Читать книгу: «Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater», страница 2

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Gearbeitet wird, wo sich Stellen bieten. In Garmisch treten Walter und Otto eine Arbeit an und feiern Wiedersehen mit Alfred, der einen anderen Weg genommen hat. Die Feier wird lang, die drei gehen am Samstag spät zu Bett. Im Glauben, es sei Montagmorgen, tritt die Gruppe am Sonntagnachmittag unter dem Gelächter der Spaziergänger den Weg zur Arbeit an.43 Nach einer Woche wandern die drei weiter: Diese Zeit ist schön. Jeden Sonn- und Feiertag auf die Berge! Unvergesslich, unvergesslich ist ein Aufstieg auf den Krottenkopf zum Sonnenaufgang unter Führung Garmischer Naturfreunde.44 Pünktlich 5 vor 10 Uhr sind die beiden am Treffpunkt. Die Naturfreunde nicht. Warten bis halb elf. Es will sich niemand sehen lassen. Endlich um 11 Uhr haben die Jungen einen aufgegabelt. Es wird halb Mitternacht. Nach Partenkirchen. Um Mitternacht gehen sie auf St. Anton. Sie sind froh, überhaupt jemand erwischt zu haben, der mit ihnen geht. Sie gehen in die dunkle Nacht hinaus, einem unbekannten Ziele zu. Eine Laterne wird angezündet. Über ihnen funkelt der klare Nachthimmel. Im Tal leuchten die Lichter von Garmisch und in der Ferne liegt eine dunstig kohlschwarze Masse, die Berge. Nach der Wanderung legen sich die Jungen um 2 Uhr nachmittags schlafen, um halb sechs abends aufzuwachen. Sie meinen es sei 6 Uhr morgens. Um eine Erfahrung reicher, bleibt Otto misstrauisch und geht, um sich zu überzeugen. Auf der Straße trifft er Walter, der mit dem Leimtopf in furchtbarer Hast auf die Arbeit rennt – am Sonntag.

Die beiden gehen Klettern. Otto fasst einen Steinvorsprung, um sich hinaufzuschwingen, aber wie er ihn fasst, fällt er herunter, ein zweiter stürzt hinterher. Er ruft nach unten „Walter duck dich aber schnaks! Geh auf die Seite!“ Von unten ruft Walter: „Was hast denn Du?“ „Gottverdammich ich kann sie kaum halten!“ Kaum ist Walter außer Schussweite, stürzen die Steine an ihm vorbei: „Wie wäre es geworden, wenn ich nicht fest gewesen wäre? Gewiss nicht gut für alle beide“, meint Otto.45 Walter hat genügend zu tun, um den Gesteinen Steinen aus dem Wege zu gehen. Die beiden werden vorsichtiger.

„Höllentalklamm, Wachenstein, Kramer und Loisachtal, Eibsee und all die anderen Perlen einer herrlichen Landschaft, gesehen mit jungen, schönheitsdurstigen Augen, ein Erleben, nicht durchreist, sondern erarbeitet, erwandert. Ein achtzehnjähriger Mensch kennt noch nicht die ganze Härte des Lebens. Ihm steht noch viel Sonne im Augenwinkel, und genügend Muskelspannung ist da, um heranzuholen, was nur irgend möglich ist. Große Pläne werden geschmiedet. In Turin ist die Weltausstellung. Wenn wir nicht von Venedig aus nach Ägypten können, dann über die oberitalienischen Seen nach Mailand und Turin.“ „Venedig, Gardasee, Mailand. Wenn dann noch das Nötige vorhanden ist, geht’s von hier nach Turin, in die Ausstellung, und sollten wir dann noch nicht den Mut verlohren [sic] haben, an die Riviera.“46

