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4. Fremdes Angesicht

Gemeinsam mit Joan schleifte ich unsere Koffer die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Und mit jeder Stufe, die ich mich dem Flur näherte, der zu meinem Zimmer führte und mich seit Jahren in meinen Träumen verfolgte, nahm das Unbehagen zu. Kaum hatte ich das dämmrige Treppenhaus betreten, überzog eine Gänsehaut meinen Rücken.

Es war ein kleiner Schock, als ich feststellte, dass der finstere Korridor meiner Albträume ein exaktes Ebenbild der Wirklichkeit war. An viele Dinge aus meiner Kindheit konnte ich mich nur noch vage erinnern. So sehr ich es auch versuchte, sie mir deutlicher ins Gedächtnis zu rufen, so blieben sie doch stets nur schemenhaft. Selbst das geliebte Gesicht meines Vaters, den ich mit fünf Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, war in meinem Geiste verblasst. Aber dieser Gang, der nun vor mir lag, hatte sich für die Ewigkeit in mein Gehirn eingebrannt.

Sogar jetzt, an diesem trüben Herbstnachmittag, erstreckte er sich im Halbdunkel genauso vor mir, wie ein endloser Pfad, der ins Nichts führte. Das wenige Tageslicht drang zum einzigen Fenster herein, das am linken Ende des Flurs lag, neben meinem alten Kinderzimmer. Rechter Hand dagegen herrschte Düsterkeit. Da weder die Tür des Badezimmers noch die des Schlafzimmers meiner Eltern geöffnet war, konnte man keine drei Schritte weitersehen. Ich setzte meinen Fuß auf den dicken Teppich, der jeden Laut verschluckte und glaubte im selben Moment, einen kalten Windhauch aus dem Dunkeln zu spüren. Ich stockte abrupt in meiner Bewegung.

»Wo entlang, Mama? Nach rechts oder links?«, fragte Joan ungeduldig und vertrieb damit die finstere Sinnestäuschung.

Mit einem erzwungenen Grinsen deutete ich in Richtung des kleinen Fensters. »Nach links. Auf der linken Seite ist mein altes Kinderzimmer und auf der rechten war früher ein kleiner Raum, in dem meine Mutter die Wäsche bügelte.«

»Was liegt auf der anderen Seite des Gangs?«

»Geradeaus findest du die Toilette, rechts davon das Badezimmer und gegenüber diesem das Schlafzimmer deiner Großeltern.«

Wir gingen den Flur entlang und Joan warf nochmals einen Blick zurück in die Dunkelheit. »Das muss ja riesig sein. Es belegt fast die ganze Seite des Hauses, oder?«

»Na ja, das Bügelzimmer beansprucht zwar einen kleinen Teil«, erwiderte ich. »Aber du hast Recht, es ist verhältnismäßig groß. Wahrscheinlich liegt es an dem begehbaren Wandschrank, den meine Eltern sich einbauen ließen.«

Bilder von dem besagten Raum zuckten durch meine Hirnwindungen. Unscharf und doch konnte ich die Silhouette meines Vaters erfassen. Groß und breitschultrig sah ich in ihn zwischen den Regalfächern und Kleiderstangen stehen. Melancholie befiel mich, denn jede Kleinigkeit schien mich an ihn zu erinnern.

Joan öffnete die Tür meines ehemaligen Zimmers und mit einem Schlag fühlte ich mich wieder als der Teenager von sechzehn Jahren. Es war, als hätte meine damalige Flucht diesem Raum alles Leben entzogen, ihn in ein zeitloses Vakuum verwandelt. Der Lauf der Welt, gar der Zeit, war an diesem Ort aufgehalten worden.

Auf meinem breiten Himmelbett lag die mir vertraute Steppdecke, als hätte ich sie erst vor wenigen Stunden über den Kissen ausgebreitet. Zugegeben, die Farben hatten in ihrer Leuchtkraft nachgelassen, doch noch immer war das zarte Ringelblumenmuster gut zu erkennen. Selbst die orangefarbenen Volantvorhänge, die das Himmelbett und die Fenster zierten, waren in tadellosem Zustand. Kein Riss, kein loser Faden zeigte sich an ihnen. Allein der Staub, der sich in den Falten des Stoffes angesammelt hatte, verbreitete den unverkennbaren Geruch von Vergänglichkeit.

