Читать книгу: «Der Traum von Tibet», страница 2

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4

Der Mond scheint hell ins Zimmer. Deine Haare sind dir ins Gesicht gefallen, und du liegst mit ausgebreiteten Armen auf dem Teppich. Deine weißen Knie schauen unter deinem engen schwarzen Rock hervor. Ich stütze mein Kinn auf meine Knie, schließe die Augen. Finde keinen Schlaf. Ich stehe auf, gehe auf und ab. Auch in der besagten Nacht hab ich kein Auge zugetan. Schlimmer noch, damals konnte ich mich nicht mal hinsetzen, und schon gar nicht auf und ab gehen. Euer Zimmer war winzig, und ihr habt alle tief und fest geschlafen.

Die ganze Nacht hindurch, bis in die frühen Morgenstunden, war ich mehrmals zu Mehrdads Haus gegangen, mit einem kleinen Kanister Benzin unterm Arm.

Tröstlich das Wissen um diesen Kanister und um die Streichhölzer in meiner Tasche. Wie ich’s geschafft habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass ich immer wieder an meinen Ausgangspunkt zurückgegangen und dann aufs Neue losgezogen bin. Als ich diesmal die Straße vor seinem Haus hochgehe, habe ich einen großen Kanister Petroleum dabei. Ich trage meinen ziegelroten Mantel und habe mir meinen Schal ins Gesicht gezogen. Kurz vor Mehrdads Haus, als ein fiktiver Regisseur „Cut!“ ruft, mache ich kehrt und breche kurz darauf erneut auf. Als ich wieder am Ziel bin, gieße ich mein Petroleum endlich über sein zufällig draußen geparktes Auto. Die Flammen greifen rasch um sich, und ich muss schnell entscheiden, wen sie erfassen sollen. Seine Mutter ist zwar schuld an allem Übel, aber der Brautschleier brennt besser. Während eine der beiden Frauen in Flammen steht, gehe ich draußen die Straße hoch. Müde, lebensmüde, will ich mich jetzt selbst verbrennen. Kurz bevor ich mich mit Petroleum übergieße, stecke ich den Kopf unter die nach Wolle riechende dicke Decke, mit der du mich zugedeckt hast, und weine. Ich habe Mehrdad vor Augen. Er fährt mir mit der Hand durchs Haar, lässt die Hand in meinem Nacken ruhen und sagt in seiner unverblümten Art: „Du brauchst kein Feuer. Du brennst doch schon, als meine Flamme.“

Gern würde ich die hochnäsige Visage seiner Mutter beim Anblick dieser Katastrophe wie eine spröde Maske zerspringen und ihre Hände zittern sehen. Doch mein Traum endet jedes Mal wie ein Dokumentarbericht, mit Sirene und Friedhof. Wie es nach dem Brand weitergeht, male ich mir nie aus. Ich sterbe in diesem Moment, und was danach geschehen mochte, war unwichtig. Forough kommt mir in den Sinn, die gesagt hat: „Wenn ich tot bin, werft mich ins Plumpsklo.“

Selbst mein Versuch, mir mich im Brautkleid vorzustellen, misslingt. Ich will nicht mal mehr, dass der gut aussehende Arzt im Spital, in dem ich tätig bin, zu mir ans Krankenbett kommt. Der Arzt, der immer blank geputzte Schuhe trägt und mir im Traum erscheint, wenn ich ihn brauche, wie gerufen. Was mir überdies die Freude einiger staunend offener Münder beschert.

Mehrdad hat meine Arbeit im Krankenhaus immer als nichts Besonderes bezeichnet. Ich hatte eingewandt, dass ich sie gern mache und, in Anlehnung an Djawids Postulate, wirtschaftliche Unabhängigkeit ins Feld geführt. Darauf war Mehrdad nicht näher eingegangen. Er hat mich nur angeschaut. Asche auf mein Haupt! Weil mir immer erst nach sechzig Jahren ein Licht aufgeht! Ich hatte unnötig viele Worte gemacht. Mich vielleicht nicht klar genug ausgedrückt? Heute weiß ich, ohne das Interesse, ohne ein Echo deines Gegenübers sind selbst die klarsten Worte nur undefinierbare, bedeutungsleere Geräusche.

Gegen Morgen bin ich wach geworden, hab mich im Bett aufgesetzt, mich im Zimmer umgeschaut. Ihr beiden wart hinter der Schiebetür, jenseits von mir. Ich brauchte einen Moment, um die Ereignisse der letzten Nacht mit mir und meinem leblosen Körper in Verbindung zu bringen. Warum war ich zu euch gekommen? Ich hätte dorthin gehen müssen, wo mein Schmerz Bedeutung gehabt und ich keine so große Distanz zu meinen Mitmenschen gespürt hätte. Ich konnte ihn sehen, ihn berühren, umarmen als den fortan unerreichbaren Liebsten, und konnte an seinem Schmerz sterben.