Über Mittenwald zieht die Gruppe nach Innsbruck weiter. „In Scharnitz Passkontrolle, Handwerksburschen werden mit besonderer Liebe beaugscheinigt. Doch unsere Papiere sind klar, und der vorschriftsmäßige Reisegroschen ist auch da“47. Doch die drei müssen sich trennen, da Alfred als Ausgehobener zum Militär keine Ausreiseerlaubnis hat. Ziel ist der Brenner. Dann wird der Jaufenpass überstiegen. Gestern noch im Norden, heute im Lande des Weines und südlicher Flora. Ein fast zu schroffer Übergang. Meran. Durchs breite, weinfröhliche Etschtal nach Bozen, zum Denkmal Walthers von der Vogelweide, und nun durchs romantische Eggental auf den Karerpass mit den beiderseitig bizarren Dolomitenbergen. Über Cavalese zurück ins Etschtal und nach Trient. In Trient wird Reisegeld vom Österreichischen Metallarbeiterverband48 abgehoben und die Kasse saniert. Über Pergine ins Suganertal. Trotz der Gemeinsamkeiten gibt es Spannungen. Otto hat eine Aussprache mit Walter und meint, er wolle von Venedig aus nach Wien, „wenn [sich] nicht bis dahin die Schlaferei und das Fressen […] ändert. […] So schön auch die Walzerei hier sein mag […], sobald die Walzbrüder nicht richtig harmonieren, [ist] es besser, wenn jeder seiner Wege geht“49. An der italienischen Grenze werden die beiden herzhaft gefilzt und mit einem Fußtritt ins Heilige Römische Reich eingelassen. Dann Bassano und per Eisenbahn in die Poebene.

Der weite, unbegrenzte Blick über diesen gesegneten Landstrich tut gut nach dem ewig begrenzten Sehen in den Bergen. Bis Mestre war, als ob man durch einen wohlbestellten Garten fahren würde. Jetzt liegt jenseits der Lagunenbrücke Venedig vor ihnen. Ein Traum erfüllt sich. Als sie den Bahnhof verlassen, müssen sie sich auf die Bahnhofstreppe setzen, so ein verwirrendes Bild tut sich auf. Der Süden mit seinen glänzenden Farben, dem leichthin trällernden Leben, dem Stimmengewirr sich anbietender Führer, Fruchtverkäufer, randalierender Bengel, stöckelschuhbehackter tändelnder Damen und kein Wagen – wie traumhaft wirkt das alles auf den Fremdling.

„Vor dem Bahnhof der Gondelverkehr. Statt fester Straßen‚ Wasser. Nicht im kühnsten Spintisieren als Junge habe ich geglaubt, eines Tages auf der Bahnhofstreppe in Venedig zu sitzen. Jetzt sitze ich da, fest und sicher. Aber alles Staunen weicht kühler Überlegung, und wir suchen mit Hilfe der Polizisten unter Gebrauch lebhaftester Gebärdensprache das Asyl für unbemittelte Reisende. Dort angekommen, wirft man uns kurzerhand […] hinaus, mit dem Bescheid, am Abend wiederzukommen. Zwei Tage Venedig. Wie eine unvergleichliche Kulturschatzkammer, wie ein Museum ist diese schwebende, schwimmende Stadt. Nach einem fröhlichen Nachmittag im Volksbad auf dem Lido geht die Reise weiter nach Padua. Dann per pedes apostolorum nach Vicenza, Verona.“50 Aus Italien schickt Walter der Familie in Leipzig Briefe über die „herrlichen Kunstwerke“, die er mit Otto besichtigt hat.51 „Die schreckliche Hitze macht uns mürbe, und statt nach Mailand und Turin marschieren wir ins Etschtal, nach Torbole und Riva.

Der Gardasee mit seinen zwischen den Uferfelsen zerspritzenden Wellen zaubert die schönsten Farbenspiele. In Riva sollen wir, wie in fast allen besuchten Orten des größten Reiseverkehrs, ein ziemlich teures Nachtquartier beziehen. Nach mancherlei vergeblichem Suchen lassen wir uns … nach einigem Hin und Her von der Hochlöblichen Polizei auf dem Bürgermeisteramt in Schutzhaft nehmen. Doch wie elend wird uns, als man von außen die Zelle verriegelt und wir uns im Dustern auf der Holzpritsche, nur mit Hemd, Hose und Strümpfen bekleidet, zur Ruhe legen. Umso interessanter wird der Morgen. In ein wahrhaft internationales Gasthaus hat man uns gesteckt.

Erfahrene Hände haben mit philosophischen Sprüchen das Leid und die Freuden der Landstraße in bester Kundensprache an die Wände gezaubert. Die Polente kommt dabei nicht zu kurz. Es dauert lange genug, ehe geöffnet wird. Mit dem Segen, uns auf keinen Fall noch einmal sehen zu lassen, dürfen wir uns trollen. Selten hat die Sonne so schön geschienen wie an diesem Morgen“52. Sie ziehen weiter, sehen zum ersten Mal einen „breitströmigen“ Gletscher, und machen neben den spektakulären Naturerlebnissen erneut unschöne Erfahrungen. „Das Engadin ist handwerksburschen-feindlich, und wir trachten, auf dem schnellsten Wege über den Albulapass ins Tal des Oberrheins zu kommen.

