Читать книгу: «Gesellschaftsspiele», страница 2

Шрифт:

Spekulieren in fremden Kompetenzen […], mit dem wir der Repräsentationslast entgehen und eine direkte Kommunikation ermöglichen. Diese Kommunikation findet auf allen Ebenen statt und beinhaltet auch das Publikum als Mitdenker und eventuell Sprecher. In diesem System gibt es keine Störung durch Unvorhergesehenes, es ist eine diskursive Dramaturgie und keine der geregelten, getimten Abläufe. Nicht getimt bedeutet nicht schlecht getimt oder langsam, sondern getimt im Verhältnis zum Moment.13

Der Titel ihrer Performance Das neue schwarze Denken – Chefferie (2013) verweist auf ein politisch-administratives Modell der Versammlung vieler gleichberechtigter Chefs aus vorkolonialen Zeiten, das in Subsahara-Afrika bis heute parallel zu offiziellen staatlichen Strukturen praktiziert wird. Damit ist »Chefferie« auch eine Metapher für die eigene Zusammenarbeit der deutschen Regisseurin Monika Gintersdorfer mit meinungsstarken PerformerInnen von der Elfenbeinküste, aus Deutschland und in diesem Fall auch aus Ruanda und Kongo. Obwohl Gintersdorfer nie selbst im Rampenlicht der Aufführung steht, bleiben Widersprüche und diskursive oder persönliche Differenzen aus dem Probenprozess für die Zuschauenden sichtbar.

Mit Witz und Lässigkeit werden kontroverse Deutungen und Repräsentationen eines afrikanischen Selbstverständnisses gegeneinander ausgespielt und jeder westliche Versuch, das Bild des Kontinents zu homogenisieren, lustvoll unterlaufen. Dabei gehen die PerformerInnen verbal und physisch keiner Konfrontation aus dem Weg und scheuen auch vor politisch heiklen Stereotypisierungen nationaler Identitäten nicht zurück – das Unbehagen der weitgehend weißen ZuschauerInnen kommt ihnen gerade recht.

In Chefferie und vielen anderen Arbeiten von Gintersdorfer/Klaßen repräsentiert der Schauspieler Hauke Heumann auf der Bühne die Westler im Publikum, überträgt aber zugleich den Text der anderen PerformerInnen rasant zwischen Französisch, Deutsch und Englisch hin und her und erlaubt sich dabei durchaus eigene Wertungen – ein vergeblicher, doch immer hoffnungsfroher und sehr komischer Kampf mit einer Rolle zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung.

Krisen der Repräsentation

Im Mittelalter, da war die Sache noch relativ klar. Der König hat zwei Körper: einen natürlichen, menschlichen, sterblichen und einen symbolischen, kollektiv-religiösen, der ewig währt.14 Der König ist tot, es lebe der König! Im Absolutismus gab es dann nur noch einen Körper, der Monarch war identisch mit dem Staat – »L’état c’est moi« (»Der Staat bin ich!«) – und brauchte keinen Gott mehr für seine Legitimation. Komplizierter wurde es, als die Revolutionen in Nordamerika und Frankreich plötzlich das Volk zum Souverän machten. Denn wo alle die Macht haben, kann kein Einzelner sie mehr verkörpern: Der Ort der Macht muss leer bleiben.15 Nicht nur, dass die politisch Herrschenden nun keine eigene Gewalt mehr haben – die Macht, die sie auf Zeit stellvertretend ausüben, gehört zudem einem immer heterogener werdenden Volk. Eine unmögliche Aufgabe: etwas zu repräsentieren, das nicht repräsentiert werden kann. So ist Demokratie nie etwas Festes, sie bleibt immer »im Kommen«, wie der Philosoph Jacques Derrida schreibt.16

Krisen der Repräsentation ziehen sich also zwangsläufig durch die Moderne – in der Politik, aber auch in der Kunst: Erst wollten sich Malerei und Skulptur nicht mehr auf die Aufgabe reiner Abbildung reduzieren lassen, dann brachte Marcel Duchamp mit dem readymade Alltagsgegenstände ins Museum, die zunächst nichts anderes zu repräsentieren schienen als sich selbst. Seit den 1960ern versuchten performance art und happenings der Repräsentation zu entkommen, indem sie den Fokus ganz auf die Präsenz, die Gegenwärtigkeit der Situation legten, die sie selbst erzeugten. Und institutional critique richtete den Blick vor allem auf die strukturellen, organisatorischen und ökonomischen Bedingungen von Repräsentation.