Mein Schreibtisch und die Regale, gefüllt mit Büchern und Nippes, waren ebenfalls so belassen worden.

Der Zustand des Zimmers war jedoch kein Anzeichen für eine Sehnsucht nach mir, die meine Mutter hegte. Oh nein, das wusste ich. Es war lediglich Bequemlichkeit und noch Schlimmeres: Gleichgültigkeit, die sie bewogen hatte, alles so liegenzulassen. Es war ihr egal, was mit meinem Zimmer und meinen Sachen geschah. Hätte sie diesen Raum für etwas Bestimmtes nutzen wollen, hätte sie gewiss nicht einen Moment gezögert, ihn leerzuräumen und die Möbel der Müllabfuhr zu übergeben.

Aber ich wollte mich nicht darüber beklagen, sondern war letztlich dankbar dafür, für die kommenden Nächte ein genügend breites Bett für Joan und mich zu haben.

»Du hattest ein Himmelbett? Geil!«, freute sich meine Tochter und ließ ihre Koffer und Taschen fallen.

Guter Dinge stellte auch ich das Gepäck ab und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Ich raufte die Tagesdecke vom Bett und schüttelte sie kräftig außerhalb des Fensters aus. Feine Staubwölkchen stoben in einer feuchten Herbstbrise davon. Die Kissen erfuhren die gleiche Prozedur wie die Decke und nach dem ich die Matratze abgeklopft hatte, glaubte ich, den stickigen Geruch einigermaßen vertrieben zu haben.

Joan hatte in der Zwischenzeit in den Schränken herumgestöbert und herausgefunden, dass diese lediglich Bettwäsche, aber keinerlei Kleidung enthielten. Ich vermutete, dass meine alten Kleider bei einem Wohltätigkeitsverein gelandet waren. An sich würde dies für meine Mutter sprechen, wenn ich nicht wüsste, wie skrupellos sie es verfolgte, sich in der Öffentlichkeit im besten Licht darzustellen. Das, was fremde Leute über sie oder die Familie dachten, war ihr schon früher wichtiger als alles andere gewesen. Wichtiger als ihre Tochter. Bittere Wut erwachte in mir und wirbelte schmerzende Erinnerungen aus den Tiefen empor.

In aller Deutlichkeit konnte ich sie wieder vor meinem Bett stehen sehen. An jenem Morgen, als ich von einem schmerzhaften Ruck an meiner Kopfhaut erwachte. Niemals könnte ich den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergessen. Mit einer Mischung aus Zorn und Befriedung hatte sie sich über mich gebeugt. Erst auf den zweiten Blick hatte ich dann die Schere in ihrer rechten Hand entdeckt und das Büschel brauner Haare in ihrer linken. Es hatte einen Moment gedauert, bis mein müder Verstand erkannte, dass es meine Haare waren, die sie in ihrer Faust hielt. Mit einem lauten Heulen hatte ich mich im Bett aufgesetzt, doch sie verzog ihren Mund voller Abscheu.

»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. Ich werde es dir noch austreiben, in der Gegend herumzuhuren. Sollte mir noch einmal zu Ohren kommen, wie du den Männern hinterherjagst, rasiere ich dir den Schädel kahl. Das schwöre ich dir!«, hatte sie mich angegiftet.

All mein Weinen nützte jedoch nichts, meine langen Wellen waren abgeschnitten. Die unterschiedlich kurzen Strähnen, die traurig von meinem Kopf herunterbaumelten, bedeckten nicht mal mehr meine Ohren.

Für sie war der Besuch einer Abschlussfeier in der Schule Hurerei gewesen, Tanzen ein Männerhinterherjagen. Und für mich war jener Morgen letztlich der Grund, weshalb ich mich entschloss, davonzulaufen.