Dann wieder auf den Gotthard hinauf nach Andermatt und über die vielgenannte Sankt-Gotthard-Straße mit der Teufelsbrücke hinunter zum Tell Denkmal in Altdorf. An und auf dem Vierwaldstätter See erleben wir recht lebendig die Geschichte Tells, die Tellkapelle, den Schillerstein und den Rütli.“53 Der Weg ist anstrengend und Otto meint hämisch: „Walter [tut] gar tüchtig auf die sakramentschen Berge schimpfen.“54 Über Stans nach Luzern. Hier wird fleißig Arbeit gesucht, jedoch bekommt nur Walter Beschäftigung in Sempach bei Luzern.

Metallarbeiter sind ausreichend vorhanden und Otto ist überflüssig. Die beiden schlafen im Asyl de nuit,55 bevor sie sich am 16. August trennen.56 Otto zieht es nach Rom. Walter arbeitet ab Januar ein halbes Jahr bei der Tischlerei Gebr. Helfenstein in Sempach und schließt sich der sozialistischen Jugendgruppe unter Willi Münzenberg und Jacob Herzog an. Kurz vor Weihnachten 1911 schreibt er aus Sempach, er studiere den Winter über drei Bände der „Geologie der Schweiz“57.

Ab Frühjahr 1912 wandert Walter alleine weiter. Im April arbeitet er bei der Schweizer Schreinerei Fuchs an der Werkbank. Nach sechs Wochen ertappt Fuchs ihn am 25. Mai dabei, wie er auf einem Kasten steht und politische Artikel vorliest. Er wird hinausgeworfen und zieht kurzerhand nach Vorarlberg weiter.58 Vom Vierwaldstädter See wandert er Anfang Juni über Interlaken und Genf nach Zürich. Bei strömendem Regen trifft er in Zürich ein. Er schreibt, es sei ihm auf der Walz so gut wie jetzt noch nie gegangen. Er plant, die Schweiz in Richtung Rhein zu verlassen. Die Arbeiterjugend bittet er um die Adressen jener, die in Kontakt bleiben wollen.59 Über Schaffhausen wandert er rheinaufwärts und findet einen Monat später in der Möbelfabrik Neckargemünd in der Mühlgasse Arbeit. Er wohnt für 3 Mark pro Woche in der Dachkammer der Witwe Kohl in der Hauptstraße. Abends trifft er sich mit den Gesellen in der Wirtschaft „Zum Pflug“ und der Stammkneipe „Ochsen“, diskutiert über Politik und erzählt von seiner Freundin Martha. Er erinnert sich wie er sie bei einer Landwanderung traf.60 Nach vier Wochen wandert er in einem großen Bogen über Köln, Antwerpen, Amsterdam, Bremen, Hamburg und Hannover weiter, bevor er zurück nach Leipzig geht.

Auf allen Stationen besucht er Museen, das Deutsche Museum in München, das Geologische Museum in Genf und die Gemäldesammlungen in Brüssel und Amsterdam.61 Aus Düsseldorf schreibt er am 18. August, dass er bald daheim sei. Auch sein Wandergeselle Otto zieht in Leipzig bei Familie Ulbricht ein. Als Parteifunktionär nimmt Walter ihn ins Volkshaus, zu Reden und Streiks mit.62

Sozialdemokrat

Nach seiner Wanderschaft schließt Walter sich der SPD an und arbeitet als Tischler. Er ist Parteifunktionär, bis er zum Militär einberufen wird. Im Heer ist er als Sozialist aktiv und wird überwacht. Er desertiert, wird festgenommen und bleibt bis Ende des Kriegs in Haft.

Zurück in Leipzig arbeitet der 19-jährige Schreiner ab September wieder bei Hallitzschke & Volkmer, seinem Ausbildungsbetrieb. Er ist auch wieder in der Arbeiterjugend, verteilt in Zwenkau Flugblätter.63 Als Volljähriger tritt Walter von der Arbeiterjugend zur SPD über und besucht ab Dezember ein Dreivierteljahr lang mehrmals in der Woche nach der Arbeit und an Wochenenden die SPD-Parteischule.