Auch im Theater tobte der Kampf gegen hergebrachte Vorstellungen von Repräsentation mit Antonin Artaud und Bertolt Brecht als prominentesten Protagonisten auf gegensätzlichen Seiten: Während der eine dafür kämpfte, die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem ganz aufzuheben und Kunst und Leben eins werden zu lassen, wollte der andere sie transformieren, transparent machen und zugleich jene einbeziehen, die künstlerisch wie politisch nicht ausreichend repräsentiert wurden. Dabei wird deutlich, dass Brechts Konzept des gestischen Spiels – also des verweisenden Zeigens – nicht nur ein ästhetisches ist: So wie in der Demokratie die Macht nicht mehr verkörpert, sondern zu einer Geste wird, die auf den eigentlichen Souverän verweist,17 so soll immer erkennbar bleiben, dass die Stellvertretung der Bühnenfigur durch den Schauspieler rein symbolisch ist. Es ist ein Zeigegestus, der in der Demokratie wie im Theater zugleich auf die Unmöglichkeit der Repräsentation wie auch die Unmöglichkeit einer Nicht-Repräsentation verweist. Die beiden Bedeutungen, die Repräsentation im Deutschen hat – die des Darstellens und die des Stellvertretens –, sind nicht voneinander zu trennen.

Regietheater und frühes postdramatisches Theater

Es war vor allem das progressive Theater der 1970er- und 80er-Jahre, das in Europa ein paradigmatisches Bild geprägt hat, das vielen bis heute als geradezu synonym für politische Kunst überhaupt gilt. Tatsächlich waren die Bühnen damals (wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise in West und Ost) ein durchaus relevanter Faktor vieler gesellschaftlicher Debatten. In einer Zeit, in der die gegensätzlichen Ideologien noch wirkmächtig und die Trennung zwischen den Blöcken klar markiert war, engagierte sich das Theater in einer Vielzahl politischer Anliegen, indem es das Elend der Welt repräsentierte – vom Vietnamkrieg über Apartheid in Südafrika bis hin zu den alltäglichen Widrigkeiten einer lokalen Arbeiterfamilie. Während im Osten die subversive Kraft oft in versteckten oder kodierten Botschaften lag, waren im Westen offene Provokationen ein wichtiger Teil des Repertoires: türenschlagende ZuschauerInnen, die unter Protest den Saal verließen, gehörten zum Alltag. Ob mit neuen Stücken oder konsequent modernisierten Klassikern: radikale Interpretationen der aufzuführenden Texte waren wesentliches Merkmal eines Regietheaters, das allerdings im Großen und Ganzen trotz seiner vielen neuen Ansätze meist einem – wie sehr auch immer abstrahierten – mimetischen Spiel verhaftet blieb. Auch wenn es dem politischen Theater dieser Zeit oft gelang, jenseits direkter Betroffenheit ein Bewusstsein für die systemischen Gründe hinter den dargestellten Missständen zu erzeugen, konnte es doch meist dem Dilemma nicht entkommen, dass seine Repräsentationen lediglich symbolische Wiederholungen genau jener Übel waren, die es eigentlich bekämpfen wollte. Brecht nannte dieses Phänomen schon in den frühen 1930er-Jahren »Menschenfresserdramatik«: »Der physischen Ausbeutung des Armen folgte die psychische. Doppelte Ministergehälter wurden den Mimen ausgeworfen, welche die Qualen der Ausgebeuteten möglichst naturgetreu imitieren konnten […].«18 Die bemitleidete Figur erzeugt Gefühle der Trauer, Betroffenheit, Schuld oder gar Wut bei den ZuschauerInnen, die aller Wahrscheinlichkeit nach – zumindest strukturell – daran beteiligt sind, genau dieses System der Ausbeutung am Leben zu erhalten.

