu viel, was sie nicht wissen sollten. Und man kann sie nicht anlügen. Sie durchschauen dich sofort.

Deshalb müssen wir weg! Dieses Haus ist … eine Brutstätte für Teufel! Wir sind keine Diener, wir sind Gefangene! Und sie sagen uns nicht einmal, warum!»

Makepeace kaute auf ihrer Unterlippe, hin und her gerissen von ihrer Unsicherheit. Sie konnte ihrem Instinkt vertrauen, irgendetwas war mit Obadiah. Mutter war aus Grizehayes geflohen und hatte alle erdenklichen Mühen auf sich genommen, damit die Fellmottes sie nicht aufspürten. Und sie musste auch an Bär denken – Bär, der aus ihr herausgerissen und vernichtet werden würde, wenn Obadiah herausfand, dass er hier war.

Aber all das waren nur vage Schrecken. Die Angst, angekettet und geschlagen oder hinaus in die Wildnis gejagt zu werden, wo Hunger und wahnsinnige Geister auf sie warteten, war so greifbar, dass sie glaubte, sie anfassen zu können. Und tief in ihr lauerte auch noch jener quälende Gedanke, dass vielleicht Mutters zerfetzter Geist immer noch jenseits der schützenden Mauern von Grizehayes herumirrte und nach ihr suchte. Die Vorstellung war gleißend weiß von Hoffnung und Grausen, und ihr Geist zuckte vor ihr zurück.

«Es tut mir leid», sagte Makepeace, «aber ich kann nicht mit dir weglaufen. Ich brauche ein Zuhause, und sei es auch nur dieses hier.»

«Ich mache dir keinen Vorwurf, wenn du Angst hast», sagte James freundlich. «Aber ich verwette meinen Hals darauf, dass wir hier mehr zu fürchten haben als sonst irgendwo. Ich hoffe, du änderst noch deine Meinung. Ich hoffe, du tust es bald, damit du mit mir kommen kannst.»

Makepeace war Freundlichkeit nicht gewohnt, und es war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Seit Mutters Tod gähnte in der Welt ein weites, quälendes Loch, und sie wünschte sich verzweifelt einen Menschen, der dieses Loch füllen konnte. Einen Augenblick lang war Makepeace in Versuchung, James von Bär zu erzählen.

Aber sie biss sich auf die Zunge, und der Augenblick verging. Dieses Geheimnis war zu groß für jemanden, den sie erst so kurz kannte. Es konnte sein, dass James sie verriet. Es konnte sein, dass er sie nicht verstand. Es konnte auch sein, dass er sich vor ihr fürchtete oder zu der Einsicht kam, dass sie doch verrückt war. Ihre Freundschaft war noch zu neu und zu zerbrechlich, und sie brauchte sie.

KAPITEL 8

Die Wochen vergingen, und Makepeace verdiente sich mit harter Arbeit und schneller Auffassungsgabe die brummige Anerkennung der zweiten Köchin. Sie stand ganz unten in der Hackordnung und war jeden Tag die Erste, die aus dem Bett war, holte Wasser und Holz, fütterte die Hühner und entfachte das Feuer. Die Arbeit war ermüdend, und die Hitze und der Rauch erschreckten Bär nach wie vor, aber sie hatte bald herausgefunden, wie man den Bratenspieß am besten drehte, wie der Bienenstock geplündert wurde, wie mit den Fettpfannen und mit dem Kesselhaken umgegangen werden musste. Sie geriet schon längst nicht mehr in Panik, wenn man ihr sagte, sie solle zum Salzkasten laufen, zum Zuckerblock oder in den Fleischkeller.

Mistress Gotely sah hin und wieder, wie Makepeace Küchenreste zusammenschabte und den Hunden brachte, die in der Küche schliefen, oder sie Soße von ihren Händen lecken ließ.

«Weichherziges kleines Mondkalb», murmelte sie und schüttelte den Kopf. «Sie fressen dir noch die Haare vom Kopf, wenn du nicht aufpasst.» Aber die Soße tat bereits ihre wohlschmeckende Wirkung, was die Loyalität der Hunde betraf. Keiner von ihnen knurrte sie mehr an. Im Gegenteil, manchmal schlief sie nachts mit ihnen zusammengekuschelt, und ihr Atem und ihre Wärme wiegten sie in einen traumlosen Schlaf. Der kleine Küchenhund lag meistens in ihren Armen.