Joans Seufzen holte mich in die Gegenwart zurück. »Na ja, immerhin besser als unter einer Brücke zu schlafen, oder?« Sie ließ sich auf das Bett plumpsen und beobachtete mich dabei, wie ich die Koffer öffnete. »Glaubst du, dieser Herr Karlson ist mehr als ein Freund für Großmutter?«

Belustigend stierte ich sie an. »Du meinst doch nicht etwa ...?«

Meine Tochter kicherte verschmitzt: »Doch. Vielleicht ist er ihr junger Stecher. Schließlich können sich auch ältere Frauen einen jüngeren Geliebten zulegen.«

Obwohl ich noch vor ein paar Minuten die gleichen Vermutungen angestellt hatte, musste ich mir dennoch eingestehen, dass dies für meine Mutter nie in Frage kommen würde. Abwegig schüttelte ich den Kopf. »Nein, sie würde niemals etwas tun, was ihrem Ruf schaden könnte.«

»Also, ihr verwilderter Garten ist auch nicht gerade das beste Aushängeschild.«

Ich stimmte ihr nachdenklich zu. »Ja, wohl wahr. Aber da jeder im Ort von ihrem Schlaganfall weiß, der sie körperlich einschränkt, scheint der verwahrloste Zustand des Anwesens für sie kein Problem zu sein. Anscheinend kann sie sich es auch nicht leisten, jemanden für die Gartenarbeit anzuheuern.«

Jäh kam mir eine Idee. »Vielleicht sollten wir ihr anbieten, den Garten wieder auf Vordermann zu bringen? Was meinst du?«

Die Begeisterung meiner Tochter, sich durch die meterhohe Wiese zu wühlen, hielt sich augenscheinlich in Grenzen. Sie zog eine unwillige Schnute. »Wenn es sein muss.«

Ich grinste verständnisvoll. »Ich weiß, dass das hier alles ganz fürchterlich für dich sein muss. Aber ich denke, wenn wir uns ihr gegenüber ein bisschen erkenntlich zeigen, für die Unterbringung, wird sie uns nicht völlig wie Aussätzige behandeln.«

Zögernd nickte Joan. »Na gut.« Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Sie ist wirklich ein alter Giftzahn. Ich kann verstehen, warum du vor ihr davongerannt bist.« Traurigkeit machte sich plötzlich auf ihrem zarten Gesicht breit. »Sie hätte dich gezwungen, mich abzutreiben, nicht wahr?«

Betroffen hielt ich mit dem Auspacken inne, stand auf und ging zu ihr hinüber, um sie in eine Umarmung zu ziehen.

»Nein!«, sagte ich fest und nahm ihr Gesicht zärtlich in meine Hände. »Niemals hätte ich auf irgendeine Weise zugelassen, dass sie dich mir wegnimmt. Du bist das Wundervollste, was mir je im Leben geschenkt wurde, Joan. Dein leiblicher Vater mag ein Volltrottel gewesen sein, weil er mich schwanger vor die Tür setzte, aber du bist das Beste, was er vollbracht hat.« Ihre grünen Augen glänzten feucht und ich lächelte sanft. »Und er war gar kein so schlechter Sänger.«

Mit zittriger Stimme fragte sie halb weinend: »Besser als Paul?«

»Ja!«, entgegnete ich in einem Lachen. »Viel besser, aber das ist keine Kunst. Denn dein Stiefvater hatte eine schreckliche Stimme.«

Auch Joan lachte nun wieder und in Gedanken an Paul verdrehte sie die Augen. »Leider sah er das anders, wenn er unter der Dusche stand und lautstark seine Arien schmetterte.« Verlegen entfernte sie meine Hände von ihren Wangen, ließ sie jedoch nicht los. »Aber er war mir ein guter Vater. Zumindest bis er die Scheidung einreichte.«

»Ja, das war er«, nickte ich niedergeschlagen. »Es tut mir leid, Joan.«

Empört schaute sie zu mir auf. »Nein, Mama!«

Schluckend kämpfte ich gegen die Tränen an, die mir aus Augen quellen wollten. Ich durfte jetzt nicht schwach werden, ich musste stark bleiben, für uns beide.

»Doch«, murmelte ich. »Ich habe so viele Fehler in meinem Leben gemacht und du musstest immer darunter leiden. Es tut mir so leid.«

Vehement schüttelte Joan den Kopf. »Mama, nein! Sag doch sowas nicht. Ich hatte immer ein schönes Leben. Und das hier ist ... ein Abenteuer, das wir gemeinsam bestehen. Wir werden wieder glücklich werden. Mach dir keine Sorgen.«

»Ja«, hauchte ich und atmete durch. Verstohlen wischte ich meine Augenwinkel trocken. Eine erbärmliche Mutter war ich, die auf den Zuspruch ihrer Tochter angewiesen war. Stattdessen sollte es doch andersherum sein. Mit dem Vorsatz, keine Schwäche mehr zuzulassen, straffte ich die Schultern.