Letztlich setzt das Theater damit bis heute oft nur fort, was Brecht in seinem Kleinen Organon für das Theater analysiert hat: »Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beeinflußbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum).«19 Nicht nur das Stück auf der Bühne, sondern das gesamte theatrale Setup (ganz zu schweigen von den Hierarchien in der Institution selbst) reproduziert lediglich das System, das es kritisieren will. In den Worten des Theatermachers René Pollesch:

[Schauspielerinnen müssen] den Sexismus, der in der Gesellschaft herrscht, auf der Bühne reproduzieren […], legitimiert durch den Dramenkanon, der keine Frauenfiguren kennt, wo bei den Räubern die Amalie kurz mal reinschneit und in heutigen Inszenierungen immer noch ein kleines, dünnes Kleidchen verpasst kriegt, um für ein bisschen Erotik zu sorgen, und dann wieder rausgeht, und nichts zu sagen hat …20

In Opposition zu einer solchen Repräsentationspraxis entstand vor allem seit den 1990er-Jahren ein Theater, das vorherrschende Modelle nicht nur reformieren, sondern – außerhalb etablierter Theaterstrukturen – grundlegend revolutionieren wollte. Postdramatisches Theater, devised theatre, live arts, Performancetheater, freies Theater – es gibt viele Labels für dieses Genre, das wegen der Mannigfaltigkeit seiner Formen und Überlappungen mit anderen künstlerischen Disziplinen meist nicht leicht zu definieren ist. Mehr noch als die Skepsis gegenüber der dominanten Rolle des Textes, dem Inszenierungen im dramatischen Theater fast immer nachgeordnet sind, stand die Kritik am Gebrauch mimetischer Repräsentation im Mittelpunkt dieser neuen Ästhetiken und Arbeitsweisen. Autorenregisseure wie John Jesurun oder René Pollesch und Kollektive wie Gob Squad oder She She Pop lehnten es als vermessen ab, über andere zu reden, über deren Probleme, Schuld und Leid. Stattdessen wandten sie den Blick auf sich selbst, ihre popkulturelle Umwelt und auf das Theater als Medium. Es galt, wie es im damals viel zitierten Roman Generation X von Douglas Coupland heißt: »Entweder entstehen aus unserem Leben Geschichten, oder es gibt einfach keinen Weg hindurch.«21

Das Theater als Ort, als Verabredung, aber auch als Maschinerie wurde sichtbar gemacht, während auf der Bühne, offensiv subjektiv, die eigene kleine Umgebung einer globalisierten, urbanen, kreativen, semi-prekären Mittelschicht verhandelt wurde, die damals noch im Entstehen war und sich selbst erst definieren musste. Der sehr politische Impuls, die Reflexion bei sich selbst beginnen zu lassen, birgt allerdings die Gefahr, das eigene Wohnzimmer mit der Welt zu verwechseln, wie es die britisch-deutsche Gruppe Gob Squad Jahre später selbstkritisch mit der Arbeit Western Society (2013) auf den Punkt bringt. Zwar wird auch hier, wie gewohnt, das Leben der eigenen bubble auf die Bühne gebracht – doch der Titel gibt den Rahmen vor, durch den ein ironisch-nostalgischer Blick auf eine weiße, westliche Gesellschaft geworfen wird, die es so schon längst nicht mehr gibt, vielleicht nie gab. Wie durch ein verkehrtherum gehaltenes Teleskop erscheint das Nahe plötzlich ganz weit entfernt.

Einen anderen Weg im Umgang mit der Repräsentationsfalle des dramatischen Theaters wählte eine Reihe von TheatermacherInnen seit den 2000er-Jahren, indem sie sich verstärkt dokumentarischen Formaten zuwandten und die Bühne für die Selbstdarstellung von »echten Menschen« öffneten. Regiekollektive wie Rimini Protokoll, die in Manchester ansässige Kompanie Quarantine oder die argentinische Autorin und Regisseurin Lola Arias haben in ihrer Arbeit mit »ExpertInnen des Alltags« (Rimini Protokoll) sehr spezifische und zugleich unterschiedliche Dramaturgien der Fürsorge entwickelt, denen es nicht selten gelingt, sowohl den Bedürfnissen der DarstellerInnen als auch den künstlerischen Ansprüchen der Aufführung gerecht zu werden. Wesentlich für den weltweiten Erfolg eines solchen »dokumentarischen Theaters« ist, dass es sich weder auf das letztlich überschaubare Reservoire verfügbarer oder neu geschriebener Dramenfiguren noch auf die PerformerInnen des Gleichaltrigentheaters der meisten anderen freien TheatermacherInnen beschränken muss. Dass es Leute vorstellt, die man selten so sieht oder nie. Dass es sie – anders als Reality TV und Talkshows – nicht in realen oder künstlichen Ausnahmezuständen präsentiert, sondern unaufgeregt und selbstbewusst. Und dass es kein Geheimnis daraus macht, dass diese Authentizität der Menschen auf der Bühne auch nur eine Rolle ist, wenn auch die Rolle ihres Lebens.