Ich faltete die Bettdecke zusammen, schulterte meine Tasche und ging leise aus dem Haus.

5

Du stöhnst im Schlaf. Ich gehe zu dir ans Bett und berühre deine Hand. Sie ist warm, anders als sonst. Warm, wie damals im Bus, als du meine Hand gedrückt hast. Damals waren wir unterwegs zum Basar. Auf deinen Vorschlag hin. Du hast ununterbrochen geredet. Und als wir ins Gedränge geraten sind, hast du nicht gesagt „lass uns umkehren“. Vor jedem Laden, vor dem ich stehengeblieben bin, hast auch du Halt gemacht. Hast mich nicht „Trödeltante!“ genannt. Hast dich nicht ständig um „Die Kinder, die Kinder!“ gesorgt, hast nicht mit deinem Geglucke genervt.

Mama hat erzählt: „Ich war an dem Abend, als Schiwas Schmerzen angefangen haben, zu Besuch bei den beiden. Sie haben sich seelenruhig angezogen und gesagt, sie fahren jetzt ins Krankenhaus, allen Ernstes. Ich war baff. Dass ich ruhig schlafen gehen soll, haben sie mir noch gesagt. Und ich dachte, sie fahren vielleicht ins Krankenhaus und klauen sich ein Baby. So wie die beiden hab ich jedenfalls noch niemanden zu einer Geburt aufbrechen sehen.“

Auch um Djawid hast du dich nicht gesorgt. Du hast dir überhaupt um niemanden Sorgen gemacht. Hast all die Stoffe berührt, die auch ich schön fand, und einmal hab ich mitbekommen, wie eingehend du eine Kristallschüssel betrachtet hast.

Mit dir wird Einkaufen auf dem Basar zum Vergnügen. Weil du in dem großen Markt mehr siehst als einen Ort, an dem man einkauft. Mehr als bloß eine Ansammlung von Läden, die zwar alle gleich aussehen, sich aber in ihrem Warenangebot stark unterscheiden. Dir liefert das Basargewimmel viele fantasieanregende Rätsel, und du bist nie als gewöhnliche Kundin unterwegs, sondern als Forschungsreisende und stößt im Zuge deiner Erkundungstouren auf Amüsantes, Erstaunliches, Skurriles. Auf den Verkäufer, der vergessen hat, den Reißverschluss an seiner Hose zuzumachen. Auf die Frau, die jemand den Stoffhändlern zum Vergnügen zugeteilt hat. Dir fällt der an einer Ladentür baumelnde Waschlappen ins Auge, und du hast Mitleid mit einer in all dem Überfluss stark abgemagerten Katze.

„Ich muss ein paar Sachen für Forough besorgen“, hast du gesagt. „Sie hat sie bestellt. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, erinnert sie mich dran.“

„Warum hast du das Zeug nicht längst gekauft?“

„Für mich selbst kaufe ich sowas einfach im Laden bei uns um die Ecke, das dauert keine zwei Minuten. Madame aber findet das Zeug von dort untauglich.“

Eine Miederwarenverkäuferin hatte Büstenhalter bündelweise auf ihrem Ladentisch aufgereiht.

„Du bist ja keine Frau“, hab ich gefrotzelt.

Mama hat immer gesagt: „Selbst ich, ihre eigene Mutter, hab sie bis heute nicht ohne Kleider gesehen. Und immer hat sie Strümpfe getragen. Nicht mal vor dem Schlafengehen hat sie sich was Leichteres angezogen. Wohl für den Fall, dass sie irgendwann mal mitten in der Nacht raus auf die Straße muss.“

Ich schlafe gern nackt, im Gegensatz zu dir. Wenn meine Angst vor plötzlichen Erdbeben nicht wäre, würde ich auch mein Négligée noch ausziehen. Ich mag das Gefühl der rauen Decke auf meiner weichen Haut, wenn ich mich im Bett wälze.

„Aber Forough ist eine“, hab ich gesagt. „Jedenfalls fraulicher als du.“

„Bloß weil sie zwei Beutel Buttermilch um den Hals hat?“, hast du gekontert.

Ich musste lachen. Jedes Mal, wenn Forough mich sieht, sagt sie: „So eine tolle Figur. Ruinier sie dir bloß nicht.“ Dann legt sie sich die Hand auf die Brust, zwinkert verschmitzt vielsagend: Vollbusig kommt nie aus der Mode.

„Sie brüstet sich allzu gern damit“, fand ich.

„Jedes Mal, wenn sie mich sieht, umfasst sie ihre beiden Prachtstücke wie die Köpfe von Zwillingskindern, drückt sie und behauptet, sie würde sie jederzeit gegen so flache wie meine eintauschen.

„Dafür gehst du tief gebeugt, damit niemand dein Erbsenbrett sieht“, hab ich dir entgegengehalten. „Schau dir von deiner Schwiegermama lieber was ab.“

Woraufhin du klargestellt hast: „Ich wollte anderen immer ein Vorbild sein. Noch bin ich nicht so weit, dass ich mir von einer einfachen, affektierten Frau etwas abschaue.“

„Affektiert, wieso?“

„Komm, schnell.“

Du bist zum Bus gerannt. Hast einer Frau einen Fahrschein abgekauft, bist hinten eingestiegen, wie sich das für uns Frauen gehört, und hast dein Ticket einem Mann gegeben, der’s weitergereicht hat, bis nach vorn zum Fahrer. Du hast dich hingesetzt und hast mich am Arm gefasst. Außer Atem.

„Wir hätten auch ein Taxi nehmen können“, hab ich gesagt.

Deine Hand war heiß. Du warst anders als sonst. Heute weiß ich, mein Gefühl hat mir schon damals etwas gesagt, das ich erst Jahre später verstanden habe.

Ich hab dich gefragt, warum du so entspannt wirkst.

„Wo ist Djawid?“

„Mit den Kindern bei Sadegh.“

Als der Gelenkbus um eine Kurve fuhr, hat ein uns gegenüber sitzender Mann grundlos gelächelt.

„Endlich ist er frei.“

„Schade, dass seine Mutter das nicht mehr erlebt“, hab ich gesagt.

Djawid hat immer erzählt: „Sadeghs Mutter war uns allen eine Mutter. Eine Löwin. Früh verwitwet, hat sie ihre fünf Kinder allein großgezogen. Hat sich abgerackert, damit alle fünf studieren konnten. Zwei sind im Knast gelandet. Einer kam gar nicht mehr nach Hause. Die anderen leben im Ausland.“

„Wann ist er freigekommen?“

„Vor ein paar Tagen.“

Ich hab mir ein Ende meines Kopftuchs vor den Mund gehalten. Gegen den unerträglichen Abgasgestank.

„Ich hab ihn einmal besucht, hab mich vermummt und den Ausweis seiner Schwester gezeigt. Mir wär’s fast hochgekommen. Viel hat nicht gefehlt. Über die Luft in Haftanstalten hat bisher noch niemand berichtet. Es stinkt, als hätten Hunderte Menschen aus lauter Trostlosigkeit auf einmal gegähnt, und jemand hätte schnell alle Türen geschlossen, damit der Mief nicht rauskann. Wir waren beide verblüfft, er und ich, jeder auf seiner Seite der Scheibe. Er konnte kaum fassen, dass ich ihm draußen gegenüber saß, und ich hab mich gefragt, weshalb er dort drin sitzen muss. Hinter Mauern, Gittern, Panzerglas. Total ungerecht.“

„Und dann?“

„Dann hab ich ihm gesagt, er soll sich um seine Mutter keine Sorgen machen. Ich und Djawid besuchen sie regelmäßig. Mehr nicht. Stattdessen hat er geredet. Hat jede Sekunde genutzt. Wieder draußen, war ich beruhigt. Eine Woche drauf ist seine Mutter gestorben. Wir haben ihren Kindern die Nachricht überbracht.“

„Keines ihrer Kinder war bei ihr?“

„Nein, nur ich saß an ihrem Bett.“

6

Schiwa! Steh auf. Ich will dir sagen, wie mir an dem Morgen in dem eiskalten cremefarbenen Wagen zumute war. Ich war benommen, vor Kälte, vor Müdigkeit. Und was ich im Laufe der Nacht zuvor hundert mal getan hatte, war jetzt schwierig, ja unmöglich geworden. Jetzt wollte ich das Feuer nicht mehr, um mich oder Mehrdad anzuzünden. Jetzt brauchte ich’s, um mich zu wärmen.

„Ich schalte die Heizung ein, dann wird dir warm“, hat er leise gesagt.

In einer Seitenstraße hat er gehalten. Die Leuchtreklame der Praxis am Anfang der Straße brannte noch. Ich soll mich nicht aufregen, hat er gesagt, soll alles in Ruhe bedenken, und dass er mich absetzt, wo ich will. Er hat die Hand vom Schaltknüppel genommen und sich in seinem Sitz bequem zurückgelehnt. Er gehört zu denen, die stundenlang irgendwo sitzen können, ohne sich zu langweilen.

Ich hab in meiner Manteltasche gekramt. „So viele Möglichkeiten auf der Welt, um Feuer zu machen“, hab ich gedacht, „und ich hab bloß eine Schachtel Streichhölzer dabei“. Aus Djawids Aschenbecher mitgenommen. Krampfhaft hab ich sie umklammert und gedacht: „Noch kann ich was machen“. Aber wo war Mehrdad? Morgens um die Zeit schlief er noch. Wenn er jetzt wach würde, würde ihm noch vor dem Aufstehen einfallen, dass er die Braut abholen muss, mit dem Auto. Und diese Braut war nicht ich.

Obwohl er am Abend zuvor noch betont hat, ich sei seine wahre Braut. Er hat seinen Teller beiseite geschoben und mir über den Tisch hinweg beide Hände entgegengestreckt. Ich hab meine unterm Tisch in Sicherheit gebracht, beide, für ihn unerreichbar. Er hat sein Essen nicht angerührt, hat beteuert, er wird fortan unglücklich sein. Unbeschwert, lebhaft wie jemand, der glücklich ist, hat er das von sich gegeben. Ich bin aufgestanden und vor die Tür gegangen. Er hat an der Kasse bezahlt und kam nach. Ich hab am Straßenrand auf ein Taxi gewartet, spät abends. Mehrere Autos haben angehalten, in keines bin ich eingestiegen. Ein Wagen stand wartend, etwas abseits. Die helle Restauranttür im Blick, hab ich inständig gefleht, Mehrdad möge schnell nach draußen kommen.

Und endlich ist er auch aufgetaucht. Hat vor der Tür seinen Mantel übergestreift, hat zerstreut nach links geschaut, nach rechts, hat dabei suchend seinen Mantel abgetastet, wie jemand, der sich vergewissern will, dass er sein Geld und seinen Autoschlüssel bei sich hat, und sah aus wie ein gut situierter, verheirateter Mann, der eigentlich wichtigere Sorgen hat.

Ich gehe los, höre seine Schritte hinter mir. Er folgt mir schnell, holt mich ein, fasst mich am Arm, und wir gehen ein paar Schritte nebeneinander her. Sein neues Leben sei reine Formsache, sagt er, wir könnten doch weiterhin zusammensein. „Ich bin nicht deine Gespielin!“, schreie ich ihm ins Gesicht.

Ein Geschäftsinhaber, der eben seinen Laden abschließt, dreht sich zu uns um und starrt uns an. Mehrdad drückt meinen Arm, heftiger als sonst. Vermutlich ärgert er sich über mich, wie damals, als ich auf der Verlobung eines seiner Freunde getanzt und inmitten von Festgästen gesungen habe.

Nach all den Monaten, die wir uns kannten, hab ich ihn erstmals wieder so angespannt gesehen wie damals. Ich bin mit dem Finger am Schaltknüppel entlanggefahren, langsam abwärts, bis kurz vor seinen Oberschenkel. Normalerweise hat ihm das ein Schmunzeln entlockt. Diesmal stand ihm der Sinn wohl nicht danach. Ich hab den Finger ein Stückchen weiter abwärts bewegt. Mein Nagellack hat geglänzt. Mehrdad ist rechts rangefahren, weil er mir unbedingt seine Traumfrau beschreiben wollte.

„Tu dir keinen Zwang an“, hab ich gesagt.

„Meine Traumfrau weiß genau, wie sie sich wann zu verhalten hat.“

Was sollte das denn heißen? Ich hab meine Hand zurückgezogen.

„In der Küche, zum Beispiel, ist sie Hausfrau, im Wohnzimmer nicht Köchin, sondern Dame. Im Studierzimmer ist sie klug und bedacht, und im Schlafzimmer …“

„… Schlampe“, hab ich ihm verächtlich das Wort abgeschnitten.

Aus der Fassung gebracht hat ihn das nicht, aber er hat sich müde übers Steuer gebeugt.

„Eine Frau, die meint, sie muss auch im Schlafzimmer die vergeistigte Philosophin geben, hat keine Ahnung.“

Und auf einen Schlag war in dem Auto alles nur noch ein Spiel. Ich weiß nicht mehr, wie lang ich dort noch gesessen habe, aber mir war inzwischen immerhin warm geworden. Ein alter Mann war vorbeigegangen, hatte ein Fladenbrot mit beiden Händen wie einen Schutzschild vor sich hergetragen. Kurz drauf war eine Frau dahergehumpelt, hat sich gebückt und ganz ungeniert ins Auto gestiert wie in eine tiefe Höhle. Erst in dem Moment fiel mir wieder ein, dass wir nicht allein waren. Ich saß neben einem schweigenden Mann, sah ihn an, und mein Gesichtsausdruck mochte ihn dazu bewegt haben, „Mach’s dir bequem“ zu sagen.

Seine Einladung hatte wohl wirklich entspannende Wirkung. Plötzlich schien mir alles wertlos. Nichts hatte mehr Sinn. Ich hab die Schachtel Streichhölzer zerdrückt und bin hemmungslos in Tränen ausgebrochen.

7

Ich stoße mit dem Arm gegen die Tür. Sie quietscht. Forough hört das nicht. Sie sitzt einfach da, im Dunkeln. Ich betrachte ihren feisten Rücken. Ist das die hübsche Frau, die den Lebensmittelhändler aus der Ruhe und andere Männer dazu gebracht hat, ihr auf die schönen langen Beine zu schauen? Nachdem der Händler erfahren hatte, dass ein anderer Mann sich von ihr scheiden ließ, weil sie keine Kinder bekam, wurde er umso begieriger. Er schickte ihr reihenweise Vermittler ins Haus, um ihr zu signalisieren: „Ich hab schon zwei, die reichen mir.“

Mit Foroughs großen Schritten war die kleine Straße schnell durchmessen. Djawid, am Fenster im Obergeschoss auf Posten, sah ihr dabei zu, wie sie eilig und scheinbar für immer entschwand.

Am Maulbeerbaum angelangt, zog sie den Kopf ein. Ihr etwas zu kurzer Tschador ließ ihre Knöchel und ihre transparenten Strümpfe erkennen. Forough musste wieder zurück sein, bevor Djawids Vater nach Hause kam. Djawid zählte die von seinem Ausguck aus sichtbaren Latten am Verandazaun vor dem Nachbarhaus, Vögel, die sich in Schwärmen entfernten und Fliegen, die auf ihn zuflogen. Von Forough aber war keine Spur. Iran, im Erdgeschoss, fragte ihn, was er da oben zu suchen habe und teilte ihm im gleichen Atemzug mit, dass sie auf dem Sprung zu den Nachbarn sei. Sie und Forough, beide recht flatterhaft, verstanden sich gut und passten aufeinander auf.

Djawid ist ernsthaft in Sorge. Wenn Forough nicht rechtzeitig heimkommt, bringt sein Vater sie um. Mit dem Krummdolch aus der Speisekammer, den er jedes Jahr im Monat Muharram hervorholt, wenn die Schiiten ausgiebig trauern. Er hat selbst gesagt, er bringt sie um.

Djawid graut vor den blutunterlaufenen Augen des Vaters. Vor seiner lauten Stimme. Tagsüber hatte Forough die Straße vor dem Haus gefegt, hatte den Hof gefegt, hatte Djawid gebeten, aufzustehen oder die Füße zu heben, weil sie auch dort fegen wollte, wo er saß. Djawid war nicht aufgestanden. Forough hatte den Besen hingeworfen und „Zur Hölle!“ gesagt.

Sie hatte sich in ihren Tschador gehüllt und war aus dem Haus gegangen, ohne zu sagen wohin.

Djawid hört den Vater schreien, nein, brüllen, nach Forough verlangen. Er zuckt zusammen. Wieso hat er ihn nicht heimkommen hören? Er geht die Treppe hinunter, senkt den Kopf, um sich nicht zu stoßen. In letzter Zeit ist er gewachsen. Der Vater steht im Hof. Wenn er nach Hause kommt, greift er gewöhnlich sofort zum Gartenschlauch, wässert erst die Beete und wäscht sich dann die Füße. Djawid geht nach oben, nimmt seinen Posten wieder ein. Der Abend rückt näher. Von seinem Wachturm aus sieht er einen Sperling im Baum sitzen und eine pralle Maulbeere, die zwischen dem Blattwerk hindurch bis auf die Gasse purzelt.

Djawid ist überzeugt: „Diesmal tut er’s wirklich.“ Als er sich das Blutbad ausmalt, gefriert sein Blut ihm in den Adern. Plötzlich hört er Schritte. In der schmalen, verwinkelten Gasse mit ihren alten Toren ist nur selten ein Laut zu hören. Djawid sieht Forough unter den Zweigen des Maulbeerbaums auftauchen. Wortlos fragt sie ihn von dort unten her: „Ist er schon zu Hause?“ Sie ist nervös.

„Schon lange“, sagt Djawid laut und verstärkt ihre Anspannung noch. Ihr Tschador ist ihr vom Kopf gerutscht, und Djawid kann von seiner hohen Warte aus ihren weißen verschwitzten Hals sehen. Ihre Haut schimmert blauviolett in der roten Abendsonne. Djawid hört, dass die Haustür aufgeht. Er bekommt weiche Knie. „Gleich wird das Wasserbecken im Hof blutrot“, schießt es ihm durch den Kopf. Und er denkt an die Fische. Er hastet die Treppe hinab, sieht, auf der letzten Stufe angekommen, mehrere dunkle Flecken und bleibt stehen, festgenagelt.

Es dauert einen Moment, bis seine Angst sich legt, wie aufgewirbelter Staub. Als er wieder klar sehen kann, entpuppen die Flecken sich als zertretene Kirschen. Jetzt nimmt er auch die unterste Stufe noch und sieht alles. Der Hof ist, anders als erwartet, kein Schlachthof geworden. Forough sitzt draußen auf der Pritsche, schöpft Atem. Der Vater steht dicht vor ihr, so wie er sonst vor seiner Lebensmittelwaage steht, stiert mit seinen winzigen Äuglein auf Foroughs immense Brüste und scheint auch die wiegen zu wollen.

8

Heute Abend war Djawid erstmals um eine Antwort verlegen gewesen. Er war erstarrt, hatte die Lage nicht gleich erfasst. Normalerweise redete er, sezierte, analysierte, um sich und anderen zu beweisen, dass alles natürlich sei. Er fand seine Selbstbeherrschung in seinen Reden, du deine in deiner Verschlossenheit, und beide nanntet ihr’s Vernunft. Vermutlich seid ihr über all die Jahre hin aus Stolz zusammengeblieben und wart beide überzeugt, dass sich mit eurem Verstand und eurer Vernunft für alles Lösungen finden ließen.

Sadegh war sich nicht so sicher wie ihr. In seine wiedergewonnene Freiheit hat er das mitgebracht, was man gemeinhin als Zweifel bezeichnet. Skepsis und Misstrauen gegenüber allem und jedem auf dieser Welt. Mir ist das klargeworden, als ihr seine Freilassung gefeiert habt.

Mit dem Gespür und der Entschlossenheit einer Innenarchitektin hast du das Haus wohnlich gestaltet. Hast ein paar Stühle und Sitzpolster verschoben, ein paar Tischdecken ausgetauscht, und schon sah alles neu aus. Um aufzudecken, was es Neues gab, waren Djawid und Yalda wie Schnüffler durchs Haus gestreift, ohne fündig zu werden. Es hatte sich ganz ohne Neuzugänge verändert. Eure Freunde brachten Blumen und süßes Gebäck. Freunde, die früher manchmal zu Besuch waren, wenn auch ich bei euch vorbeikam. Euer voriger Vermieter hatte sich über euren Taubenschlag beklagt, ständiges Kommen und Gehen. Und immer hing in den verwinkelten Zimmern dichter Zigarettenqualm. Ich hab mich jedes Mal in eine Ecke zurückgezogen und euch beobachtet. Ihr wart alle gleich. Wer euch zusah, wurde an die Kommunisten in italienischen Filmen erinnert. Ihr habt euch die Köpfe heißgeredet, habt endlose Diskussionen geführt. Und ich hab kein einziges Wort verstanden. Eure Freunde sind bis heute so. Nur dass sie euch heute meist ohne ihre größer gewordenen Kinder besuchen. Und wenn sie die Kids doch mal im Schlepptau hatten, sind die mit Yalda in deren Zimmer verschwunden, zu Musikanlage und PC. Ein Freund hat einen Witz erzählt und halbherziges Lachen geerntet, das sich angehört hat, wie ein bei eisigem Wetter nicht in Gang kommender, stotternder Automotor, der schließlich ganz abstirbt. Beim zweiten Witz sprangen die Motoren an, diesmal wurde herzhaft gelacht. Trotzdem lief noch nicht alles rund. Sadegh war nicht zum Lachen zumute. Er hat, völlig ungerührt, keine Miene verzogen.

Djawid hat das Thema gewechselt, wollte über Politik reden. Sadegh, die Stirn in Falten, saß schweigend da. Hatte keine Lust auf Debatten. Djawid hat ihm gut zugeredet.

Sadegh hat am Glas in seiner Hand genippt. Hat sich über den Tisch gebeugt, wobei sein mächtiger Bauch unter Druck geriet. Er hat gehustet, sich geräuspert. Konnte den Frosch nicht vertreiben. Hat wieder gehustet, ist rot angelaufen, hat zu sprechen begonnen und nur mit Mühe ein paar Worte hervorgebracht. Manche Gäste saßen vornübergebeugt, wie Läufer, die auf ihren Startschuss warten.

„Um ehrlich zu sein, da drinnen hab ich von draußen nicht viel mitbekommen“, hat er gesagt.

Die Läufer, auf ihren Plätzen, wollten los. Dem Starter aber war wohl entgangen, dass er das Signal geben muss. Sadegh hat jedenfalls keinerlei Anstalten gemacht. Enttäuscht fielen die Sprinter in ihre Sitze zurück. Beredtes Schweigen trat ein.

Der Freund, der alle zum Lachen gebracht hatte, gab den nächsten Witz zum Besten, selbstsicher wie ein Schauspieler, der keinen Beifall braucht. Yaldas herzhaftes „Ha-ha!“ hat das zögernde, gelangweilte Lachen der anderen übertönt und Sadegh den Anflug eines verschämten, fast mädchenhaften Lächelns beschert. Jetzt reckten sich Hände nach dem bereitstehenden Obst und Gebäck.

„Der Herr Ingenieur kann das Heiraten nicht länger aufschieben. Die Zeit ist reif“, hat jemand gesagt.

Forough hat erzählt, dass Iran ihn früher mehrfach umgarnt hat. Sadegh ist ihr nicht ins Netz gegangen.

Er hat gelacht.

„Der Zug ist abgefahren.“

Er fuhr sich mit der Hand durchs grau melierte schüttere Haar. Djawid hat ihn gefragt, was er denn jetzt vorhabe. Sadegh hat gesagt, noch hat er keine genaue Pläne, aber er kehrt ganz sicher nicht an seinen alten Arbeitsplatz zurück. Ein Jahr in einer Stadt, ein paar Jahre in der nächsten, das sei nichts mehr für ihn.

Du warst unterdessen im Gespräch mit einer der anwesenden Damen. „Sadegh und sesshaft werden“, hast du gesagt. „Man höre und staune. In ein paar Monaten schnürt er sein Bündel und zieht doch wieder los.“

Die Dame, enttäuscht über deinen abrupten Wechsel des Gesprächspartners, hat gewartet, bis dein Kopf seine ursprüngliche Position wieder eingenommen hatte, um euer Gespräch fortzusetzen.

Sadegh hat nicht gesagt, dass er nicht wieder auf Wanderschaft geht. Er hat gesagt, er geht vielleicht, eines Tages, dann aber nicht wieder in den Knast, sondern, der frischeren Luft wegen, außer Landes.

Du hast Sadegh kurz angeschaut und dich dann rasch wieder der Frau zugewandt, die in ihrem Redefluss großzügig über deine Eskapaden hinweggesehen hat. Ich weiß noch, dass du das kurze Wort aus Sadeghs Mund damals wie eine hochgeworfene Münze blitzschnell aus der Luft gegriffen und dich, mit deinem sicheren Fang in Händen, von den anderen abgewandt hast.

Ich muss meiner Erinnerung nicht auf die Sprünge helfen, die Bilder stellen sich von selbst ein. Ich hab mir all die zufälligen, flüchtigen Bewegungen gut eingeprägt, damit sie mir ihre wahre Bedeutung offenbaren. Tibet war das Wort aus Sadeghs Mund. Du meintest später, sein Wunsch, nach Tibet zu gehen, während die anderen schwärmerisch Kuba, die Sowjetunion oder China in Erwägung zogen, sei eine Art Gotteslästerung gewesen. Du hast seine blasphemischen Reden als einzige akzeptiert, was Djawid dir immer übel genommen und deshalb eines Tages allen Ernstes postuliert hat: „Wer Sadeghs Vorschlag folgt und sich an einen fadenscheinigen Mystizismus klammert, macht sich um nichts verdient, Schiwa. Tibet kommt auf der neuen Weltkarte nicht vor, und wer das Land in unseren Lebensplan einbauen will, der nervt mich nicht nur. Er lässt mich auch zweifeln.“

„Zweifeln, woran?“

„An der geistigen und moralischen Gesundheit meiner Lebensgefährtin.“

Djawid hat dick aufgetragen und die Sache noch ins Lächerliche gezogen.

„Auf das Handfeste: frischere Luft.“

Und er hat sein Glas auf frischere Luft erhoben.

„Du kaufst dir dein Ticket, ich schmeiß die Abschiedsparty.“

Sadegh hat kurz aufgelacht. Er sah traurig aus. Hat dreingeschaut wie ein betrübter Elefant. Laut Djawid hatte er nur noch einen intakten Lungenflügel und Knieprobleme. Mir schien noch einiges mehr an ihm defekt zu sein. Ich fand ihn schrecklich ermüdend. Er lachte nicht. Und weil er seine Gedanken für sich behielt, kam er arrogant rüber. Und während ich dir seine Defizite genannt habe, hab ich das Fenster aufgemacht.

„Die stecken sich eine nach der anderen an. Und wir ersticken hier.“

Du hast gesagt: „Sadegh gehört zu den Menschen, die man anfangs gar nicht wahrnimmt. Die man erst allmählich entdeckt. Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, war er dermaßen wortkarg, dass ich nur dachte: So ein Blindgänger. Während Djawid sofort alle in seinen Bann zog, war Sadegh quasi unsichtbar. Er kam uns besuchen, zusammen mit anderen Freunden von Djawid, verkroch sich irgendwo und sprach nur das Nötigste. Aber er war immer hilfsbereit. Eines Abends, als mal wieder eine besonders hitzige Debatte im Gang war, ist er aufgestanden und hat mir geholfen, Nimas Fieber zu senken. Auch bei einem unserer Umzüge war er plötzlich da. Ich saß zwischen prallvollen Umzugskisten, war fix und alle. Konnte mich für die Wohnung kein bisschen begeistern. Du hast sie ja gesehen, im Souterrain gelegen und ohne Sonne. Altmodisch geschnitten, niedrige Decke. Ich hab Djawid angeschrien, hab ihn weggeschickt und gesagt, er soll die Kinder gleich mitnehmen, damit sie aus dem Weg sind. Dann saß ich allein mitten im Wohnzimmer und kam mir vor wie im Fin-Hamam von Kaschan, von Schutzwällen und Türmen umgeben. Solche Abende schlagen einem aufs Gemüt. Man kommt ins Grübeln, fragt sich, wofür leben, warum weitermachen? Als es geklingelt hat, bin ich aufgestanden, kam unterwegs zur Tür am Spiegel im Flur vorbei und dachte: ‚Was macht Charlie Chaplin hier?‘ In meiner kurdischen Pluderhose, mit meinem Lockenkopf und Tränen in den Augen sah ich aus wie er. Sadegh stand vor der Tür. Als er gesehen hat, dass Djawid und die Kinder nicht da sind, hat er gezögert. Wenn Djawid nicht zu Hause war, kam Sadegh nie rein. ‚Er kommt gleich wieder‘, hab ich gesagt. Also ist er reingekommen, hat meine rotgeweinten Augen geflissentlich übersehen. Er hat gesagt, bevor er sich Tee machen kann, muss er das Gas anschließen. Aber zuerst muss er sich was einfallen lassen, um mehr Licht in die Küche zu kriegen. Dann kamen Djawid und die Kinder wieder. ‚Ach lass nur, Ingenieur‘, hat Djawid gesagt. ‚Das ist keine Sache von ein, zwei Tagen‘. Sadegh hat den Küchenschrank an einem Ende gepackt und hat ihn angeschoben. So musste Djawid wohl oder übel am anderen Ende mit anfassen. Bis zum Abend waren alle Schränke an ihren Plätzen. Aller Kram war eingeräumt, und aus dem Kellerkabuff war ein Ort geworden, an dem ich drei Jahre lang wohnen und leben konnte.“

Du hast geseufzt. „Sadegh hat uns kein einziges Mal besucht.“

„Das eine Mal damals hat ihm wohl gereicht“, war meine Vermutung.

„Zwei Wochen später wurden wir alle festgenommen. Ich war nur drei Wochen drin. Djawid kam sechs Monate später frei.“

„Und Sadegh erst sechs Jahre später?“

„Nein, nach drei Jahren. Aber mit den drei Jahren, die er früher schon mal gesessen hat, wurden es insgesamt sechs. Eine schwere Zeit war das. Jeder hat irgendwie für sich allein weitergemacht. Nur er ist uns auf seine Art treu geblieben und hat allen nach Kräften geholfen.“

„Djawid meint, Sadegh ist nicht mehr auf dem neusten Stand. Und er hat seine Ideale verraten.“

„Ich rede nicht von seinen politischen Überzeugungen. Persönlich hat er sich nicht verändert. Er ist noch derselbe wie damals. Anständig, vertrauenswürdig und zuverlässig. Bei ihm weiß man, woran man ist.“

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