Er diskutiert über Wirtschaft und Marxismus,64 liest den ersten Band des Kapitals, Engels, Kautsky und die „Neue Zeit“. Er versucht sich an schwerer geistiger Kost, schreibt „die Geschichte ist […] die Lehrmeisterin des Politikers […] wir können lernen, wie sich der Entwicklungsprozess zu unseren heutigen […] Verhältnissen vollzog“. „Die ökonomische Entwicklung zeigt die Tendenz einer rapiden Konzentration des Kapitals […] und der […] Zunahme der Klasse der Besitzlosen. […] Das Werkzeug zur Wahrung der Gesamtinteressen der herrschenden Klasse ist der Staat. Dies hat zur Folge, dass der Kampf, den das Proletariat […] führt, ein politischer sein muss.“65

Schon nach einem halben Jahr kündigt Walter bei Hallizschke und beginnt Ende April bei der Hofmöbelfabrik Carl Müller & Co. in der Kochstraße zu arbeiten. Aber auch hier bleibt er kaum sechs Wochen und verlässt die Arbeit schon Anfang Juni wieder. Bis November ist Walter ohne Arbeit und widmet sich ganz der Partei. Für sein Engagement wird er zum engsten SPD-Funktionärskreis, der „Korpora“, zugelassen.66 Otto Heyden bleibt vorerst in Leipzig bei Familie Ulbricht in der Alexanderstraße. In Leipzig findet er Arbeit, schließt sich wie Walter dem Jugendbildungsverein an und kommt über Ulbrichts in Kontakt zu den Naturfreunden. Zusammen besuchen Otto und Walter im Juli das Leipziger Gewerkschaftsfest. Otto gefällt es bei Ulbrichts so gut, dass er vergisst, nach Hause zu schreiben. Seine Mutter stichelt mit den Worten „bei Herrn Ulbricht“: „Wir möchten uns doch erlauben anzufragen, ob du noch lebst.“67

Ab November 1912 arbeitet Walter für vier Monate bei der Tischlerei Bruno Börner im Norden Leipzigs. Neben der Arbeit hat er ein großes Netzwerk aus Freunden und Gleichgesinnten. Das Umfeld tut den Jugendlichen gut. Bei der Hochzeit ihres Parteigenossen Alfred Arnholds Ende November treffen sich noch einmal alle Angehörigen und Freunde der Jugendgruppe.68

Im März 1914 verliert Walter seine Arbeit bei der Tischlerei Börner, kann aber schon kaum einen Monat später bei Max Kliem anfangen. Doch auch ohne Arbeit hat Walter genug zu tun. Er arbeitet durchgehend in der Jugendgruppe Alt Leipzig. Freunde erinnern sich an „sein stetes Lächeln, Kennzeichen aller Ulbrichts; er hatte langes blondes Haar, trug damals schon ein Bärtchen und den unvermeidlichen Schillerkragen“69.

Seit seiner Rückkehr liegt „Gewitter“ in der Luft, es riecht nach Krieg. In den schwül-warmen Sommertagen nach dem Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns am 28. Juni 1914 in Sarajewo jagen sich die Ereignisse. Noch im Juli veröffentlicht der SPD-Parteivorstand einen Aufruf gegen den Krieg, der für den jetzt 21-Jährigen von einschneidender Bedeutung ist: „Das klassenbewusste Proletariat […] fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, dass sie ihren Einfluss auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe und falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung zu enthalten. […] Parteigenossen, wir fordern Euch auf, […] den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewussten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. […] Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter missbrauchen.“70

Walter nimmt das Engagement gegen den Krieg ernst. Am nächsten Tag geht er zum Gewerkschaftsfest in Leipzig, das mit 30 000 Teilnehmern zur eindrucksvollen Demonstration gegen den Krieg wird. Die Leipziger SPD jedoch bietet kein einheitliches Bild. Ihre Führung hat sich mit dem Krieg abgefunden. Der nationalliberal-dominierte Rat der Stadt verbietet eine Demonstration der SPD auf dem Messplatz. Kundgebungen sollen unauffällig „im Saale“ stattfinden. Als Kompromiss vereinigen sich 70 000 Demonstranten nach getrennten Kundgebungen in verschiedenen Sälen zum gemeinsamen Demonstrationszug. Am Tag nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien demonstrieren noch einmal 200 000 Menschen in Leipzig. In der Stadt hallen die Sprechchöre gegen den Krieg.71 Von Versammlungsorten wie dem Volkshaus ziehen die Massen die Internationale singend durch die Innenstadt bis zum Augustusplatz. Nach der Demonstration denkt jeder, dass die Regierung es nicht wagen wird, einen Krieg anzufangen.