Solche Spiele der (Selbst-)Repräsentation werden vom Theater HORA weiter zugespitzt. Das Schweizer Ensemble ist – neben beispielsweise den Berliner Theatern Thikwa und RambaZamba, dem australischen Back to Back Theatre, den französischen Ensembles Création Ephémère und Oiseau-Mouche, dem belgischen Theater Stap, dem polnischen Teatr 21 und der niederländischen Gruppe Maatwerk – eine der bekanntesten und ältesten Kompanien mit kognitiv beeinträchtigten, meist vom Down-Syndrom betroffenen SchauspielerInnen. Dem üblichen Bild der Gesellschaft setzt sie eines entgegen, in dem jene sich Raum nehmen, die für »nicht normal« gehalten werden – die in der Regel unsichtbar sind, die als unproduktiv, unkultiviert, vielleicht sogar unheimlich gelten. Die Kraft dieses Gegenbildes liegt gerade darin, dass es fragil und fragmentiert bleibt. Zu große Eindeutigkeit wird permanent von den PerformerInnen mit ihren starken, oft unberechenbaren Persönlichkeiten konterkariert.

Als Gastregisseur machte der französische Choreograf Jérôme Bel in Disabled Theater (2012) die eigene heikle Position deutlich, indem er seine strikten Regieanweisungen während der Performance unmissverständlich auf der Bühne verkünden ließ und so die implizite Hierarchie der Produktion betonte. Zugleich aber erfüllten die PerformerInnen diese Aufgaben wie auch immer sie selbst es wollten (also zuweilen gar nicht). Wie sehr die dominierenden Spielregeln des Theaters fortwährend missachtet wurden, irritierte und beeindruckte Bel, dessen Ruf doch selbst auf Regelverletzung beruht:

Als ich anfing, mit ihnen zu arbeiten, bekam ich beinah einen Kollaps. Und dann verstand ich plötzlich, dass da noch viele dieser Theaterregeln in mir arbeiteten, die ich selbst nicht in Frage stellte. Lärm hinter der Bühne zum Beispiel. Anfangs bin ich dann auf der Bühne herumgesprungen und hab rumgeschrien. Aber dann hab ich verstanden, dass dieser kleine Vorfall nur meine eigenen Regeln entlarvt hat. Ich habe noch immer viel zu tun.22

Kontrollsucht trifft auf Subversion, konzeptuelle Kunst auf camp. Christoph Schlingensief erklärte im Kontext seiner Freakstars 3000 (2002), einer Fernseh-Talentshow mit geistig und körperlich behinderten TeilnehmerInnen, von denen viele, wie Werner Brecht, Mario Garzaner, Helga Stöwhase oder Achim von Paczensky, bereits vorher in seinen Filmen oder Theaterarbeiten zu sehen waren: »Der Freak ist die Situation selbst, die uns zur Unterscheidung zwingt, was normal ist und was nicht.«23

Sichtlich inspiriert von poststrukturalistischen Theorien rebellieren all solche Ansätze auf sehr unterschiedliche Weise gegen die Hegemonie des Textes mit einer neuen Komplexität der Theaterzeichen: Wo der Text nicht mehr zwangsläufig das erste und das letzte Wort hat, kann alles in den Vordergrund rücken: Bewegung, Raum, Ton, Licht, die Präsenz der PerformerInnen, das Publikum …

Statt eine Situation (künstlich) zu repräsentieren, also eine andere Wirklichkeit zu zeigen, um sie zu kritisieren, geht es darum, eine eigene (echte) Situation in der Kopräsenz des Publikums zu erzeugen, wie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann in Postdramatisches Theater schreibt: »Im Unterschied zu allen Künsten des Objekts und der medialen Vermittlung findet hier [im Theater] sowohl der ästhetische Akt selbst (das Spiel), als auch der Akt der Rezeption (der Theaterbesuch) als reales Tun in einem Hier und Jetzt statt. […] Emission und Rezeption der Zeichen und Signale finden zugleich statt24

Der Fokus auf Medium und Form des Theaters selbst, das Misstrauen gegenüber geschlossenen Narrationen und psychologischer Kausalität sowie der Wunsch, individuelle Erfahrungen zu ermöglichen, in denen alle Zuschauenden ihre eigenen Wege der Interpretation finden müssen, hatte auch Auswirkungen auf das Konzept des Politischen im Theater. Dieses wurde nun vor allem im »Wie« seiner Repräsentation gesucht, nicht mehr im »Was« seiner konkreten politischen Inhalte. Philosophen wie Jacques Rancière boten eine breite theoretische Basis dafür, das Medium Theater durch die Analyse des »ästhetischen Regimes« und der Rolle des Betrachters als »emanzipiertem Zuschauer« neu zu denken.25

Auf den oft vereinfachenden oder moralisierenden Gebrauch von Begriffen wie Wahrheit, Realität oder auch Politik reagierten postdramatisches Theater und konzeptueller Tanz konsequent mit einem komplexen Spiel von Schichten, Ambiguitäten und Hinterfragungen. So eröffneten sie neue Perspektiven und künstlerische Möglichkeiten, die schließlich auch das Feld des dramatischen Theaters stark beeinflussten.