Wie Makepeace gehofft hatte, besänftigte die Zutraulichkeit der Hunde auch Bärs Nervosität. Für ihn schienen alle Lebewesen, Mensch oder Tier, in «harmlos» und «potenziell gefährlich» unterteilt zu sein. Vertraute, harmlose Tiere duldete er in seiner Nähe. Fremde und verdächtige Kreaturen mussten mit Schnauben und Drohgebärden vertrieben werden.

Was für ein ängstliches Bärchen du doch bist, dachte Makepeace.

Das Schreibenlernen machte ihr viel mehr Schwierigkeiten. Einmal in der Woche, spät am Abend, nachdem ihr Tagwerk erledigt war, wurde sie zusammen mit James von Young Crowe unterrichtet, der während ihrer Zeit im Turmzimmer ihr Gefängniswärter gewesen war. Seinem selbstverliebten Grinsen nach zu urteilen, war er der Meinung, dass seine «Heilmethoden» bei ihr angeschlagen und sie von ihrem «Wahnsinn» kuriert hatten.

Makepeace wusste mittlerweile, dass die ganze Familie Crowe in Diensten der Fellmottes stand. Die anderen Diener gaben ihnen der Einfachheit halber Spitznamen, um sie auseinanderzuhalten. Der Vater von Young Crowe, Old Crowe, war der Verwalter von Grizehayes. Und der weißhaarige Mann, der sie in ihr neues Zuhause gebracht hatte, war – wie James ihr bereits erklärt hatte – White Crowe.

Makepeace hatte bisher nur ein M als ihr «Zeichen» geschrieben. Sie hatte schon gesehen, wie Leute lasen: Ihr Blick glitt über die Zeilen wie ein Blatt in der Strömung eines Bachs. Aber wenn sie selbst die Buchstaben anstarrte, starrten sie bloß zurück. Sie sahen aus wie platt gedrückte Insekten: flache Leiber und ausgebreitete Beine. Ihre ungeübte Hand konnte sie nicht nachzeichnen. Sie fühlte sich dumm dabei. Und es war ihren Bemühungen auch nicht gerade zuträglich, dass sie am Ende des Tages in der Regel zu müde war, um klar zu denken.

Young Crowe hatte seine eigene, herablassend philosophische Meinung über Makepeaces Unwissenheit.

«Hast du schon einmal ein Bärenjunges gesehen, wenn es aus dem Mutterleib kommt?», fragte er. «Es ist nur eine formlose Masse. Die Bärin muss es stundenlang lecken, bis es aussieht wie ein Bärenjunges, mit einer Schnauze, Ohren, hübschen Tatzen und allem anderen, was es zum Leben braucht.

Du bist entsetzlich ungebildet für dein Alter. Wie ein Klumpen Fett. Aber wir werden dich schon in Form lecken.»

Makepeace musste unwillkürlich lächeln. Sie überlegte, ob Bär von seiner Mutter auch in Form geleckt worden war, in einer glücklichen Zeit vor der ganzen Grausamkeit. Die Vorstellung, dass ein kleines Bärchen seine Augen öffnete und zum ersten Mal die große mütterliche Bärenzunge sah, gefiel ihr sehr. Young Crowe bemerkte ihr Lächeln und zog Tierbücher heraus, damit sie die Worte darin lesen und abschreiben konnte. Makepeace freute sich, dass sie über Tiere schreiben durfte.

Kröte und Spinne sind giftige Gegner und bekämpfen sich bis auf den Tod, erfuhr sie. Der Pelikan säugt seine Jungen mit Herzblut. Die Beine eines Dachses sind auf einer Seite länger als auf der anderen, damit er auf einer abschüssigen Fläche besser laufen kann.

Makepeace kam immer besser mit Bär zurecht. Er war nicht ständig in ihrem Geist aktiv. Oft schlief er, und manchmal kam es ihr so vor, als ob er überhaupt nicht da wäre. Im Morgengrauen und in der Abenddämmerung wurde er hin und wieder ruhelos, aber auch das geschah nicht regelmäßig. Manchmal tauchte Bär ohne Vorwarnung auf. Seine Gefühle ergossen sich wie ein Sturzbach in ihre eigenen; ihre Sinne wurden von seinen überflutet. Bär schien grundsätzlich in der Gegenwart zu leben, aber er trug seine Erinnerungen bei sich wie verheilte Wunden. Hin und wieder kratzte er eine davon auf und taumelte verwirrt in einen Abgrund aus Schmerz.

Er war neugierig und geduldig, aber seine Angst konnte in Sekundenschnelle in rasende Wut umschlagen. Makepeace fürchtete sich vor dieser Wut. Im Augenblick waren sie beide in Sicherheit, aber es fehlte nicht viel, und die Fellmottes würden zu der Überzeugung kommen, dass Makepeace doch verrückt oder – noch viel schlimmer – besessen war.

Sie lebte sich in Grizehayes ein, und trotzdem blieb sie ruhelos. Selbst die kleinen Gunstbezeugungen – der Unterricht, der Extra-Löffel Eintopf beim Mittagessen – machten sie nervös. Sie musste unwillkürlich an Gänse oder Schwäne denken, die man mästete und dann schlachtete, und sie begann sich zu fragen, ob auch auf sie irgendwo ein Messer wartete.

Im Frühherbst geriet der Haushalt außer sich vor Begeisterung, weil zwei Mitglieder der Fellmotte-Familie, die lange abwesend gewesen waren, nach Grizehayes zurückkehrten. Einer war Sir Marmaduke, ein Vetter zweiten Grades von Lord Fellmotte, der ein Anwesen in den Welsh Marches bewohnte. Der andere war Symond, Sir Thomas’ ältester Sohn und sein Erbe.

Symonds verstorbene Mutter hatte ihre Pflicht erfüllt und gehorsam acht Kinder hervorgebracht, ehe sie an einem Fieber starb. Vier von ihnen erfreuten sich noch ihres Lebens. Die beiden erwachsenen Töchter waren vorteilhaft verheiratet worden, und ihre neunjährige Schwester befand sich in der Obhut eines Vetters und war dem Sohn eines Baronets versprochen. Symond war der einzige noch lebende Sohn.

Symond und Sir Marmaduke kamen direkt vom Hof in London, und alle waren ganz versessen darauf, Neuigkeiten aus der Hauptstadt zu erfahren. Für ein paar Humpen Bier unten im Hof war der Kutscher nur zu gerne bereit, sein wissbegieriges Publikum zufriedenzustellen.

«Der Earl of Stafford ist tot», sagte er. «Das Parlament hat ihn wegen Hochverrats abgeurteilt. Jetzt steckt sein Kopf über dem Verrätertor.»

Alle keuchten entsetzt auf.

«Der arme Earl!», murmelte Mistress Gotely. «Nach allem, was er für den König getan hat. Was hat das Parlament denn bloß vor?»

«Sie wollen mehr Macht für sich selbst, das ist es», sagte Young Crowe. «Sie berauben den König seiner Freunde und Verbündeten, einen nach dem anderen. Nicht das ganze Parlament ist verdorben, aber es gibt dort ein giftiges Vipernnest aus Rundköpfen, aus Puritanern, die die anderen Parlamentarier aufstacheln. Das sind die wahren Verräter – und sie sind vollkommen verrückt.»

«Alle Puritaner sind verrückt», murmelte Long Alys, die rothaarige Waschfrau. «Oh, ich wollte dich nicht kränken, Makepeace, aber es stimmt doch!»

Makepeace hatte es aufgegeben zu behaupten, sie sei keine Puritanerin. Ihr fremdartiger, bibeltreuer Name grenzte sie von den anderen ab. Im Grunde genommen war ihr dieser Abstand ganz lieb. Es war gefährlich, jemandem zu nahe zu kommen.

Außerdem wusste Makepeace nicht mehr, was richtig war und wer die Oberhand gewann. Wenn sie den Leuten in Grizehayes zuhörte, dann hatte sie das Gefühl, dass in ihrem Kopf das Innere nach außen gekehrt wurde. In Poplar war jedermann klar, dass der König von schlechten Ratgebern und katholischen Intriganten vom rechten Weg abgebracht wurde und dass im Parlament nur brave, ehrliche und weitsichtige Männer saßen, die das Beste für alle wollten. Das war glasklar gewesen. Aus dieser Überzeugung sprach die Vernunft. Im Augenblick feierten die Bewohner von Poplar vermutlich den Tod des bösen Earls. Gelobt sei der Herr, Black Tom Tyrant ist tot!

Aber hier in Grizehayes war es ebenso glasklar für alle Menschen, dass ein machtgieriges Parlament, angeführt von wahnsinnigen Puritanern, dem rechtmäßigen König die Krone zu stehlen versuchte. Keine Seite schien dumm zu sein, und beide waren sich ihrer Sache sicher.

Wurde ich von Puritanern aufgezogen? Damals habe ich geglaubt, was sie glaubten. Waren wir alle wahnsinnig? Oder war ich damals auf der richtigen Seite und bin jetzt verrückt?