Die deutsche Kriegserklärung vier Tage später erschüttert Walter. Bestürzt liest er die Plakate zur Mobilmachung und hört die Menschen begeistert brüllen. Die SPD ist verstummt. Ihre Reichstagsfraktion stimmt nach einer flammenden Rede des Kaisers dem Burgfrieden zu und am 4. August 1914 geschlossen für Kriegsanleihen und das Ermächtigungsgesetz. Walter trifft sich am nächsten Tag mit Genossen, um zu besprechen, was zu tun ist. Die Gruppe besteht darauf, dass das Friedensmanifest des Internationalen Sozialistenkongresses nicht Schall und Rauch sein kann. Die Jugendlichen verstehen die Welt nicht mehr. Sie diskutieren über ihre Mitgliedschaft in der SPD und warum Liebknecht trotz seiner Stellungnahme in der Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite gestimmt hat. Nach fünf Monaten bei Kliem ist Walter ab September erneut arbeitslos. Eine andere Arbeit nimmt ihn stärker in Anspruch. Walter verfasst und verbreitet mit anderen Jungfunktionären Flugblätter gegen den Krieg, die die Gruppe in kleiner Auflage per Abziehapparat herstellt. Er schreibt eifrig Manuskripte, aber muss seine Arbeit oft wieder mitnehmen, weil die Gruppe die Flugblätter nicht drucken kann. Nur gelegentlich gelingt es, Setzer und Drucker zu überreden, eine größere Auflage herauszubringen.72 In der Not springen befreundete Stenotypistinnen ein um Flugblätter per Schreibmaschine herzustellen. Als Liebknecht im Dezember alleine offen gegen die Kriegskredite stimmt, geht auch Walter mit anderen Jungfunktionären in Opposition. Die Gruppe vervielfältigt und verbreitet im Volkshaus illegal Liebknechts Rede „Zur Begründung eines Minderheitenvotums gegen die Kriegskredite“73.

Mithilfe der Buchdruckerei Müller in Schkeuditz druckt die Gruppe die Reichstagsrede gegen den Krieg in Leipzig. Bei der nächsten Zusammenkunft beschließt die Gruppe, in der kommenden Funktionärskonferenz Leipzigs zu sprechen. Auf der nächsten Versammlung der Leipziger SPD fordert Walter wie besprochen, die SPD solle jetzt gegen weitere Kriegskredite stimmen. Als er versucht, eine Resolution gegen die Politik des Parteivorstands durchzubringen, greift ihn der Bezirksvorstand scharf an. Die Bezirksleitung verhindert die Abstimmung und lehnt Walters Antrag ab. Drohend fragt die Leitung ihn rhetorisch, warum das Militär ihn noch nicht eingezogen habe. Auf der nächsten Versammlung im Januar 1915 geht Walter weiter auf Konfrontation. Er hält eine leidenschaftliche Rede gegen die Kriegskredite und verlangt vom Vorstand, objektiv über Liebknechts Reichstagsrede zu informieren. Zwar verhindert die Leitung wieder einen Beschluss, aber Walter erhält den Beifall der Versammlung. Die Admiralität erklärt am 4. Februar 1915 die Nordsee zum Kriegsgebiet. Ab jetzt wird jedes in diesem Kriegsgebiet angetroffene feindliche Kauffahrtschiff zerstört werden. Die Gruppe um Walter greift den U-Boot-Krieg in Flugblättern scharf an74 und verbreitet Titel wie „Disziplinbrüche“, „Parteidisziplin“, „Die Welt speit Blut“, „Der Hauptfeind steht im eigenen Lande“, „Wohin geht die Reise“.

Immerhin kehrt Walter zur Arbeit zurück. Er arbeitet wieder als Tischler bei Gustav Heinrich, doch auch diese Stelle hält ihn nicht lange. Walter ist rastlos. Die Partei ist ihm wichtiger.

Jetzt zieht die Armee auch Liebknecht ein. Bis auf sein Auftreten im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus ist ihm damit als Militär jede politische Arbeit verboten. Trotzdem bleibt er die Leitfigur der Friedensbewegung. Im März verbreiten die Jugendlichen, die sich jetzt „Gruppe Liebknecht“ nennen, als Reaktion auf Liebknechts Aushebung ein Flugblatt mit dessen Rede im Preußischen Landtag in größerer Auflage.

Die Partei sieht Walter als Unruhestifter. Um ihn auszuschalten, denunziert die Bezirksleitung unter Lipinski ihn wie schon angedroht bei der Reichswehr als Kriegsgegner. Kurz darauf zieht das Heer ihn im Mai zum Kriegsdienst ein. Zum Abschied schenkt er seiner Freundin Martha den Band „Lebensfreude, Sprüche und Gedichte“ mit der Widmung „Vorwärts sehen, vorwärts streben, keinen Raum der Schwäche geben, Schönem und Edlem allzeit hold! Wahlspruch – Meiner Freundin – Frühjahr 1915 – Walter“75.

Nach einer kurzen Ausbildung in der Prinz Johann Georg Kaserne in Gohlis und auf dem Übungsgelände in Lindenthal kommt Walter als Handwerker beim Wagenbau zur Fuhrpark-Kolonne im Trainbataillon 19. Der Gefreite dient vier Jahre im Königlich Sächsischen 8. Infanterie-Regiment Prinz Johann Georg Nr. 107 in Galizien und Polen, dann in Serbien und Mazedonien. Beim Militär ist er als „Roter“ bekannt. Sein Dienst wirkt auf ihn wie ein Strafbataillon: Es ist ihm „zeitweilig beinahe unmöglich, mit den Kameraden ein auch nur einigermaßen vernünftiges Wort zu reden“76.

Zu Ostern 1916 versammeln sich die oppositionellen SPD-Jungfunktionäre im Vegetarischen Speisehaus „Academia“ in Jena. Die Konferenz findet wegen des Belagerungszustands unter schwierigen Bedingungen statt. Allen Teilnehmern droht für ihre Teilnahme an der Konferenz Haft, Gefängnis, Schutzhaft und Einberufung zum Heer. Zur Tarnung ist die Zusammenkunft als Treffen der Naturfreunde angemeldet. Die Leipziger Delegierten schicken Walter in Briefen Bruchstücke von den Ergebnissen der Konferenz an die Front. Walter deutet in seiner Antwort an, dass er „draußen“ weiterlernt. Auch der Kontakt zur Schweizer sozialistischen Jugend, die er noch von seiner Wanderschaft kennt, besteht weiter. Aus Basel bittet Jacob Herzog die Familie um Neuigkeiten von Walter, da er von ihm keine Nachricht mehr habe und ihm seine Adresse unbekannt sei. Er bittet, ihm nach Erhalt der Karte eine Nachricht zu senden und ihm „die Bücher“ per Post zu schicken.77 Die Regierung ist über die Opposition im Bilde. Im Sommer gibt das Kriegsministerium den Befehl, Aktivisten wie die Familie Ulbricht mundtot zu machen, einzuziehen oder zu verhaften. Auch der Parteivorstand und die Gewerkschaften sind Aktivisten wie Walter feindlich gesonnen.

Auf die Flugblätter reagieren sie unverhohlen: „In anonymen Flugblättern […] wird versucht, Hass und Misstrauen gegen die von den Arbeitern selbst gewählten Vertrauensleute zu säen. […] Es wird der Vorwurf erhoben, dass sie die sozialistischen Grundsätze preisgeben, die Beschlüsse deutscher Parteitage und internationaler Kongresse missachten.“78 Die Parteibürokratie versucht alles, um die Opposition mundtot zu machen. In einem geheimen Rundschreiben an die Leipziger Ortsvereine wird das Auftreten der Jungfunktionäre verurteilt. Genossen wie Willi Langrock, Wolff, Lungwitz und Alwin Herre werden verhaftet und zu Gefängnis verurteilt. Der Kriegsdienst schützt Walter vorerst vor der Haft.

Es gärt in Deutschland. Nach Reformversprechen des Kaisers streiken im April 1917 allein in Berlin 300 000 Menschen79. Auch in Leipzig kommt es zu Streiks, als die Regierung erneut die Brotrationen kürzt. Die Forderu­ngen werden zunehmend politisch. Die Demonstranten verlangen Reformen und Friedensverhandlungen. Als Reaktion greift das Militär hart durch, Betriebe werden besetzt und Streikende an die Front geschickt.

Familie Ulbricht gelingt es, trotz allem feinsinnig zu bleiben. Schwester Hildegard schreibt frei nach Heine zur Maifeier: „Die großen Birnbäume im Garten sind von weißen Blüten schon überschüttet, der die Luft angenehm mit seinem Duft erfüllt. Die kleinen Spatzen können sich gar nicht von den schönen Blüten trennen, sie scheinen […] sehr gut zu schmecken. […] Im Walde ist herrliches Vogelkonzert, dass ein Kuckuck durch seinen unaufhörlichen Ruf noch lebendiger und reizvoller gestaltet. – So wandelten wir […] in Freude – und erwartungsedler Stimmung auf weichen Pfaden unter dem schattigen Laubzelt des Waldes nach Markkleeberg […] auf [die] Frühlingsfeier. Am Abend wanderten wir […] mit fröhlichem Sang durch den dunklen Wald. Über uns funkelten am klarblauen Himmel die kleinen freudigen Sternenkinder wie Diamanten. Und zur Linken floss träge das lehmbraune Wasser der Pleiße. […] In der Woche nach Pfingsten wird endlich mein Bruder hier sein. Meine Freude ist ganz unbeschreiblich.“80

Walters Fronturlaub bleibt kurz, aber er nutzt ihn. Nach seiner Rückkehr an die Front bedankt sich Jacob Herzog aus Zürich bei ihm für dessen Karte, „welche jedoch von der Zensur stark verstümmelt worden sei“. Der Schweizer meint, dass auch seine Ferien bald zu Ende gingen und er selber für das „Vaterland“ wirken müsse.81

Im Juli findet die Reichskonferenz der revolutionären Jugend in Halle statt.82 Walter ist an der Front. Er scheint müde, aber nicht resigniert. Die Genossen um Herzog und Münzenberg versorgen ihn aus Zürich mit Flugblättern. In Mazedonien finden Soldaten in seiner Feldpost Flugblätter. Er hat Glück, das Feldgericht kann ihm nichts nachweisen und es bleibt beim Strafexerzieren. Nun bitten die Behörden um vorsichtige Ermittlungen über die Familie.83 Die Militärzensur fängt eine kriegsmüde Karte aus Mazedonien ab: „Der Geist des preußischen Militarismus verdirbt systematisch den Charakter. Unter diesem System in seiner extremsten Form hause ich jetzt. Was hier an Menschenschinderei geleistet wird, ist unglaublich. Alle Romantik in der Welt des Kismets geht dabei zum Teufel. Habe jetzt zu Homers Werken Zuflucht genommen, die Brust voll Hoffnung auf bessere Zeiten.“84

Per Schreibmaschine notiert der Zensor das gekrakelte Wort für die Akte: „Kismet – im Islam das dem Menschen vermeintlich zugeteilte unabwendbare Schicksal.“

Als die Zensur andere Flugblätter und Briefe abfängt, verhängt die Polizei eine Postkontrolle über die Familie.85 Sie sei dringend verdächtig, aus der Schweiz „revolutionäre Flugschriften nach Deutschland zu schmuggeln. [An die] Familie Ulbricht in Leipzig […] sind bereits mit Kenntnis der hiesigen Dienststelle Flugschriften abgegangen mit dem Titel: ‚Kameraden an der Front! Genossen in Uniform!‘ in denen zum Sturz des ‚Berliner Zaren‘ nach Petersburger Beispiel aufgefordert wird. Neuerdings ist auch mit hiesigem Einverständnis ein Brief an Erich Ulbricht […], in dem unsere innenpolitischen Umstände aufs Schärfste im revolutionären Sinne angegriffen werden, befördert worden“86.

Im Oktober 1917 erkrankt Walter in Mazedonien an Malaria und kommt in Skopje ins Lazarett. Zu Silvester ist er auf Heimaturlaub und feiert mit seiner Mutter bei Freunden in Leipzig Neujahr.87 Die Eltern sind in das Naundörfchen 26 umgezogen, er lernt die neue Wohnung der Familie kennen. Hinter der Hauptfeuerwache am Fleischerplatz stehen meist eingeschossige, dicht aneinandergereihte Häuser, viele mit Fachwerk. Es ist eine Arme-Leute-Gegend.

Die freie Zeit nutzt er, um sich mit der Leipziger Liebknechtgruppe, jetzt Spartakusgruppe genannt, zu treffen, und tritt der sozialistischen USPD bei, die sich als Folge des Streits über die Kriegsfrage von der SPD abgespalten hat. Die Entscheidung ist nicht opportunistisch. Allein seine Mitgliedschaft in USPD und Spartakusgruppe ist Hochverrat. Wer sich engagiert, hat anderes im Blick als ein bürgerliches Dasein. Der SPD-Parteivorstand weist seine Vorstände an, Verhafteten keinen Schutz oder Hilfe zu gewähren.

Verfolgt und von SPD und Gewerkschaften denunziert, muss Walter vorsichtig sein.88 Er weiß, dass er mit Ausgrenzung, Ächtung und Haft rechnen muss. Auch seine Ermordung gehört zu seinen Perspektiven.

In Russland kommt es am 7. November 1917 zum Sturz der provisorischen Regierung durch die kommunistischen Bolschewiki unter Lenin und Trotzki. Bereits drei Wochen später schlägt Trotzki einen Waffenstillstand vor, um die revolutionäre Macht im kriegsmüden Russland zu stabilisieren. Als sich die Unterhändler in Brest-Litowsk treffen, versuchen die Bolschewiken, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen, Zeit zu gewinnen und Stimmung für ihre Revolution zu machen. Was die Aussichten für einen Umsturz durch die deutschen Sozialisten betrifft, ist Moskau aber realistisch. „Als revolutionäre Partei sind die Unabhängigen (USPD) völlig hoffnungslos und untauglich. […] Die Spartakusleute fürchten Verhaftungen, sind hauptsächlich jung, […] sie können nur unter Anleitung arbeiten […], und sie bilden sich ein, dass wenn sie alle Schaltjahre einmal einen Proklamationswisch herausbringen […], dass dies sogar schon ein Übermaß revolutionärer Umtriebe sei.“89

Zurück in Skopje wird Walter aus dem Feldlazarett entlassen und schreibt im Januar 1918 seiner Familie aus Mazedonien. Am 3. März 1918 unterzeichnet die Oberste Heeresleitung in Brest-Litowsk einen harten Friedensvertrag mit Sowjetrussland. Es scheint, als könne Deutschland den Krieg noch gewinnen, sollte die Reichswehr vor dem Eintreffen der Amerikaner einen Durchbruch im Westen erreichen. Um das Ruder noch herumzureißen, beginnt jetzt die deutsche Frühjahrsoffensive im Westen. Auch Walter kommt zur Infanterie an die Westfront. Die Stimmung unter den Soldaten im Zug ist schlecht. Die ersten unter ihnen desertieren schon in Ungarn. In Böhmen kommt es zur Meuterei. Auf einem Halt beschweren sich die Soldaten über schlechtes Essen und schütten ihre Rationen auf den Bahnsteig.

Die Soldaten weigern sich, wieder einzusteigen, bevor es nicht anständiges Essen gibt. Erst als sie Wurst bekommen, kann der Zug weiterfahren. Kurz vor Leipzig desertiert Walter und springt aus dem fahrenden Zug ab. Bis Köln verschwindet die Hälfte des Transports. In Leipzig angekommen, trifft sich Walter mit seinen Freunden von der Spartakusgruppe sowie dem Leipziger USPD-Vorsitzenden und Chefredakteur der Leip­­ziger Volkszeitung Friedrich Seger. Er hört auf dem SPD-Sekretariat von den Gefahren der Desertion und erhält den Rat, zur Truppe zurückzukehren. Nach zwei Wochen meldet er sich als „von der Truppe abgekommen“ bei den Behörden. Vom Militärgericht erhält er darauf drei Monate Gefängnis.

Ungeachtet aller Hoffnungen erlahmt die Offensive im Westen schnell. Die Initiative geht endgültig auf die Entente über, die Niederlage ist besiegelt. Die Moral sinkt auf den Nullpunkt, da das Unternehmen als letzte Anstrengung vor dem Sieg verkauft worden ist.

Die Armee ist jetzt kaum mehr zur Defensive fähig. Die Oberste Heeresleitung wirft die letzten Kräfte an die Front, um den Zusammenbruch zu vermeiden. Auch Walter wird nach vier Wochen Haft nach Belgien eskortiert. Dort drillt ihn die Infanterie auf verschiedenen Übungsplätzen und schickt ihn direkt an die Front. Unterwegs desertiert er, aber die Militärpolizei greift ihn – mit Flugblättern im Gepäck – auf. Wegen Entfernung von der Truppe wandert er in Charleroi zurück in den Arrest. Zu einer Anklage kommt es aber nicht mehr.

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9783985947287
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