Es war ein wichtiger Impuls, ZuschauerInnen auf diese Weise mit ihren eigenen Erfahrungen als Ko-AutorInnen ernst zu nehmen, aber er hatte auch einen signifikanten Nebeneffekt: Das Publikum wurde weniger als ein mögliches Kollektiv denn als eine Zusammenkunft von Individuen gesehen. Postdramatisches Theater und konzeptueller Tanz – wieder einmal in Korrespondenz mit den gesellschaftlichen Veränderungen – schufen BetrachterInnen, die sich zwar von der aufgezwungenen Imagination der RegisseurInnen emanzipierten, aber auch dem idealen neoliberalen Subjekt ähnlicher wurden, das seine Individualität vor allem in aktivem Konsum sucht.

Die Politik und das Politische

Wenn in den letzten Jahren vom politischen Theater die Rede ist, wird meist auf die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen verwiesen. Eine Differenzierung, die nicht neu ist, aber besonders seit dem Ende vermeintlicher Gewissheiten nach dem Fall der Mauer deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Das Zerbröseln der ideologischen Fundamente in Ost und West beantworten nach und nach französische Philosophen wie Jean-Luc Nancy, Alain Badiou, Jacques Rancière oder Claude Lefort (aber auch die Nicht-Franzosen Giorgio Agamben, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) mit – wie der Politologe Oliver Marchart schreibt – »postfundamentalistischen« Theorien, bei denen das Politische eine zentrale Rolle spielt.

Die Politik umfasst hier, mit leicht unterschiedlichen Grenzziehungen der verschiedenen Ansätze, das konkrete Feld staatlicher Funktionen und staatlichen Handelns (Parteien, Regierung etc.). Es ist die Politik des Alltags, der Politiker, der Parlamentsroutinen. Ihr Problem: Sie bleibt letztlich immer pragmatisch, bohrt bestenfalls langsam harte Bretter, lässt aber kaum Raum für Utopien, für die großen Fragen. Bei den TheoretikerInnen des Politischen hat die Politik deshalb in der Regel keinen guten Ruf.

Das Politische hingegen ist schwerer zu umreißen. In seiner landläufigen Verwendung verweist es – eher diffus – auf die Dimension des Sozialen, zuweilen des Kollektiven, auf die Sphäre, in der sich auch politische Bewegungen manifestieren – von Occupy Wall Street bis zu den Gelbwesten in Frankreich. Das Politische bezeichnet also das Nicht-pragmatische, das Ungefilterte, Direkte: »Sich auf das Politische und nicht auf die Politik beziehen […] heißt von allem sprechen, was ein Gemeinwesen jenseits unmittelbarer parteilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandelns und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert«, schreibt der Politologe Pierre Rosanvallon.26

Grundlegender ist die Verwendung des Begriffs im Denken obengenannter postfundamentalistischer TheoretikerInnen – wobei das Wort »grundlegend« offensichtlich auf ein Paradox verweist. Denn in der Tat ist das Politische so etwas wie die Basis in einem Denken, in dem es keine verlässlichen Fundamente mehr gibt: Das Politische ist das sich immer verändernde, unsichere, kontingente Fundament der Politik. Es ist das, was die Politik immer hinterfragt – und nur so eine lebendige Demokratie ermöglicht. Ohne Ordnung (und damit eine Begründung) kann Gesellschaft nicht existieren. Aber ihre Ordnung ist nicht endgültig, muss immer neu verhandelt werden. Ihre Wahrheiten sind Arbeitsthesen, worauf auch Derridas erwähntes Konzept einer Demokratie »im Kommen« verweist.27

Diese Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen ist wichtig und hilfreich. Sie zeigt die innere Widersprüchlichkeit politischen Agierens – und dass Demokratie permanent neu errungen, neu gegründet werden muss. Indem sie außerdem die Möglichkeit politischer Imagination, eines alternativen Denkens und Handelns eröffnet, ermöglicht sie nicht nur, die zahlreichen außerparlamentarischen Bewegungen weltweit zu verstehen, sondern auch das besondere Potential von Kunst als politischem Raum zu fassen.