«Aber das sind Nachrichten, die die Herrschaften in einem Brief hätten schicken können!», sagte Mistress Gotely. «Warum sind sie denn höchstpersönlich gekommen, und noch dazu so plötzlich?»

«Sie wollten etwas nach Hause bringen», sagte der Kutscher mit geheimnisvoller Miene. «Ich habe es nur eine Sekunde lang gesehen, aber es sah aus wie ein Schriftstück mit einem Siegel so groß wie meine Handfläche.» Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, obwohl ihm ein Dutzend Ohrenpaare aufmerksam lauschten. «Wenn ihr mich fragt, war es das Siegel des Königs.»

«Es ist eine Royal Charta», erklärte James Makepeace später an diesem Tag, als sie unter vier Augen miteinander sprechen konnten. «Ich habe es von Master Symond erfahren.»

«Bist du mit Master Symond befreundet?», fragte Makepeace überrascht.

Sie hatte nur einen kurzen Blick auf Symond geworfen, als er im Hof von seiner edlen grauen Stute stieg. Er war erst etwa neunzehn Jahre alt, aber prunkvoll gekleidet in Spitze und himmelblauen Samt. Mit seinem eisblonden Haar und der höfisch eleganten Haltung wirkte er wie eine seltene Kostbarkeit, wie die Schwäne aus Zuckerguss, die Mistress Gotely manchmal für wichtige Gäste herstellte. Er hatte weiche, angenehme Züge und sah ganz anders aus als Sir Thomas, abgesehen von dem kleinen Grübchen in seinem Kinn.

Um die Wahrheit zu sagen, war Makepeace ziemlich beeindruckt, dass James mit einem solch exotischen Geschöpf auf vertrautem Fuß stand. Sie merkte, wie James sich aufplusterte und ihre Vermutung bestätigen wollte, aber seine Ehrlichkeit gewann die Oberhand.

«Manchmal», sagte er stattdessen. «Ich war sein Gefährte, als er hier aufwuchs, und … manchmal waren wir Freunde. Er hat mir diese Kleider geschenkt und diese schönen Schuhe – das alles hat einmal ihm gehört. Und von ihm habe ich auch das hier.» James schob seine Haare hoch und Makepeace sah eine weiße Narbe entlang des Haaransatzes über seiner linken Schläfe.

«Wir waren einmal gemeinsam auf der Jagd und ritten zwei feine Stuten. Wir sprangen über eine Hecke, und mein Sprung war sauberer als seiner. Ich wusste es, und er wusste es. Ich sah, wie er mich mit einem Gewitterblick anschaute. Und als wir zur nächsten Hecke kamen und niemand uns mehr sehen konnte, beugte er sich zur Seite und schlug mir mit seiner Peitsche über das Gesicht. Ich geriet im Sattel ins Rutschen, meine Stute blieb verdattert stehen, und ich bin über ihren Kopf hinweg in die Hecke gesegelt!» James lachte und schien den Vorfall viel lustiger zu finden als Makepeace.

«Du hättest dir den Hals brechen können!», rief sie.

«Ich bin hart im Nehmen», sagte James. «Aber er hat mir eine wichtige Lektion erteilt. Er mag aussehen wie Milch und Honig, aber in ihm stecken der Stolz und das Temperament eines Lords. Er hat mir später erklärt, dass ich ihm keine andere Wahl gelassen hätte – er musste der Bessere sein. Vermutlich war das seine Art, sich zu entschuldigen.»

Makepeace fand das eine äußerst erbärmliche Art.

«Er ging weg, nach Oxford, an die Universität, und danach hat Sir Marmaduke ihn bei Hofe eingeführt. Jedes Mal, wenn er heimkommt, übersieht er mich anfangs und scheint mich kaum noch zu kennen. Aber sobald wir allein sind, reden wir wie in alten Zeiten … für eine Weile.»

Obwohl Makepeace wusste, dass sie kein Recht darauf hatte, stach sie die Eifersucht bei dem Gedanken, dass James mit einer anderen Person vertrauliche Gespräche führte.

James war mittlerweile ihr engster Freund und Kamerad. Sie vertraute ihm mehr als jedem anderen menschlichen Wesen, und doch hatte sie ihm immer noch nichts von Bär erzählt. Je länger sie es hinauszögerte, desto schwieriger wurde es, James zu gestehen, dass sie etwas so Wichtiges vor ihm geheim gehalten hatte. Nach drei Monaten wusste sie nicht mehr, wie sie es ihm sagen sollte. Sie fühlte sich schuldig deswegen, und manchmal auch ein bisschen traurig, als ob sie ein Boot verpasst hätte und nun für immer an einer einsamen Küste gestrandet wäre.

«Und was ist das für eine Charta?», wollte sie wissen. «Hat Master Symond dir das gesagt?»

«Er hat sie nicht gelesen», antwortete James, «und er weiß auch nicht, was drinsteht. Er meint, das sei streng geheim. Er sagte mir aber, dass es dem König gar nicht recht gewesen sei und dass Sir Marmaduke große Mühe gehabt habe, ihn zur Unterschrift zu bewegen. Seine Majestät habe letztendlich zugestimmt, aber nur, weil die Fellmottes ihm ein Vermögen leihen und Sir Marmaduke ihm hilft, ein paar Kronjuwelen zu verkaufen.»

Makepeace runzelte die Stirn. James’ Worte weckten in ihr eine verschwommene, bedrohliche Erinnerung an ihren ersten Tag in Grizehayes.

«Braucht der König Geld?» Ihr fiel ein, dass Lord Fellmotte das behauptet hatte.

«Sieht ganz so aus.» James zuckte mit den Schultern.

«Was ist eine Royal Charta überhaupt?», fragte Makepeace.

«Das ist eine … königliche Erklärung.» James klang ein bisschen unsicher. «Sie gibt dir die Erlaubnis, Dinge zu tun. Wie … dein Haus zu befestigen. Oder … Pfeffer zu verkaufen. Oder ausländische Schiffe anzugreifen.»

«Aber wo liegt dann der Sinn in einer geheimen Erklärung?», fragte Makepeace. «Wenn der König einem etwas erlaubt, warum darf dann keiner davon wissen?»

«Hmm. Stimmt, das ist merkwürdig.» James runzelte nachdenklich die Stirn. «Aber die Charta erteilt den Fellmottes auf jeden Fall die Erlaubnis, etwas Bestimmtes zu tun. Master Symond sagte, er habe gehört, wie Sir Marmaduke von ‹den uralten Bräuchen und Praktiken unseres Vermächtnisses› sprach.»

«James», sagte Makepeace langsam. «An meinem ersten Abend hier hörte ich, wie seine Lordschaft und White Crowe über etwas sprachen. White Crowe meinte, es gäbe Leute bei Hof, die die Fellmottes der Hexerei bezichtigten.»

«Der Hexerei!» James‘ Augenbrauen schnellten in die Höhe. «Warum hast du mir das nicht erzählt?»

«Ich war an jenem Tag nicht bei Sinnen vor Fieber! Es ist, als würde man sich an einen Albtraum erinnern. Ich habe seitdem nicht mehr daran gedacht.»

«Aber du bist sicher, dass er Hexerei sagte?»

«Ich denke schon. Lord Fellmotte meinte, sie könnten wohl nicht verhindern, dass dem König Gerüchte zu Ohren kämen, also müssten sie dafür sorgen, dass er sie nicht beachtet. Sie brauchten ein Druckmittel gegen ihn. Und dann redeten sie darüber, dass der König dringend Geld benötigt und dass sie vielleicht etwas arrangieren könnten.»

James blickte stirnrunzelnd ins Leere.

«Also», sagte er nach einer Weile langsam, «was wäre, wenn die ‹uralten Bräuche› der Fellmottes irgendetwas Böses sind? Etwas, das sie in den Verdacht bringen könnte, Hexerei zu betreiben? Wenn der König eine Charta unterschrieben hat, in der er ihnen die Erlaubnis für etwas Teuflisches erteilt, dann kann er sie nicht als Hexer verhaften lassen, nicht wahr? Denn wenn er es täte, dann würden sie aller Welt die Charta zeigen und man würde auch ihn anklagen.»

«Wenn die Fellmottes fallen, fällt auch er», führte Makepeace den Gedanken weiter. «Das ist Erpressung.»

«Ich habe dir doch gesagt, dass mit den Fellmottes etwas nicht stimmt!», rief James. «Ihre ‹uralten Bräuche› … Das muss irgendetwas sein, was passiert, wenn sie ihr Erbe antreten. Ich habe dir ja erzählt, dass sie sich verändern. Vielleicht verkaufen sie ihre Seelen dem Teufel!»

«Wir wissen doch gar nicht …», setzte Makepeace an.

«Wir wissen, dass sie Hexer sind oder zumindest so was in der Art!», fiel James ihr ins Wort. «Warum willst du nicht mit mir weglaufen? Was muss passieren, dass du zur Vernunft kommst?»

Die Antwort folgte am Tag darauf.

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