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Fee-Christine Aks

Als die Dunkelheit hereinbrach

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung und Vorbemerkung

Anstelle eines Prologs

Teil 1 Uniformen

Teil 2 Kugelhagel

Teil 3 Drohgebärden

Teil 4 Machtspiele

Epilog

Anhang

Wort- und Sacherklärungen

Literaturverzeichnis

Verlorene Jugend (Serie)

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Impressum neobooks

Widmung und Vorbemerkung

Als die Dunkelheit hereinbrach

Ein Roman von Fee-Christine Aks

Copyright © 2012 Fee-Christine AKS

All rights reserved.

ISBN: 1481001078

ISBN-13: 978-1481001076

Für die Freiheit

Vorbemerkung

Diese Geschichte ist frei erfunden, spielt aber vor dem geschichtlichen Hintergrund des Dritten Reiches in den Anfangsjahren 1933/34. Abgesehen von den geschichtlich belegten Persönlichkeiten, sind alle handelnden Personen Phantasiegestalten.

Jegliche Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.

Anstelle eines Prologs

Seit zwei Tagen regiert in Hamburg die NSDAP,mit einer absoluten Mehrheit von sechs Senatoren.

Heute ist das Altonaer Rathaus besetzt worden, Oberbürgermeister Max Brauer (SPD) ist geflohen.

(Altona bei Hamburg, 10. März 1933)

Teil 1 Uniformen

Februar 1933.

Maria geht schnell. Ist sie erst zu Hause, können sie ihr nichts mehr tun. In ihrer Straße sind bestimmt auch schon ein paar von den anderen, Paul und Axel vielleicht. Das wäre gut. Dann wäre sie nicht mehr allein.

Maria geht weiter und wagt nicht sich umzudrehen. Sie geht so schnell, dass sie Seitenstechen bekommt. Aber anhalten kann sie nicht. Sie hat endlich ihre Straße erreicht und wird etwas langsamer.

Vor Nr. 18 spielen Kinder. Maria erkennt Paul. Daneben leuchtet Axels blonder Haarschopf in der Sonne. Erleichtert geht sie zu ihnen hinüber.

„Was ist denn mit dir los?“ fragt Paul, als er sie bemerkt.

Doch Maria schüttelt nur den Kopf.

„Paul hat grade fünf an mich verloren“, berichtet Axel stolz und zeigt die bunten Murmeln. Maria lächelt.

Axel berichtet, mit welcher Geschicklichkeit er die kostbaren kleinen Kugeln gewonnen hat. Er freut sich und strahlt über das ganze Gesicht.

Aber Maria hört nicht zu. Sie muss immer noch an das denken, was ihr heute in der Schule passiert ist. Dass Gunnar im Jungvolk ist, hat sie schon länger gewusst. Sein Vater arbeitet mit ihrem Vater zusammen beim Postamt und schwärmt von den Nazis. Seit Anfang des Jahres ist er Parteimitglied und stolz darauf, zu den Feiern der SA genannten Sturmabteilung geladen zu werden. Kein Wunder also, dass Gunnar zu der Jugendorganisation der Nazis geht. Aber dass auch Dieter Andresen, Kalle Koch und sogar Fritz Mann bei denen mitmachen? Und Hilda und Charlotte sind im Jungmädelbund. Mit den beiden hat sie sich noch nie besonders gut verstanden. Aber Julia ist einmal ihre Freundin gewesen. Und nun will sie nichts mehr von ihr wissen.

„Weil du ‘ne Jüdin bist“, hat sie ihr zugeflüstert.

Susanne hat das gehört und nur gelacht.

„Glaubst du, Maria frisst dich auf oder tut dir sonstwas?“ hat sie gefragt. Julia ist knallrot geworden und hat lange nicht geantwortet.

„Aber die anderen haben doch gesagt, dass die Juden schlecht sind“, hat sie schließlich gesagt.

„Magst du Maria oder magst du sie nicht?“ hat Suse gefragt. Julia hat geschwiegen. Weil Hilda und Charlotte auf sie zu gekommen sind.

„Heute nachmittag ist Schwimmen“, hat Hilda laut zu Julia gesagt, damit es auch alle hören konnten.

„Um vier treffen wir uns vorm Schwimmbad“, hat Hilda mit wichtiger Miene gesagt. „Danach ist noch Spieleabend.“

Julia hat genickt.

Maria weiß, dass sie nur wegen ihres Vaters da ist. Der ist nämlich seit einigen Wochen bei der SA. Anfangs wollte Julia nicht zu den Jungmädeln. Mittlerweile machen ihr die Versammlungen beinahe Spaß. Ihr gefalle bloß diese durchgeplante Ordnung nicht so, hat sie Maria anvertraut.

„Ich geh davon aus, dass du kommst“, hat Hilda noch gesagt und ist mit Charlotte hinüber zu Gunnar Berger und Dieter Andresen gegangen.

Maria weiß, dass Julia das letzte Mal eine Versammlung geschwänzt hat, weil sie mit Susanne und ihr selbst ins Kino gehen wollte. Das hat Hilda ihr sehr übel genommen.

„Ich will da nicht hin“, hat Julia da plötzlich geflüstert, sodass nur Suse und sie es verstehen konnten. „Aber ich muss. Mein Vater will es.“

Einen Moment hat sie geschwiegen und Maria mit ihren großen blauen Augen angesehen. Und dann hat sie noch etwas gesagt, nur zu ihr…

„Wir können nicht mehr zusammen spielen. Mein Vater hat es mir verboten. Weil du ‘ne Jüdin bist.“

Weil ich ‘ne Jüdin bin, denkt Maria traurig. Was ist denn so schlimm daran, Jüdin zu sein? Warum will Julias Vater nicht, dass sie zusammen spielen? Sie tut doch niemandem etwas. Suse spielt doch auch mit ihr. Ihr sei es egal, ob wer Christin, Negerin, Chinesin oder Jüdin ist, hat sie gesagt. „Solange du nett bist und ich dich mag, kannst du meinetwegen sein, was du willst.“

Schade, dass nicht alle so denken.

Maria kennt genug Menschen, die plötzlich einen großen Bogen um ihren Vater machen; nur weil sie erfahren haben, dass er Jude ist. Herr Braun, der im gleichen Haus wie Paul wohnt, ist besonders unfreundlich. Er ist seit zwei Monaten Parteimitglied. Und seit sein Führer Adolf Hitler in Berlin an die Macht gekommen ist, führt Herr Braun sich noch widerlicher auf als vorher.

Maria erinnert sich noch gut an den Tag vor zwei Wochen, an dem der Mann mit dem komischen Schnauzer der neue Reichskanzler geworden ist. Der Vater und die Mutter waren entsetzt. Nun sei es also passiert, haben sie gesagt. Jetzt werde es ernst. Es werde nicht mehr lange dauern, bis die Braunhemden auch in Hamburg und Altona die Regierungspositionen besetzen. Auch die Eltern von Liza, Pauline, Axel und Paul waren sehr ernst an diesem Januartag.

Ganz anders dagegen Herr Braun: In seinem Sonntagsmantel spazierte er die Straße auf und ab. Und traf er zufällig jemanden, so rief er ausgelassen:

„Jetzt wird aufgeräumt! Jetzt wird alles besser!“

Der Vater hat den ganzen Tag in der Küche gesessen und mit sorgenvoller Stirn vor sich hin gebrütet. Abends ist Itzak Giesemann, Lizas Vater zu Besuch gekommen. Sie haben sich leise unterhalten, im Wohnzimmer. Maria hat nicht viel verstehen können, aber zwei Worte sind doch durch die geschlossene Tür gedrungen: Amerika. Freiheit.

„He, ob du mitspielst, hab ich gefragt“, reißt Axels Stimme sie aus ihren trüben Gedanken.

Maria schüttelt den Kopf. Axel zuckt mit den Schultern und eröffnet das neue Spiel. Paul hat einen guten Start und versucht ehrgeizig, sein Eigentum zurückzubekommen.

Maria sitzt daneben und hängt weiter ihren Gedanken nach. Damals war ein schlimmer Tag. Genauso der Tag vor einer Woche, als die Beerdigung eines von den Nazis ermordeten Schlossers stattgefunden hat. Ganz viele Menschen, die gegen die Nazis sind, haben sich zur Beisetzung des Mannes versammelt. Die vermutlich letzte große Demonstration der Linken, hat der Vater dazu gesagt. Wirklich schlimm, was da gerade in Deutschland passiere. Überall machen sich die braunen Uniformen breit und demonstrieren ihre neue Macht. Es ist wieder so schlimm wie im letzten Jahr, als die Partei der Nazis im benachbarten Hamburg mit über zweihundertdreißigtausend Stimmen gewählt wurde.

Aber heute war es beinah noch schlimmer, denkt Maria. Ein kalter Schauer fährt ihr den Rücken hinunter, als sie an die große Pause zurückdenkt. Wie Gunnar zu Johanna ging und an ihr herumschnüffelte. Juden erkennt man am Geruch, hat er dann gesagt.

Hilda und Charlotte haben gelacht. Ebenso Dieter und Kalle. Julia und Fritz haben nicht gelacht, nur schweigend dagestanden haben sie.

Wie Suse sich dann vor Gunnar aufbaute und ihn mit finsterem Blick anstarrte. Du Schwein, hat Suse gezischt und vor Gunnar ausgespuckt. Der stand da, unfähig sich zu rühren. Suse wartete gar nicht ab, nahm Johanna und sie, Maria, an der Hand und zog sie weg.

In der nächsten Stunde spielte Gunnar Suse dann einen Zettel zu: Verräterin! stand darauf. Mit Vaterlandsverrätern und Judenfreunden machen wir kurzen Prozess. Suse knüllte den Zettel betont gelassen zusammen und warf ihn in den Papierkorb.

In der Pause gerieten Suse und Gunnar wieder aneinander.

„Sieh dich vor!“ zischte Gunnar. „Wir machen dich kalt.“

Aber Suse lachte nur. Daraufhin zogen Dieter Andresen und Kalle Koch die kleine Johanna am Zopf, rissen ihr die Zopfspange ab und warfen sie einander zu, sodass Johanna sie nicht fangen konnte. Johanna fing an zu weinen. Hilda und Charlotte fingen an, sie zu beschimpfen. Miststück, Parasit, Ratte und Judensau und lauter solche Sachen.

Da schrie Suse plötzlich:

„Nazischweine! Verdammte braune Schweine!“

Sie hörte erst auf zu schreien, als Gunnar sie zu Boden stieß. Er trat sie in den Magen und schlug auf sie ein. Suse schrie immer weiter, aber jetzt vor Schmerz. Maria versuchte ihr zu helfen, trat, kratzte und schlug Gunnar.

Doch da mischten sich Dieter Andresen und Kalle Koch mit ein, und auch Hilda und Charlotte kamen dazu. Schließlich hielten Dieter und Hilda Suse fest, während Gunnar wütend weiter auf sie einschlug. Maria hat nur zusehen können, denn sie selbst wurde von Kalle und Charlotte im Schach gehalten.

„Sag, dass du’s zurück nimmst!“ schrie Gunnar.

Suse schwieg. Stumm liefen ihr die Tränen über die Wangen. Ob vor Schmerz oder Wut, Maria hat es nicht gewusst. Denn Suse sagte kein Wort, sondern funkelte Gunnar nur böse an. Sie steckte Schlag für Schlag und Tritt für Tritt ein, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Fritz und Julia standen daneben, unfähig sich zu rühren. Suse sagte immer noch nichts. Gunnar gab es auf und wandte sich schließlich ihr, Maria, zu.

„Und du bist auch so ‘ne Verräterin?“

Drohend trat er auf sie zu.

„Oder was biste?“

Er hob die Faust.

„Tu ihr nichts!“ schrie da Fritz und sprang zwischen sie.

„So?“ fauchte Gunnar. „Du beschützt sie? Die miese Judensau?“

Fritz erstarrte.

„Maria?“ flüsterte er ungläubig.

„... ist ‘ne Judensau“, vollendete Gunnar.

Fritz sah sie traurig an. Er konnte es nicht glauben. Gunnar aber lachte nur und stieß sie weg.

„Dich machen wir auch noch kalt“, zischte er ihr zu.

Es läutete zur letzten Stunde.

Maria stützte Suse. Furchtbar sah sie aus: ihre Knie waren aufgerissen, ein Auge zugeschwollen, die Nase blutete. Mit letzter Kraft schleppte sie sich ins Klassenzimmer. Frau Kleinert sagte nichts und schien die Verwundete gar nicht zu bemerken.

Nach Schulschluss beeilten sie sich, vom Schulgelände zu kommen. Maria erinnert sich, wie sie neben Suse her lief, die es nicht weit bis zum Bus hatte. Dann hat sie allein weiter gemusst.

Als der Bus abfuhr, hat sie Gunnar, Kalle, Dieter und Fritz um die Ecke biegen sehen. Da lief sie los. So schnell ist sie noch nie in ihrem Leben gerannt.

Was wohl passiert wäre, wenn die sie erwischt hätten...

Maria wird abwechselnd heiß und kalt. Wie froh ist sie gewesen, als sie Axel und Paul sah! Die hätten sie notfalls beschützt. Aber Gunnar ist ihr gar nicht nachgelaufen. Die Straße ist leer, abgesehen von Axel und Paul ist niemand zu sehen.

Jetzt ist sie in Sicherheit. Aber was ist morgen?

Sie wissen, dass sie Jüdin ist. Und Gunnar hat ihr gedroht. Er will sie kalt machen. Heißt das töten? Was hat sie ihm denn getan?

Ist es etwa nur, weil sie Jüdin ist?

*****

„Was war denn gestern mit dir los?“ fragt der kleine Paul.

Auch Axel sieht besorgt aus.

Sie sind auf dem Weg zur Schule. Heute ist auch Pauline wieder dabei. Sie hat die Grippe endlich überstanden. Fröhlich und munter geht sie neben der kleinen Liza Giesemann her. Sie hüpft fast vor Freude, endlich wieder gesund zu sein und nach draußen zu dürfen.

Paul wiederholt seine Frage. Aber Maria schüttelt nur den Kopf.

Das würde er doch nicht verstehen. Zwar ist er für seine neun Jahre ein sehr helles Köpfchen, aber er ist eben kein Jude. Dafür ist sein Vater Kommunist. Axels Vater ist Sozialist. Doch Max Kirchhoff und Bernd Sommer sind trotz ihrer etwas unterschiedlichen Gesinnung gute Freunde. Sie sind auch immer freundlich und höflich zu Juden.

Maria weiß, dass ihr Vater die beiden Männer von gegenüber sehr gern hat. Auch mit Lizas und Paulines Eltern versteht der Vater sich gut. Aber die gehören ja auch zu ihnen, sind ebenfalls Juden. Das verbindet.

„War irgendwer böse zu dir?“ fragt Axel.

Besorgt blickt er zu ihr hoch. Er ist mit seinen acht Jahren nicht gerade klein, aber doch ebenso wie Paul etwas mehr als einen Kopf kleiner als sie. Pauline reicht ihr bis zur Augenbraue; Liza ist noch kleiner als Paul.

Trotzdem, weiß Maria, kann sie immer auf die Freunde zählen. Axel und Paul würden jede von ihnen Mädchen wie die Löwen verteidigen.

Axel fragt nochmal, da Maria wieder nicht geantwortet hat.

Maria sieht lange in sein niedliches Gesicht, das von dem schönen blonden Haar eingerahmt wird. Die blauen Augen blicken besorgt. Gern würde der kleine Junge ihr helfen. Das spürt sie. Die drei anderen ebenso. Schließlich nickt Maria etwas verspätet.

„Wer?“ fragt Axel sofort.

Maria zögert, sagt dann aber doch: „Gunnar Berger.“

„Der vom Volk?“ vergewissert sich Paul.

Axel und er sind beide nicht im Jungvolk; ihre Väter wollen es nicht, und die beiden mögen sowieso diese militärische Disziplin und dieses ganze Getue von wegen Führer und so nicht. Außerdem ist ihnen allen beigebracht worden, dass die Nazis gefährlich sind.

„Ja, der“, antwortet Maria.

Axel ballt die Fäuste. Man sieht ihm an, dass er den älteren Jungen sofort zu Kleinholz machen würde, stände dieser jetzt vor ihm.

„Was hat er denn gemacht?“ will die kleine Liza wissen.

Maria sieht sie an und schweigt. Sie bemerkt, dass Pauline ihren Blick sucht. Sie sieht sie fest an und senkt dann den Kopf. Sie hat verstanden. Maria weiß, dass die Freundin vor ein paar Wochen von Hitlerjungen ebenso beschimpft und getreten wurde, wie Gunnar es mit Suse getan hat.

Sie haben das Schultor erreicht. Maria schickt einen schnellen Blick in die Runde. Gunnar ist nirgendwo zu sehen.

Axel geht mit Liza in seine Klasse, Paul in seine und Maria zusammen mit Pauline in ihre. Gunnar, Dieter und Kalle sind noch nicht da. Julia sitzt bereits auf ihrem Platz. Hilda und Charlotte sind gerade eingetroffen, Johanna kommt eben zur Tür herein.

„Da wären wir ja wieder vollzählig“, ruft Hilda herüber.

Sie hat Pauline gesehen, die wieder auf ihrem Platz neben Johanna sitzt.

Fritz kommt herein. Er sieht kurz zu Maria hinüber und setzt sich dann aber ohne ein Wort auf seinen Platz vor Hilda und Charlotte.

Als nächstes betritt Gunnar den Klassenraum, dicht gefolgt von Dieter und Kalle. Sie tragen alle drei ihre Jungvolkmützen mit dem Abzeichen.

„Die Rattenbrut hat Zuwachs bekommen“, lacht Gunnar böse. Er weiß also, dass auch Pauline Jüdin ist, oder vermutet es.

Die Lehrerin kommt und beginnt den Unterricht. Sie erzählt von dem Stammbaum des Menschen und von der Anpassungsfähigkeit der verschiedenen Arten an die Natur. Dass die Neger dunkle Haut haben, um vor der Sonne geschützt zu sein.

Plötzlich unterbricht Gunnar sie, steht auf und sagt laut:

„Sie haben vergessen, von den Juden zu erzählen. Wir Deutschen sind die einzigen Herrenmenschen. Alle anderen müssen uns gehorchen; denn wir sind dazu ausersehen, über alle zu herrschen. Sie müssen für uns alles machen, was wir wollen.“

Die Lehrerin ist blass geworden.

„Setz dich bitte“, sagt sie.

Aber Gunnar bleibt stehen, fährt fort, von der „herrlichen nordischen Rasse“ zu erzählen, die über die anderen, niedrigeren Rassen zu befehlen hat. Es ist erstaunlich, mit welchem Eifer und welcher Begeisterung der Elfjährige spricht. Woher er überhaupt diese ganzen komplizierten Wörter hat.

Maria vermutet, dass er sie von seinem Vater hat. Der ist nämlich bei der SA. Im gleichen Trupp, in dem auch die berüchtigten Brüder Sonne sind. Einer von den beiden ist dort der Gruppenführer. Sein Sturmtrupp 25 ist immer dabei, wenn es irgendwo Schlägereien und Überfälle auf jüdische Geschäfte oder politisch Andersdenkende gibt. Die Brüder Sonne sollen einige jüdische Geschäftsinhaber einfach erschossen haben, als sie deren Geschäft überfielen.

Maria ist ihnen bisher nur ein einziges Mal begegnet. Noch heute läuft ihr ein eisiger Schauer den Rücken hinunter, wenn sie an den kalten Wintertag vor einem Jahr denkt. Da hat sie mit angesehen, wie einer der Sonne-Brüder auf offener Straße die Waffe zog und auf einen Mann schoss. Der Mann starb. Später stellte sich heraus, dass er Jude war.

Die Sonnes könnten Juden riechen, heißt es. Wie Bluthunde seien sie.

Maria ist nicht die einzige, die Angst vor ihnen hat. Vor allen Nazis hat sie Angst, alle sind schlimm und gefährlich. Aber die beiden sind die allerschlimmsten und die allergefährlichsten.

„Die Juden sind nichts wert. Die müssen für uns die Sklavenarbeit machen. Andernfalls sind sie nicht lebenswert“, sagt Gunnar gerade.

Da erwacht die Lehrerin aus ihrer Starre.

„Halt jetzt endlich den Mund!“ schreit sie. „Erzähl den anderen doch nicht so einen Unsinn! Alle Menschen sind gleich“, fährt sie an die Klasse gewandt fort. „Alle haben von Geburt an die gleichen Rechte. Kein Mensch darf über einen anderen bestimmen!“

Gunnar lacht böse. Dann schreit er:

„Kommunistin! Elende rote Hure! Du und deine Leute, ihr seid es, die dem Vaterland so viel Unglück gebracht haben. Wegen euch haben wir den Krieg verloren, wegen euch konnten die Franzmänner ins Ruhrgebiet kommen und wegen euch ist die Wirtschaft kaputt gegangen. Aber jetzt wird der Führer alles wieder gut machen, was ihr schlecht gemacht habt. Und er wird euch für euren Verrat am geliebten Vaterland bestrafen!“

Die Lehrerin ist bleich wie ein frisch gestärktes Laken. Ihr wird bewusst, was sie da aus Versehen etwas zu laut gesagt hat.

„Lass es gut sein“, bittet sie Gunnar mit matter Stimme.

Doch Gunnar reagiert nicht. Statt sich zu setzen, läuft er nach draußen. Die Lehrerin rennt hinterher und versucht ihn aufzuhalten. Aber Gunnar hört und sieht nichts. Schließlich gibt die Lehrerin es auf. Langsam macht sie kehrt, kommt schleppenden Schrittes zurück in die Klasse. Sie sieht müde und alt aus. Dabei ist sie gerade erst Ende zwanzig. Aber sie ist so resigniert und verzweifelt, dass sie viel älter wirkt.

„Glaubt ihm das bloß nicht, was er eben gesagt hat“, bittet sie leise.

Sogar in Hildas Gesicht ist sowas wie Mitleid zu lesen. Die Kleinert ist ihre Lieblingslehrerin. Aber trotzdem ist ihr deutlich der Zwiespalt anzusehen, in dem sie sich befindet: zu der Lieblingslehrerin halten oder sich auf Gunnars Seite stellen und weiter an das glauben, was sie von ihrem Vater und bei den uniformierten Mädels gelernt hat?

„Wenn alle Menschen gleich sind, warum sagt der Führer dann, dass sie es nicht sind?“

Es ist Fritz, der diese Frage gestellt hat. Sie scheint ihn sehr zu beschäftigen.

Maria erinnert sich, dass es einmal hieß, Fritz würde sie sehr gern mögen. Das ist allerdings gewesen, bevor der Mann mit dem komischen Schnauzer an die Macht kam und verbreitete, dass alle Juden schlecht seien.

Die Lehrerin lässt sich Zeit mit der Antwort.

„Er mag gewisse Leute eben nicht“, sagt sie schließlich. „So wie du einige Leute nicht magst. Er macht es sich einfach und sagt, sie seien nichts wert. Guck dich doch mal um, Fritz. Wen aus dieser Klasse magst du gerne?“

Alle Blicke wenden sich mit einem Mal Maria zu. Sie spürt, wie sie errötet.

„Ich bin Jüdin“, sagt sie ohne zu überlegen.

„Und trotzdem magst du sie, nicht wahr, Fritz? Und warum auch nicht, Maria ist doch nicht böse, nur weil sie Jüdin ist“, fährt die Lehrerin fort.

„Aber der Führer hat doch gesagt...“, fängt Hilda an.

„Der Führer sagt nicht immer die Wahrheit“, sagt die Lehrerin ruhig. „Jeder irrt sich. Jeder lügt manchmal.“

Die Klasse schweigt.

Maria bemerkt, dass Hilda und die anderen Nazikinder schwer mit sich kämpfen, wem sie glauben sollen: der netten Lehrerin oder ihren Eltern und dem Jugendführer, der ihnen von ihrer angeborenen Stärke und Intelligenz erzählt hat. Und wer hört es nicht gern, wenn ihm jemand sagt, er sei etwas ganz Besonderes und habe angestammte höhere Rechte als andere, die „weniger wert“ sind?

Es herrscht Schweigen. Keiner traut sich, etwas zu sagen. Stumm verharren sie.

Da sind draußen mit einem Mal schwere Schritte zu hören. Gleich darauf fliegt die Tür auf. SA-Männer in Uniform stürmen herein. Zwei ergreifen die Kleinert und zerren sie nach draußen. Kurz darauf fährt draußen ein Auto am Fenster vorbei. Sprachlos schaut die Klasse hinterher.

Da betritt der Schuldirektor den Raum; hinter ihm kommen Gunnar und drei Männer in dunklen Mänteln. Sie starren mit scharfem, durchdringendem Blick einem jeden in die Seele.

Maria wird abwechselnd heiß und kalt. Sie hat Angst vor diesen Männern. Sie hat noch nie solche wie diese gesehen. Sie weiß nicht, wer – oder was – die Männer sind, aber sie spürt ganz deutlich, dass von ihnen eine große Gefahr ausgeht. Sie machen ihr Angst. Bestimmt gehören sie auch irgendwie zu dem Mann, der behauptet, Deutschlands Führer zu sein.

„Ihr dürft heute früher nach Hause“, sagt der Direktor.

Keiner freut sich.

„Wann kommt Frau Kleinert denn wieder?“ fragt Hilda leise.

Der Direktor will antworten, doch einer der Männer in Mantel schneidet ihm das Wort ab.

„Eure Lehrerin ist beurlaubt“, sagt er mit eigentümlich kalter, gefühlloser Stimme. „Sie ist krank und macht eine längere Erholungskur.“

„Sie ist so geschwächt, dass sie wohl nicht zurückkommen kann“, sagt der Zweite.

„Sie braucht Ruhe“, sagt der Dritte. „Viel Ruhe.“

Ein schadenfrohes Grinsen huscht über seine Züge. Danach ist er sofort wieder so ausdruckslos und gefühlskalt wie die beiden anderen. Ohne ein weiteres Wort machen die drei auf dem Absatz kehrt und wollen gehen.

„Herr Hauptmann“, ruft da Gunnar.

Der Mann, der zuerst gesprochen hat, bleibt stehen und dreht sich um.

„Was ist nun?“ fragt Gunnar aufgeregt.

„Ach ja“, murmelt der Mann und zieht einen Stift und ein Stück Papier hervor. Er schreibt ein paar Worte, setzt seine Unterschrift darunter und gibt den Zettel Gunnar, der das Papier wie etwas ungeheuer Wichtiges faltet und in die Tasche steckt.

Die Männer in Mantel gehen. Ebenso die anderen in den braunen Uniformen. Der Direktor geht hinterher und verschwindet im Hauptgebäude.

Die Klasse regt sich nicht. Keiner kann sich bewegen. Alle sind wie erstarrt.

Nur Gunnar nicht. Stolz und selbstzufrieden nimmt er seine Sachen und stolziert nach draußen. In der Tür dreht er sich noch einmal um und ruft:

„Heute ist um vier Uhr Versammlung in der Sporthalle.“

Keiner reagiert.

Gunnar schreitet gleich einem stolzen Löwen dem Ausgang zu. Als die Tür hinter ihm zugefallen ist, herrscht ein paar Augenblicke gespenstische Stille. Erst langsam kommen die Zurückbleibenden wieder zu sich.

Maria packt ihre Sachen. Sie sieht, wie Susanne und alle anderen das Gleiche machen, doch sie nimmt alles nur noch wie durch einen dicken Wattevorhang wahr. Alles erscheint so unwirklich.

Als sie auf den Hof hinaustritt, muss sie geblendet die Augen schließen.

Grell leuchtet der feine Schnee, der über allem liegt. Kaum ein Zentimeter dick liegt er über allem. Es ist eisig kalt. Und irgendwie unwirklich. Die Bäume strotzen vor einem saftigen, dunklen Braun. Noch sind keine Blätter zu sehen, aber der Frühling kommt bereits sichtbar mit Macht. Kleine Knospen sind zu erahnen. Über allem erhebt sich gewaltig der unendlich blaue Himmel.

Maria wandert durch die Stadtlandschaft, die von der dünnen Schicht Puderschnee bedeckt ist. Fast scheint es, als schwebe sie. Sie sieht weder rechts noch links, hört und sieht einfach überhaupt nichts, sondern läuft einfach wie in Trance durch die noch winterlichen, kalten Straßen, die still und leblos vor sich hin träumen. Es müssen Ewigkeiten vergangen sein, als sie endlich zu Hause ankommt.

Im Treppenhaus riecht es nach Gemüsesuppe. Also ist die Mutter schon da. Der Vater wird erst gegen sechs Uhr aus der Post kommen. Er ist Postbeamter. Er verdient nicht viel, es reicht gerade für sie drei.

Die Mutter steht am Küchenherd. Die heiße Suppe dampft, dass die Fenster beschlagen.

„Warum kommst du denn jetzt schon?“ fragt sie erstaunt.

Maria antwortet nicht. Ihre Zunge klebt am Gaumen fest. Sie lässt sich auf der Küchenbank nieder, verschränkt die Arme an der Tischkante und vergräbt das Gesicht. Sie weint. Warum, weiß sie selber nicht. Vielleicht weil die Kleinert weg ist, vielleicht weil sie immer noch vor den Männern in langem Mantel zittert.

Eine Hand fährt ihr zärtlich und zugleich beruhigend durchs Haar. Die Mutter steht neben ihr und tröstet sie. Maria weint lange und heftig. Schließlich sind keine Tränen mehr da.

Die Suppe ist fertig. Die Mutter füllt ihr einen Teller voll auf.

„Das beruhigt“, sagt sie und schiebt ihr den vollen Teller hin.

Maria nimmt den bereitliegenden Löffel und schaufelt mechanisch die heiße Suppe in sich hinein. Die Mutter setzt sich auf den Stuhl, ihr gegenüber, und sieht ihr erst einmal eine Weile schweigend zu. Dann füllt sie Marias Teller erneut und auch sich selbst etwas auf. Stumm löffeln sie ihre Suppe.

„Möchtest du noch etwas?“ bricht die Mutter vorsichtig das Schweigen.

Maria schüttelt leicht den Kopf. Sie fühlt sich elend, ihr Kopf dröhnt, die Augenlider werden ihr schwer.

„Mein Gott, was ist denn mit dir los? Du glühst ja richtig.“

Die Mutter nimmt sie auf den Arm, wie sie es schon lange nicht mehr gemacht hat, und trägt sie hinüber ins Schlafzimmer.

„Schlaf ein bisschen“, sagt sie, stopft die Decke fest und schließt leise die Tür.

Maria schließt die Augen und schläft sofort ein.

*****

„Das soll ich dir von Axel und Paul geben“, sagt die Mutter. „Sie waren gestern hier.“

Sie gibt Maria zwei Lakritzstangen.

„Sie haben gestern nach der Schule auf dich gewartet, aber du warst nicht da. Die Stangen sind von der alten Frau Silberstein.“

Maria nickt.

„Danke“, sagt sie matt.

„Pauline hat mir erzählt, dass die Kleinert abgeholt wurde“, sagt die Mutter.

Maria nickt traurig.

„Sie hat auf den Führer geschimpft, hat irgendwer gesagt.“

Maria schüttelt den Kopf.

„Gunnar Berger hat angefangen“, flüstert sie. „Er hat sie verraten.“

Die Mutter setzt sich auf die Bettkante, nimmt vorsichtig ihre Hand und streichelt sie.

„Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst“, beruhigt sie. „Am besten, du schläfst noch ’ne Runde. Dann unterhalten wir uns heut Abend mit Vater darüber. Aber natürlich nur, wenn du willst.“

Maria nickt leicht.

„Schlaf jetzt“, sagt die Mutter. „Du hast etwas erhöhte Temperatur. Aber noch ein paar Stunden Schlaf können wahre Wunder wirken.“

Die Mutter küsst sie auf die Stirn und steht leise auf. Maria schließt die Augen.

Da klopft es.

„Wer ist denn das jetzt?“ hört sie die Mutter murmeln.

Die Tür wird geöffnet.

„Wie geht es Maria?“ kann sie den kleinen Axel fragen hören.

„Sie hat geschlafen, aber jetzt ist sie wach“, sagt die Mutter.

Schritte tapsen über den Flur. Es wird an der Tür geklopft.

„Ja“, ruft Maria leise. „Komm rein.“

Axel kommt herein. Hinter ihm schieben sich Pauline, die kleine Liza und der kleine Paul durch die Tür.

„Hallo, wie geht’s?“

Axel sieht sie an.

„Es geht“, antwortet Maria gedehnt

„Wir haben dir was mitgebracht“, strahlt die kleine Liza und zieht einen Stern aus Schokolade hervor.

„Von Frau Silberstein“, sagt Paul und reicht Maria sein Geschenk: einen bunten Lolli. Axel legt eine Handvoll Pfefferminzbonbons dazu.

„Damit du ganz schnell wieder gesund wirst“, begründet er seine Großzügigkeit.

Pauline gibt ihr einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann.

„Gunnar ist heute in seiner Volkuniform gekommen“, berichtet sie. „Er ist jetzt Stammführer.“

Maria verzieht ebenso wie die Freundin verächtlich die Mundwinkel.

„Den Schürmann hat die Gestapo auch abgeholt“, sagt der kleine Paul ernst.

Maria runzelt nachdenklich die Stirn. Der Schürmann war vielleicht nicht der beste Mathelehrer, aber immerhin ein „guter Mann“ wie der Vater sagt.

Aber diese Männer in den langen dunklen Mänteln… sie heißen also „Gestapo“? Was soll das denn sein?

Maria fragt nicht, sondern lässt Paul berichten: wie der Schürmann ihnen das Multiplizieren erklärte und plötzlich die Tür aufging und mehrere große, kräftige Männer in Mantel den Lehrer packten und hinausschoben; wie der Direx mit einem kleinen, ebenfalls bemäntelten Mann, den er „Major“ nannte, hereinkam und sie alle nach Hause schickte.

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9783847680574
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