Aber der Fokus auf das Politische birgt auch das Risiko eines reinen »Philosophismus«, wie Marchart es nennt: »Der Glaube an ein ›reines‹ Politisches wird dann zur intellektuellen Spielart einer destruktiven Politikverdrossenheit, statt produktives eigenes Handeln zu ermutigen.« Dass sich das durchaus auch auf die Kultur übertragen lässt, merkt Marchart an anderer Stelle selbst an: »Eine vergleichbare Operation findet sich übrigens im Kunstdiskurs, wenn behauptet wird, alle Kunst sei an sich schon politisch, um damit letztlich nichts anderes zu bezwecken, als die Delegitimierung tatsächlich politischer Kunst.«28

Tatsächlich wurde eine Generation von PhilosophInnen, die ihre Theorien direkt aus ihren eigenen politischen Erfahrungen und Engagements hergeleitet hatte (Michel Foucault kämpfte mit der Groupe d’information sur les prisons für Menschenrechte in Gefängnissen, Alain Badiou engagierte sich in der Organisation politique für Migration und Asylpolitik, Jacques Rancière war kurzzeitig Mitglied einer Maoistengruppe – um nur einige zu nennen), nach und nach von PhilosophInnen (und KünstlerInnen, DramaturgInnen, KuratorInnen etc.) abgelöst, die auf deren Überlegungen aufbauten und sie weiter abstrahierten – aber allzu oft, ohne sie erneut an die eigene gegenwärtige, konkrete Realität rückzubinden.

Und so hat sich auch die Theaterwelt weitgehend daran gewöhnt, philosophische Theorien und Kunstwerke politisch zu nennen, selbst wenn sie nur auf Ideen beruhen, die bereits von den konkreten politischen Impulsen, die sie entzündeten, abstrahiert wurden. Ein homöopathisches Secondhand-Verständnis politischer Philosophie und Kunst ist zur Grundlinie vieler zeitgenössischer kultureller Diskurse geworden.

Dabei manövriert uns das konstante Bewusstsein um die Komplexität von Begriffen wie Wahrheit, Realität oder auch Politik nicht selten in eine Sackgasse: Entweder begreifen und beschreiben wir die Welt zu einfach oder zu komplex, zu populistisch oder zu eremitisch. Wir schließen zu viel ein oder zu viel aus. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo das nötige Bewusstsein darüber, dass alles kontingent ist, zu oft zur Entschuldigung für intellektuellen Relativismus geworden ist.

Besonders die Schriften von Jacques Rancière werden seit den späten 1990ern gern hierfür in Stellung gebracht. Seine Skepsis gegenüber jedem klaren politischen Statement in der Kunst und sein starkes Vertrauen in die Kraft ihrer »Unbestimmtheit«29 halfen, den Weg für sehr weite Definitionen des Politischen zu bereiten. Seine These, Kunst sei vor allem widerständig, indem sie »die Ordnung der Wahrnehmung durchbricht und die sinnlichen Hierarchien erschüttert«30, wurde vielfach zum Blankoscheck einer Kunst, die zwar (oft auch nur vermeintlich) Sehgewohnheiten irritiert, aber ansonsten kein politisches Anliegen erkennen lässt.

Das Diktum Hans-Thies Lehmanns, »im Wie der Darstellung« sei »das Politische, die politische Wirkung, die politische Substanz [des Theaters] zu suchen«,31 wird von derzeitigen politisch engagierten TheatermacherInnen variiert und ergänzt: Die politische Substanz des Theaters liegt darin, das Was und das Wie der Darstellung in Einklang zu bringen. Denn so groß das politische Potential einer Ästhetik der Irritation und der veränderten Wahrnehmungen auch ist – die Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand ersetzt sie nicht.

Wissend, dass die Frage nach Repräsentation nie eine rein formale ist, haben TheatermacherInnen in jüngster Zeit zunehmend versucht, ein selbstreflexives Bewusstsein für Fragen der Form zu bewahren und es zugleich für konkrete politische Inhalte zu nutzen – und so Komplexität und Klarheit im Wechselspiel von Ästhetik und Ethik künstlerisch miteinander zu verbinden.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 250,47 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
161 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783895815317
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают