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3. Sprache als Medium

Wenn ich im Gespräch mit dem Text mein Sprachbewusstsein schulen und die Wirkungsweisen der Sprache reflektieren möchte, brauche ich zunächst eine Vorstellung davon, was Sprache überhaupt ist und was sie kennzeichnet. Natürlich sind auch hierzu zahllose Definitions- und Betrachtungsweisen im Umlauf. Ich beschränke mich in der Folge auf ein Verständnis von Sprache als Medium, das sich in der Praxis als sehr anschaulich und produktiv erwiesen hat.1

Der Begriff des Mediums

Der Begriff lenkt den Blick auf den Aspekt der Vermittlung selbst und damit auf das, was gemeinhin durch das primäre Interesse am Vermittelten (also der Botschaft) in den Hintergrund rückt. Für weite Teile der Medienwissenschaften legitimiert sich diese Prioritätenverschiebung dadurch, dass die Botschaft ja erst durch das jeweilige Medium geschaffen wird, also quasi eine Erscheinung und damit eine Existenz erhält. Marshall McLuhan, einer der einflussreichsten Pioniere in diesem Feld, postulierte diesbezüglich bereits 1964: „Das Medium ist die Botschaft.“2. Und dennoch betont der Begriff des Mediums immer auch dessen Mittelbarkeit und damit auch seinen genuinen Abstand zum Vermittelten.

Medialität

Im Folgenden werde ich einige (wenige) Aspekte der spezifischen Medialität von Sprache erörtern, d. h. signifikante Kennzeichen ihrer operativen Verfahren zur Vermittlung und Generierung von Information. Sprachliche Medialität unterscheidet sich dabei erheblich von anderen Medialitäten, insbesondere etwa von primär visuellen (wie z. B. Fotografien), weshalb ich Formulierungen wie „Sprachbilder“ oder „bildhafte Sprache“, wie sie im Umgang mit Gedichten häufig verwendet werden (siehe Kap. 1), vermeide.

Ein Gedicht, das diese Medialität der Sprache zu thematisieren scheint, ist Gottfried Benns EIN WORT. Es entstand 1941 und wurde 1948 im Band STATISCHE GEDICHTE veröffentlicht.

Ein Wort

Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen

erkanntes Leben, jäher Sinn,

die Sonne steht, die Sphären schweigen,

und alles ballt sich zu ihm hin.

Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,

ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –

und wieder Dunkel, ungeheuer,

im leeren Raum um Welt und Ich.

Erstverständnis

Der Text, – so zumindest mein etwas unsicheres Erstverständnis – handelt davon, wie aus Schriftzeichen („Chiffren“) eine Vorstellung erwächst („Sinn“). Diese kann dem Anschein nach so stark sein, dass sie für einen kurzen Moment, den ansonsten offenbar (sinn-)leeren Raum „um Welt und Ich“ zu erleuchten und damit zu erfüllen vermag.

Medientransparenz

Für Gedichte ist es nicht ungewöhnlich, von der Sprache zu handeln und somit das eigene Medium explizit zu thematisieren, weshalb sich diesbezüglich viele von ihnen als „Gesprächspartner“ eignen würden. Auch herrscht bei Gedichten häufig die Tendenz vor, die Sprache durch einen außergewöhnlichen Sprachgebrauch zu exponieren und die Grenzen ihrer darstellerischen Möglichkeiten auszuloten (siehe Kap. 1). Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Zymner erkennt gar das wesentliche Merkmal von Texten der Gattung Lyrik darin, dass diese als „Display sprachlicher Medialität“3 fungierten. Damit „arbeiten“ entsprechend gestaltete Gedichte in gewisser Hinsicht gegen das gemeinhin unterstellte Bestreben jedes Mediums, sich möglichst „hinter“ seinem Inhalt oder seiner Botschaft verborgen zu halten. Zumeist bedarf es einer Veränderung oder Irritation der eigenen Rezeptionsgewohnheiten, um den Blick vom vermittelten Ertrag auf den Vermittlungsprozess und damit auf die Medialität zu lenken.4 Sprache gilt dabei als besonders wenig wahrgenommenes, also vergleichsweise transparentes Medium, dessen Botschaften wir – unseren alltäglichen Denkgewohnheiten gemäß – intuitiv decodieren und verarbeiten.5 Ein Wort will normalerweise wohl auch nicht in seiner Eigenschaft als Wort, d. h. als bedeutungstragendes Sprachzeichen betrachtet werden, sondern vielmehr in seiner Bedeutung als Feuerwehr, Pflaumenkuchen oder Kabeljau. Bei Benn erfahren wir nicht einmal, welchem Wort genau hier diese geradezu übernatürliche Sinngenese gelingt. Ist es etwa irgend-ein Wort, also potentiell jedes?

(Un-)Bestimmtheiten

Das Medium Sprache kennzeichnet, dass es einige Informationsaspekte sehr bestimmt vermittelt, während es andere völlig unbestimmt lässt. Könnte man mit einem Foto oder Film etwa ein Phänomen so darstellen, dass es gleichzeitig absolut eindeutig als Wort erkennbar ist (nicht etwa als Krickelei oder sinnlose Zeichenfolge), und doch nichts darüber verraten, um welches Wort es sich handelt; wie lang oder kurz es ist, mit welchem Buchstaben es anfängt, usw.? Die Fotographie eines geschriebenen Wortes würde wohl zwangsläufig vieles bestimmen, was der Text offenlässt. Vor allem würde es das Wort in irgendeiner Weise verorten, es kontextualisieren als Teil eines Geschehens, einer einmaligen Situation, die unendlich viele weitergehende Informationen bereithält, von denen der Text nichts weiß oder zumindest nichts verrät. Wie ist das Papier beschaffen (oder der Computerbildschirm?), auf dem das Wort erscheint; steht es alleine oder inmitten anderer Wörter? Welche Type oder Schrift wurde verwendet? Wie sind die Lichtverhältnisse?, usw. Bei unserem Text ist nicht mal klar, ob hier eine bestimmte Situation beschrieben oder eingefangen wird, in der jenes eine bestimmte Wort den (womöglich einmaligen) plötzlichen „Sinnorkan“ auslöst, oder aber ob eine generelle Aussage zu Worten getroffen wird, die potentiell (und immer wieder) dazu in der Lage sein können, in beschriebener Weise zu wirken.

konventionalisierte Information

Dieses Changieren zwischen allgemeiner und bestimmter Bedeutung ist ein markanter Wesenszug sprachlicher Medialität. Sprache arbeitet mit einem tendenziell begrenzten Repertoire an Wörtern, d. h. standardisierten, vom Kollektiv der Sprachnutzer einigermaßen verbindlich festgelegten Lautzeichen, die in unterschiedlichen Kontexten eindeutig identifizierbar sein müssen. Das Wort Wort „zitiert“ also, selbst wenn es gekrakelt geschrieben oder nuschelig ausgesprochen wird, immer wieder das identische Lautzeichen /ɔʁt/. Mit diesem notwendig konstanten Lautzeichen korrespondiert nun ein ebenfalls einigermaßen konstantes Bedeutungsspektrum rund um eine definierte „Standardbedeutung“. Das Wort Wort bezeichnet also relativ eindeutig eine sprachliche Einheit, genau wie das durchaus ähnliche Wort Wirt relativ eindeutig einen Gastronom bezeichnet (oder doch eher einen parasitär befallenen Organismus?). Sprachlich vermittelte Information ist dadurch immer schon konventionalisiert, d. h. naturgemäß stets einmalige Phänomene der Lebenswirklichkeit werden durch die Bezeichnung mit den immer gleichen Worten zum eindeutig identifizierbareren, allgemeinen Fall von Wort, oder Wirt oder Feuerwehr, usw.

Dass das Medium Sprache Informationen stets durch bereits vertraute Begriffe vermittelt, führt zu einer basalen „Innovationsbeschränkung“. Genuin Neues kann durch Sprache womöglich gar nicht erfahren werden, weil es stets in etablierten Kategorien gefasst ist. Alle Vorstellungen, die in mir produziert werden, beruhen womöglich auf bereits vorhandenen, die lediglich aufgerufen werden. Der Bennsche Text thematisiert dieses Wiedererkennen bereits bekannter Information im Umgang mit Sprache m. E. sogar, indem er von „erkannte[m] Leben“ (Z. 2) spricht. Folglich muss auch er seinen im Grunde wohl völlig einmaligen und unbeschreiblichen Moment der Sinndurchflutung letztlich mittels des vertrauten Vokabulars der Allgemeinheit vermitteln (Ob ihm das gelingt, mag jeder für sich entscheiden). Gleichzeitig demonstriert der Text einen gedichttypischen Ausweg aus dieser lexikalischen Beschränkung, indem er einen Neologismus, d. h. eine Wortneuschöpfung einführt, nämlich den „Sternenstrich“. Dieser ist offensichtlich ein Kompositum (zusammengesetztes Wort) aus zwei gebräuchlichen Substantiven, weshalb es auf mich wohl auch eine gewisse Vertrautheit ausstrahlt. Gleichzeitig fällt es mir durchaus schwer, mir das Phänomen „Sternenstrich“ konkret bzw. bildlich vorzustellen (vielleicht am ehesten als eine Art Meteorit mit Schweif). Es verleitet daher zu einer eher assoziativen oder symbolischen Rezeptionseinstellung gegenüber dem Text, wie sie für Gedichte typisch ist (siehe Kap. 1).

„Neue“ Informationen und spezifische Bedeutungen erhalten die konventionellen Wörter vor allem durch den Kontext; d. h. zum einen durch ihren jeweiligen Äußerungskontext und zum anderen durch den Textzusammenhang. Der Äußerungskontext bedingt etwa, dass dasselbe ja, das wir über den Tag hinweg als Füllwort hundertfach unbedarft in unsere Sätze einfließen lassen, vor dem Traualtar gemeinhin wesentlich an Bedeutung gewinnt oder dass dasselbe ich, von jedem verwendet wird und so auch jeden meinen kann. Der Textzusammenhang wiederum bedingt, dass die immer gleichen, bekannten und begrenzten Sprachzeichen zu einer unendlichen Anzahl von Wortfolgen kombiniert werden, die die Texte letztlich wieder individualisieren. Gebe ich bei Google etwa das Wort Wort ein, erhalte ich prompt über 98.100.000 Suchergebnisse aus allen möglichen Kontexten, in denen es verwendet wird. Gebe ich allerdings die Wortfolge „Ein Wort, ein Satz“ ein, werde ich geradewegs auf mein Benn-Gedicht verwiesen. Der französische Strukturalist Roland Barthes kommentiert den innovativen Umgang mit Sprache entsprechend wie folgt:

Kombinatorik

[M]an spielt mit einem außergewöhnlichen Gegenstand, dessen paradoxen Charakter die Linguistik oft hervorgehoben hat: stets gleichbleibend strukturiert und dennoch unendlich abwandelbar: etwa so wie das Schachspiel.6

Grammatik

Dennoch bleibt das Medium Sprache nicht nur durch die Konventionalität seiner Wörter beschränkt, sondern auch durch seine Anordnungs- und Flexionsregeln. Sprachnutzer kombinieren die bekannten Wörter in der Regel nämlich zu grammatikalisch korrekten Sätzen. Die gängigsten bestehen in der Basis aus einem Subjekt (als Aktanten) und einem Prädikat. Folglich tendiert das Medium Sprache in seiner Darstellung von Geschehen auch dazu, dieses als Reihung von Handlungen aufzubereiten und die Subjekte und ihre Tätigkeiten ins Zentrum der Wahrnehmung zu rücken. Bei unserem Gedicht fällt auf, dass solche konventionellen Sätze (mit handelnden Subjekten) nur in der ersten Strophe verwendet werden (der Sinn steigt, die Sonne steht, die Sphären schweigen, alles ballt sich), während die zweite Strophe komplett auf Prädikate verzichtet und damit den „Aufzählungsstil“ fortführt, mit dem beide Strophen gleichermaßen beginnen. Wozu?

Linearität

Dieses „Aufzählen“ wiederum repräsentiert in gewisser Hinsicht einen weiteren wesentlichen Zug des Mediums Sprache in seiner „Anordnungsmechanik“, nämlich seine Linearität. Ein Text ist stets bestimmt durch die sukzessive und lineare Folge von Worten, was bedingt, dass in der sprachlichen Darstellung auch alle geschilderten Sachverhalte nacheinander benannt werden müssen. Entsprechend scheitert er geradezu substantiell darin, gleichzeitig ablaufendes Geschehen adäquat zu vermitteln.7 Im Geschehen, das uns der Text (vermutlich) darstellen will, passiert vieles gleichzeitig, das wir nacheinander erfahren,8 so z. B. das Stehen der Sonne und das Schweigen der Sphären. Die Reihenfolge, in der ein Text seine Worte setzt und damit auch seine Informationen übermittelt, lässt sich dabei stets hinterfragen und ausdeuten. So ist es vermutlich von Bedeutung, dass der Text das Wort „Wort“ so prominent nach vorne setzt und zu Beginn der zweiten Strophe noch wiederholt und ebenso dass er ausgerechnet auf dem bis dahin unerwähnten „Ich“ endet (ob es durch diese Position nun besonders betont oder besonders marginalisiert wird, sei mal dahingestellt).

implizites Äußerungssubjekt

Das Wort Ich scheint mir hier bemerkenswerterweise nicht als Personalpronomen eingesetzt worden, sondern wiederum eher in einer allgemeinen Bedeutung als „jedermanns Ich“ gemeint zu sein. Darüber hinaus gibt es in diesem Text (wie in jedem anderen auch) aber ein implizites, d. h. verstecktes Ich, nämlich jenes, dass die Wörter im Text geäußert haben muss. Wörter (als konkrete Laut- oder Schriftphänomene) sind ja nicht einfach so da, sondern müssen von irgendjemandem bewusst produziert werden, um in die Welt zu gelangen. Der Sprachphilosoph John Searle klassifiziert entsprechend jede Form der Sprachverwendung notwendig als „regelgeleitetes intentionales Verhalten“9 einer Person und damit als Handlung (siehe Kap. 5). Schließlich kennzeichnet das Medium Sprache in seiner Linearität und seinem notwendigen „Geäußertwordensein“ auch eine Tendenz zur Einstimmigkeit. Ein Text präsentiert immer nur eine Zeichenfolge, genau wie ein Sprechapparat nur eine Stimme erklingen lässt und nicht mehrere gleichzeitig. Eine sprachliche Äußerung erscheint stets als das Ergebnis der Auswahl und Sortierung dieses einen Ichs.10 Bei literarischen Texten wird die Einstimmigkeit allerdings häufig dadurch „unterwandert“, dass man ihnen einen fiktionalen Statuts zuerkennt. Dieser bedingt, dass Autor und Äußerungssubjekt unterschieden und damit entkoppelt werden, wodurch sich die Äußerung in gewisser Hinsicht „verdoppelt“. Bezogen auf unser Gedicht hieße das: Wir haben zum einen den Text als eine Äußerung seines Autors Gottfried Benn und zum anderen gleichzeitig als eine Äußerung jenes namenlosen, impliziten Ichs im Text. Beide Äußerungen sind zwar im Wortlaut identisch, aber eben Teil unterschiedlicher Kommunikationszusammenhänge: Der Autor „spricht“ zur Leserschaft, das Ich zu einem (ebenfalls namenlosen) Du im Text.

Äußerungsrelevanz

Autoren haben in gewisser Hinsicht absolute Kontrolle darüber, welche der verfügbaren Sprachzeichen, in welcher Reihenfolge in ihren Texten auftauchen und welche nicht. Alle vorgefundenen Zeichen – so ließe sich demnach unterstellen – wurden bewusst gesetzt; ungenutzte Zeichen womöglich bewusst ausgelassen. Mit diesem Umstand gehen weitere Unterstellungen einher, die für ein Textgespräch von Bedeutung sein können, nämlich: der Äußernde hält die durch die Zeichen vermittelten Informationen für relevant und ausreichend vollständig,11 zudem hält er seine Äußerung insgesamt für relevant (also äußerungswürdig), sonst hätte er sie ja gar nicht getätigt. Für ein Textgespräch schließen sich folglich viele Fragen nach der Wortauswahl an: Warum diese Wörter und nicht andere oder weniger oder noch mehr? Worin sieht ihr Verwender ihre Äußerungswürdigkeit und Relevanz? Wem gegenüber äußert er sie? Was sagt die Auswahl über den Äußernden aus? Die Unterstellung einer „totalen Bedeutsamkeit“, die die Gedichtanalyse ausmacht (siehe Kap. 1), erscheint mir für den Umgang mit Texten dabei angemessener als bei anderen Medien. Wenn man etwa auf einem Foto im Hintergrund einen Vogel entdeckt, könnte dieser unbeabsichtigt ins Bild geraten sein, als Teil der Umstände des lebenswirklichen Geschehens eben. Wenn ein Vogel in einem Text erwähnt wird, muss dieser vom Textproduzenten hingegen bewusst dort platziert worden sein. Durch die Nennung erhält der Vogel unweigerlich Relevanz und gerät – zumindest für den Moment – in den Fokus. Bezogen auf unser Gedicht lässt sich etwa festhalten, dass ein Bild oder Film bei der Darstellung von Geschehen große Schwierigkeiten hätte, seinen Betrachtern die Information „die Sphären schweigen“ adäquat zu vermitteln. Wir würden diese Sphären (was sich immer mit diesem recht kryptischen Begriff nun genau bezeichnet werden soll) vermutlich gerade wegen ihres „Schweigens“ nicht wahrnehmen.

Behauptungspotenzial

Das Medium Sprache hat zudem – anders als viele andere Medien – die Möglichkeit und die Tendenz, Sachverhalte einfach zu behaupten. Unser Text behauptet z. B. einfach, dass die Sphären schweigen und ich bin überraschenderweise bereit dazu, ihm zu glauben, ohne auch nur zu wissen, was genau diese schweigenden Sphären überhaupt sein sollen. Genauso schafft er einen „Flammenwurf “ zumindest in meiner Vorstellung, einfach durch die Reihung einiger weniger Schriftzeichen. Im Grunde belegt und veranschaulicht er damit die „Evokationsmacht“ der Sprache, die er selbst thematisiert. Indem die Sprache etwas benennt, schafft sie im Rezipienten (häufig recht konkrete) Vorstellungen, ohne großen Material- und Simulationsaufwand und ohne dass diese Vorstellungen etwas mit lebenswirklichen Tatsachen zu tun haben müssten. Sprache ist damit – ihrer konventionsbedingten Beschränktheit zum Trotz – ein wahres „Schöpfungs-Medium“. Versteht man das Bennsche „Wort“ als Anspielung auf den berühmten Anfang des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ ergibt sich eine Lesart des Textes, die sprachliche Schöpfung als Äquivalent von göttlicher Schöpfung skizziert.12

Informationsrudimente

Wie genau die evozierten Vorstellungen nun allerdings aussehen, entscheidet sich wohl in jedem Rezipientengehirn individuell; wenn auch sicherlich nicht beliebig. Sieht man wirklich einen Flammenwurf vor dem inneren Auge, spürt man womöglich gar seine sengende Hitze oder akzeptiert man (wie ich) eher informativ, dass der Text einen Flammenwurf benennt (und damit seine Existenz behauptet) und damit ohne sich eine konkrete Vorstellung über dessen physische Beschaffenheit zu machen. Ein Text liefert in seiner asituativen Informationspolitik letztlich immer nur „Informationsrudimente“, die es selbstdenkend zu ergänzen gilt, um daraus kohärente, d. h. zusammenhängende Vorstellungen zu entwickeln. Häufig geschieht dies wohl auch ganz unbewusst auf Basis des eigenen Weltwissens, Erfahrungsschatzes und Sprachgebrauchs. Ich habe zum Beispiel direkt gedacht, dass das Wort, um das es geht, Teil des Satzes sein muss, der in der ersten Zeile gleich im Anschluss erwähnt wird. Mir scheint es, als würde ein Leseprozess beschrieben, bei dem ein Wort nach dem anderen rezipiert wird, wodurch sich Schritt für Schritt eben jener jähe Sinn entfaltet, zu dem sich alles hin ballt. Dass der Text dennoch auf dem titelgebenden einen also einzelnen Wort zu bestehen scheint, das jenen epiphanischen Sinnmoment initiiert, deute ich als Markierung eines bestimmten Erkenntnismomentes innerhalb des Lektüreprozesses. So ließe sich auch der geänderte Umgang mit Prädikaten von der ersten zur zweiten Strophe erklären. Prädikate suggerieren Prozesshaftigkeit und Dauer; der Verzicht auf eben diese führt zu einer empfundenen Beschleunigung der Ereignisse, wie sie hier effektvoll evoziert wird. Wort, Glanz, Flug, Feuer, Flammenwurf und Sternenstrich scheinen sich unmittelbar auseinander zu ergeben. Tatsächlich scheint es mir, als würde der entscheidende Moment im Bindestrich nach dem „Sternenstrich“ (und damit nach der Wortneuschöpfung) in seiner Wirkungsdauer dann exakt terminiert und eingefangen und somit in gewisser Hinsicht gerade „jenseits“ der Wortebene situiert. Mit dem „und“ der Folgezeile setzt dann wieder der „gewohnte“ Zustand von Dunkelheit und Leere ein.

Bei näherer Betrachtung wirken die Bezüge zwischen den Wörtern im Text auf mich allerdings doch sehr ambivalent. Ist das eingangs erwähnte Wort wirklich Teil des Satzes oder ist es womöglich bereits der ganze Satz? Und sind das erkannte Leben und der jähe Sinn (Z. 2) dasselbe oder zweierlei? Die Plural Verbform „steigen“ suggeriert, dass mehrere „Aktanten“ aus den Chiffren steigen (also Leben und Sinn), das Personalpronomen „ihm“ in der vierten Zeile steht allerdings im Singular und könnte sich sowohl auf das Leben als auch auf den Sinn beziehen; oder sogar auf das Wort oder gar den Satz? Oder fallen Wort und Sinn im beschriebenen Moment gerade in eins und lösen dadurch gerade den fulminanten „Sinnorkan“ aus?

Poetologische Lesart

Bei nochmaliger Lektüre der zweiten Strophe werde ich auf einmal verunsichert, ob es sich wirklich um einen Leseprozess handelt, der dargestellt wird. Flammenwurf und Sternenstrich wecken in mir eher Assoziationen an einen Schaffensprozess, also womöglich den Prozess des Dichtens, bei dem auf einmal jenes eine „magische Wort“ erkannt und verwendet wird. Vielleicht erklärt sich diese Unsicherheit damit, dass der Schaffensprozess in der Dichtung in gewisser Hinsicht immer auch ein Leseprozess ist, weil dabei stets im vorhandenen Zeichenrepertoire der Sprache gesucht und damit „gelesen“ wird. Das Gedicht wäre damit ein poetologisches, d. h. eines, das die Dichtkunst behandelt.

Zu diesem Zeitpunkt erscheint es mir sinnvoll, den Blick von diesem Text zu lösen und andere ins „Gespräch“ einzubeziehen; andere Benn-Gedichte ähnlichen Inhalts etwa oder auch poetologische Gedichte anderer Autoren, die das Bennsche Schreiben womöglich beeinflusst haben (wie Rainer Maria Rilke oder Stéphane Mallarmé).13 Da dies aber über den hier verfolgten Ansatz hinausgehen würde, lasse ich an dieser Stelle vom Benn-Gedicht ab, wohl wissend, dass es noch viele Unklarheiten aufzuklären gelte. Gerade die offenen Ambivalenzen werte ich als Analyseerfolg, da sie die Sprache in ihrer Medialität stets genuin bestimmen und sie aufgrund ihrer trügerischen Vertrautheit und Behauptungsgewalt dennoch häufig übersehen werden. Die Sprache ist in ihrer klaren Begrifflichkeit pseudo-genau, dabei kann sie ein lebenswirkliches Geschehen im Grunde nie darstellen, ohne es massiv zu verklären bzw. eben zu „versprachlichen“. Auf einmal erhalten eigentlich gleichzeitig präsente Phänomene eine Reihenfolge; entstehen Lautbeziehungen zwischen völlig wesensfremden Entitäten (wie etwa der Reim zwischen „Ich“ und „Sternenstrich“).

Grundsätzlich kann Sprache eigentlich nur Sprache einigermaßen genau und überzeugend abbilden (etwa in Form von wörtlicher Rede). An diesem Meta-Text über Sprache zeigt sich aber auch ihr diesbezügliches Unvermögen, schließlich braucht sie zwei Worte um „ein Wort“ überzeugend und verständlich darzustellen. Da die sprachlichen Informationsrudimente notwendig im Kopf der Rezipienten selbstdenkend ergänzt werden, ist eine gewisse Ambivalenz unerlässliches Kennzeichen ihrer Medialität und wird gerade in Gedichten gerne produktiv eingesetzt, um Bedeutungsspielräume zu eröffnen. Eine Interpretationspraxis, die glaubt auf Basis ihrer Deutungshoheit eindeutig zwischen einer richtigen und vielen falschen Lesarten Urteile fällen zu können, erweist sich demnach in der Regel als einzig richtig falsche.

Wie lassen sich unsere bisherigen Überlegungen und Befunde zur Medialität der Sprache nun aber für andere Textgespräche funktionalisieren, d. h. auch solche, bei denen die Sprache nicht explizit Thema ist (wie etwa ZWEI SEGEL)?

Zwei Segel

Wie bereits bei der Inhaltsangabe festgestellt (siehe Kap. 1), kann man sich etwa für die diversen Unbestimmtheiten im Text sensibilisieren, bzw. den eigenen unbewussten Ergänzungsprozess beobachten und zu plausibilisieren versuchen. Dabei erweist es sich wiederum häufig als sinnvoll, den eigenen Leseeindruck mit anderen Lesenden zu diskutieren. Neben der Anzahl der Boote oder dem potentiellen Ein- oder Ausfahren kann etwa über die Tageszeit diskutiert werden, die im Text keinerlei Erwähnung findet. Etwa die Hälfte der Studierenden gab an, dass das Geschehen bei Tag stattfindet, bei strahlendem Sonnenschein. Vermutlich ist dies die gewohnheitsmäßige Annahme, sofern nichts Anderweitiges vom Text angedeutet wird. Allerdings gab ein gutes Drittel an, sie gingen davon aus, das Geschehen fände in der Nacht bei Mondschein statt. Vielleicht suggeriert für sie das Erhellen im Text eine notwendige Dunkelheit. Auch die ruhige Flucht strahlt etwas von Heimlichkeit und Ruhe aus, die man wohl mit Nacht assoziieren könnte. Besonders interessant ist eine dritte Gruppe, die angibt, keine Vorstellung von der Tageszeit und den entsprechenden Lichtverhältnissen zu haben, einfach weil sie sich das durch den Text vermittelte Geschehen nicht in ein konkretes Vorstellungsbild übersetzen. Tatsächlich sind wir im Umgang mit Sprache gerne dazu bereit, – wider unsere lebensweltliche Erfahrung – Geschehen zu akzeptieren, das keiner (vollständigen) Situation zugeordnet ist und bemerkenswert unvollständige Informationen vermittelt; wie Boote ohne konkrete Erscheinung, Szenarien ohne Lichtverhältnisse und Buchten ohne Gestalt. Bei der Übertragung des Textgeschehens in ein Bild wäre wohl notwendigerweise vieles festzulegen, was in der Sprache offenbleibt. Dabei liegen in ihrer eigenwillig teilbestimmten Informationspolitik häufig große Wirkungspotentiale und ergiebige Analyseerträge.

Satz für Satz-Paraphrase

Um sich für die Informationspolitik des jeweiligen Textes zu sensibilisieren, bietet es sich an, die spezifische sprachliche Darstellung zu hinterfragen, indem man überlegt, wie sie alternativ hätte gestaltet werden können und was sich dadurch verändern würde. Eine bewährte Technik ist hierbei die Satz für Satz-Paraphrase, bei der die einzelnen Sätze dem eignen Sprachgebrauch und -empfinden gemäß umformuliert werden, um so – im Vergleich beider Versionen – auf Besonderheiten und Merkwürdigkeiten der ursprünglichen Formulierungen zu stoßen. Hierzu eignen sich auch Ersatz-, Umstell-, Weglass, Ergänzungs- und Klangproben.14 Dabei wird häufig auch sinnfällig, ob der Text Ordnungsmustern unterliegt, die bestimmte Formulierungsentscheidungen plausibilisieren könnten, z. B. ein Reimzwang oder wiederholte Zeilenanfänge, etc. Ein Stück weit gilt es dabei also auch den Produktionsprozess nachzuvollziehen; wenn auch nur fiktiv. Auch bei der Paraphrase kann und sollte man wie bei der (eng. verwandten) Inhaltsangabe die eigene Version mit anderen Lesenden diskutieren, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, inwieweit das eigene Textverständnis dem allgemeinen Leseeindruck entspricht.

Im Falle von ZWEI SEGEL stelle ich mir und dem Text etwa die Frage, warum von „Segel[n]“ und nicht von Booten die Rede ist. Viele Interpretationen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass es eigentlich um Boote geht, die stellvertretend durch das Segel bezeichnet werden, wohl weil Segel uns in der Regel nur als Bootsbestandteil begegnen. Dabei ist die Sprache in ihrer Vermittlung (und Behauptung) von Informationen nicht grundsätzlich an unsere Lebensund Erfahrungswelt gebunden, sodass hier auch Segel ohne Boot eine Bucht erhellen könnten; oder auch Kuchen essen oder Kreise quadrieren, ohne dass dies notwendigerweise symbolisch verstanden werden müsste (siehe Kap. 1). Auch könnte durch den Segel-Begriff womöglich die Beobachterperspektive des Äußerungssubjektes gekennzeichnet werden, das von seiner Position aus nur die Segel erkennen kann. Dennoch gestehe ich mir ein, dass auch ich die beiden Segel im Kopf direkt zu zwei (Segel-)Booten ergänzt habe. Man nennt diese Technik der Benennung eines Phänomens durch einen Bestandteil in der Rhetorik Synekdoche. Diese Darstellungsweise ist dabei weniger medienspezifisch, als man meinen könnte. Bildmedien müssen häufig zwangsläufig Ausschnitte oder Details stellvertretend für Phänomene setzen, die sie in Gänze nicht abbilden können (z. B. fünf Soldaten anstelle einer ganzen Armee, o. ä.). Die Sprache hat hier in der Regel echte Darstellungsvorteile und kann etwa ganze Staaten oder Bevölkerungsgruppen gesamtheitlich benennen und damit evozieren. Die Wahl des Segel-Begriffs anstelle des (Segel-)Boot-Begriffs erscheint mir folglich durchaus relevant zu sein, weil er auf diesen Bestandteil fokussiert und dabei deutlich andere semantische Implikationen und Assoziationen hervorruft. Die Betonung des Segels lenkt den Fokus stärker auf die Mechanik des Segelns, während das Boot vielleicht eher Assoziationen der Reise und des Weges weckt, die die Bedeutung des Textes als Allegorie – d. h. als Text, der gesamtheitlich einen zweiten, metaphorischen Leseweg nahelegt – in eine andere Richtung lenken würde (etwa: Das Leben als Reise). Im Unterschied zum Boot ist ein Segel schlicht, da es nur aus einem (in der Regel weißen) Tuch besteht. Es dient dem Antrieb und ist somit essentieller Bestandteil bestimmter Boote; gleichzeitig ist es im Wortsinne abhängig vom Boot, an dem es befestigt ist, wie vom Wind, der eigentlichen Antriebskraft des Segels. Ein Segel ist damit in seiner Funktionalität – stärker als ein Boot – von einer bemerkenswerten Ambivalenz zwischen Aktivität und Passivität gekennzeichnet. Für die Lesart des Textes als Allegorie stellt sich zudem die Frage, welche Stellvertreterposition Segel und Boot denn einnehmen. Stehen die Segel für zwei Menschen, die entsprechend als unselbstständiger Bestandteil eines größeren Zusammenhangs [dem (den) unerwähnten Boot(en)] zu betrachten wären oder aber für einen Bestandteil der Menschen [ergo Boote], etwa deren phonetisch anklingende Seele?

Auffällig finde ich auch die merkwürdigen Partizip-Präsens-Verbformen, die sich nicht sinnvoll über den Reimzwang erklären lassen (denkbar wäre auch erhellen/sich schwellen). Durch diesen Kniff entzieht sich der Text allerdings der basalen grammatikalischen Anforderung, die Segel im Satz als Subjekte oder aber als Objekte einer Handlung festzulegen. Vielleicht sind die Partizipien daher eine grammatische Entsprechung dieser ambivalenten Dynamik zwischen Aktivität und Passivität, die das Segel auch in seiner Funktion als Antrieb kennzeichnet.

In der zweiten Strophe lässt sich eine ähnliche Beobachtung machen: Hier wird das erstgenannte Segel zwar grammatisch als aktiv bestimmt, semantisch wird aber auf den Wind als eigentlich handelnden verwiesen (eine alternative Formulierung wäre etwa: Wie eins durch den Wind gewölbt und bewegt wird). Das semantisch klare Abhängigkeitsverhältnis zwischen Segel und Wind ist überdies ein vom Text marginalisiertes. Im Zentrum steht offensichtlich eher das Verhältnis zwischen den Segeln, über das allerdings wiederum ambivalente Informationen vermittelt werden. In Strophe 1 werden sie gemeinsam als Handlungsträger (bzw. -Objekt) benannt und können folglich lexikalisch nicht unterschieden werden. Ab Strophe 2 werden zwar Handlungsträger im Singular benannt und grammatisch unterschieden, diese bleiben aber in der Bezeichnung und Unterscheidung der einzelnen Segel unbestimmt. Damit trickst der Text die durch die Linearität erzwungene, implizit wertende Reihenfolge der Textinformationen aus; da wir die Segel nicht bestimmt voneinander unterscheiden können, gibt es auch kein erst- und zweitgenanntes.

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