»Komm, bringen wir unsere Kosmetiktaschen ins Bad. Dann vertrödeln wir morgen früh keine Zeit damit. Schließlich solltest du an deinem ersten Schultag pünktlich sein.«

Maulend erhob sich Joan und folgte mir mit bedrückter Miene in den finsteren Flur.

»Sieh es von der Seite: neue Schule, neues Glück und ... neue Jungs.« Ich wollte sie aufmuntern und vielleicht auch mich selbst beruhigen. Denn erneut hatte mich das Unwohlsein eingefangen. Das kleine Fenster im Rücken, ruhte der schmale, lange Gang in Schwärze nun vor uns. Mir war, als lauere in der Dunkelheit etwas auf mich, als wolle mich eine unbekannte Gefahr verschlingen. Die Furcht war auf einmal da. Stark. Nicht zu ignorieren. Ich zwang mich zum Weitergehen, denn ich wusste, dass an der Wand neben dem Treppenaufgang ein Lichtschalter wartete. Mit klopfendem Herzen schritt ich voran und streckte schon von weitem meine Hand aus, um den Drehschalter so bald wie möglich ertasten zu können. Ich fand ihn schließlich und mit einem leisen Knacksen erhellte eine Deckenleuchte den Flur.

Hier säumten keine Möbel den Gang, der rot-schwarz gemusterte Teppich war die einzige Zierde.

Mit Joan im Schlepptau, strebte ich auf das Ende zu, wo das Badezimmer lag. Schon immer hatte ich die geschwungene Messingtürklinke bewundert, die sich in meine Hand schmiegte. Ich öffnete die Türe und als ich das grün-weiße Fliesenmuster sah, erfasste mich schlagartig ein Schwindel. Ich taumelte benommen und konnte mich gerade noch an der Tür festhalten. Zugleich presste es mir die Luft aus den Lungen und ich glaubte, zu ersticken. Panik erfasste mich und die gefliesten Wände begannen, sich um mich zu drehen. Mein letzter Gedanke war, dass ich das Bewusstsein verlieren würde und im nächsten Moment verschlang mich die Schwärze.

5. Gefangenes Herz

»Sie kommt wieder zu sich.«

Eine Männerstimme drang durch das nebelhafte Nichts zu mir. Ich wollte meine Lider aufschlagen, aber sie waren so schwer. Ein unerwarteter Schmerz schoss durch meinen Hinterkopf und ich stöhnte gepeinigt auf.

Erneut sprach der Mann. »Geh bitte zu Sophie und sag ihr, ich brauche ein Glas Wasser.«

Nach einem Moment entfernten sich Schritte und mir gelang es, die Augen zu öffnen.

Ich fand Lennhart Karlsons bärtiges Gesicht vor meiner Nase. Seine Brauen hatten sich zusammengezogenen, während sein Blick grimmig über mich hinwegschweifte. Irgendwie glaubte ich, Sorge in ihm zu erkennen. Die satte Farbe seiner Augen erinnerte mich an geschmolzene, dunkle Schokolade.

»Wie geht es Ihnen? Alles okay?«

»Ich denke schon. Mein Kopf tut nur ein bisschen weh«, sagte ich und wollte vorsichtig die Stelle abtasten, die schmerzte.

Doch Lennhart brummte. »Lassen Sie mich nachschauen!«

Sanft hob er meinen Kopf an und rückte dabei noch näher an mich heran, sodass mein Gesicht fast seine Schultern berührte. Ein Duft stieg mir in die Nase. Er war ganz angenehm. Unbewusst atmete ich tiefer ein. Es war ein pfeffriges Aroma, das zugleich etwas Zitronenartiges an sich hatte. Sehr sinnlich. Oh Gott, wie kam ich denn darauf? Lennhart Karlson und sinnlich?!

Schweigend hielt ich still und spürte, wie seine Finger behutsam unter meine Haare fuhren und sanft über meine Kopfhaut glitten. Bis ein stechender Schmerz mich zusammenzucken ließ.

»Aah, verdammt«, zischte ich.

»Tut mir leid«, nuschelte er. »Fester ging es nicht. Aber immerhin sehe ich kein Blut. Scheint nur eine Beule zu werden.« Er ließ meinen Kopf wieder auf das Kissen zurücksinken. »Sie hatten Glück, dass Joan Ihren Sturz abgefangen hat. Wäre sie nicht gewesen, hätten Sie Schlimmeres davongetragen.«

»Ja«, murmelte ich und wich Lennharts durchdringenden Augen aus.

Endlich richtete er sich auf und gab mir damit Raum zum Atmen.

»Wenn die Schmerzen bleiben, sollten Sie einen Arzt aufsuchen. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.«

Noch immer seinen Blick meidend, nickte ich, hielt vor Schmerz jedoch kurz die Luft an.

»Weshalb sind Sie zusammengebrochen?«, fragte Lennhart. »Haben Sie es etwa mit Ihrer Diät übertrieben, um besser in ihren schmalen Haute-Couture-Rock hineinzupassen?« Seine Stimme triefte vor Hohn.

Wütend schaute ich ihn an und musste feststellen, dass er sich königlich amüsierte. Der verfilzte Kerl genoss es, mich zu verärgern.

»Nein!«, empörte ich mich. »Ich halte keine Diät. Ich habe heute Morgen ...« Betreten verstummte ich, denn mir wurde klar, dass ich seit dem Brötchen zum Frühstück tatsächlich nichts mehr gegessen hatte. Während Joan bei einem Zwischenstopp in einer Bäckerei eine Brezel vertilgt hatte, war ich mit einer Tasse Kaffee zufrieden gewesen. War mein Zusammenbruch wirklich auf eine Unterzuckerung zurückzuführen? Ich hatte doch schon oft eine Mahlzeit übersprungen, warum sollte ich deswegen auf einmal umkippen? Vielleicht war dieser kleine Ohnmachtsanfall nur eine Folge der Aufregungen der letzten Tage gewesen. Allerdings erklärte es nicht, weshalb ich den Eindruck hatte, zu ersticken.

Indessen ich grübelte, grinste Lennhart selbstgefällig. »Ja, das dachte ich mir.«

Der mir mittlerweile bekannte Ausdruck von Geringschätzung auf seinen Zügen, verriet mir allzu deutlich, dass er seine Meinung über mich nicht so schnell ändern würde. Warum störte mich das? Einen feuchten Dreck sollte ich mich darum scheren, was dieser Typ von mir dachte!

Zu meiner Rettung erschien Joan und brachte das Glas Wasser, um welches Lennhart sie gebeten hatte.

Er stand auf und tauschte mit ihr den Platz. Derweil rappelte ich mich auf, bis ich mich gegen das Kopfende des Bettes lehnen konnte, in dem man mich abgelegt hatte. Ich schaute mich um. Offensichtlich hatte Lennhart mich ins Schlafzimmer meiner Eltern getragen, das sich direkt gegenüber vom Bad befand, denn es war eindeutig ihr altes Ehebett.

Die Maserung des Palisanderholzes, in seinem rötlichen und dunklen Braun, umgab mich von jeder Seite. Ob Bett, Kommoden oder die Türen des begehbaren Schrankes, das polierte Holz war allgegenwärtig. Golden hoben sich eingeprägte Schnörkel von dem noblen Untergrund ab. Wie Schlangen ringelten sie sich mir aus jedem Winkel entgegen.

Ein seltsam dumpfes Gefühl erfasste mich bei ihrem Anblick und ich griff nach dem Wasser, das Joan mir reichte.

Ihre Miene spiegelte die Sorge wider. »Geht es dir gut? Du bist ganz bleich.«

»Ja, danke«, erwiderte ich und schenkte ihr mühevoll ein Grinsen. In kleinen Schlucken leerte ich das Wasser und reichte ihr das Glas zurück.

Lennhart hatte sich noch nicht entfernt. Mit verschränkten Armen beobachtete er mich von der Türschwelle aus.

»Sie sollten bald etwas essen. Sonst fallen Sie womöglich gleich nochmal aus ihren ... Stöckelschühchen. Ich habe nämlich Besseres zu tun, als Sie den lieben langen Tag vom Boden aufzulesen.«

Ich schnappte empört nach Luft. Aber Lennharts Blasiertheit kannte keine Grenzen. Grinsend fügte er an: »Zumindest für heute.«

»Wissen Sie, es fällt einem ganz schön schwer, sich bei Ihnen zu bedanken, wenn Sie sich wie ein ...« Mit aufeinandergepressten Lippen suchte ich nach dem passenden Begriff und geriet dabei ins Stocken. Ich wollte mir nicht die Blöße geben, ihn mit unflätigen Kraftausdrücken zu beleidigen. Selbst, wenn ich mir fast die Zunge abbeißen musste, um das zu verhindern. »... Flegel benehmen!«

»So so, Flegel?«, machte er sich lustig. Doch dann schlug seine Stimmung auf einmal um. Todernst fuhr er fort: »Ich wette, Ihnen lag schon etwas ganz anderes auf der Zunge.«

Der Blick seiner braunen Augen fing meine ein, gewährte mir kein Entkommen. Instinktiv ahnte ich, was er damit beabsichtigte. Er wollte mir noch etwas Anderes sagen. Etwas Anzügliches. Ehe ich meinen Instinkt in Frage stellen konnte, meinte er: »Ja, ich sollte mich nicht von Ihrem Äußeren täuschen lassen. Sophie hat recht, es ist bloß Fassade. Und ich weiß nicht, was ich mehr verachte: Das, was Sie vorgeben zu sein, oder das, was Sie wirklich sind. Ich finde beides zum Kotzen.«

Alles Blut wich mir aus dem Gesicht und schien in meinem Magen zusammenzuströmen. Obwohl er es nicht ausgesprochen hatte, verstand ich seine Andeutungen sehr gut. Ungeachtet meines teuren Kostüms hielt er mich für ein billiges Flittchen. Denn nichts anderes hatten ihm die Worte meiner Mutter, soeben in der Stube und bestimmt auch schon früher, impliziert.

Zornig schwang ich meine Beine über den Bettrand, damit ich ihm den Rücken zukehren konnte. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Aber es gelang mir nicht völlig, das Zittern aus meiner Stimme zu verbannen.

»Danke, Herr Karlson. Danke für alles, besonders für Ihren freundlichen Empfang«, antwortete ich sarkastisch und beschäftigte mich fortan damit, in meine Schuhe zu schlüpfen.

Irgendjemand hatte sie mir ausgezogen und ordentlich vor dem Bett abgestellt. Verstohlen schaute ich über die Schulter. War er das womöglich gewesen?

Ich sah nur noch, wie Lennhart sich vom Türrahmen abstieß und davonging.

»Echt, der ist so ein Arsch«, sagte Joan. »Erst dachte ich, er ist ganz okay. Als ich um Hilfe rief, kam er nämlich sofort angerannt. Ohne lange zu fackeln, hat er dich vom Boden aufgesammelt und hierhergetragen. Er wirkte beinahe schon besorgt, während er dir die Schuhe ausgezogen und die Haare aus dem Gesicht gestrichen hat.« Angeekelt rümpfte sie ihr Näschen. »Das war irgendwie voll kitschig ... und unheimlich.«

Ein nervöses Kribbeln lief durch meine Beine, als ich mir vorstellte, wie Lennhart meine Fesseln berührt haben könnte. Ich war eindeutig verrückt! Selbst, wenn Paul und ich schon lange keine Intimitäten mehr geteilt hatten, war das keine Ausrede dafür, irgendetwas an diesem Mann reizend zu finden. Er war ein ungepflegter, unverschämter Waldschrat.

Joan schüttelte verwirrt den Kopf. »Warum hackt er so auf dir rum? Ich verstehe das nicht. Wir haben ihm doch nichts getan.«

Resigniert schloss ich für einen Moment die Lider. Mir wurde klar, weshalb Lennhart mir gegenüber so eingestellt war. »Nein, ihm nicht. Aber er denkt, dass ich deiner Großmutter etwas angetan habe. Oder vielmehr nichts getan habe, was eine Tochter tun sollte.«

In einer verärgerten Geste hob Joan die Hände. »Wie kann er ihr einfach glauben? Er sollte erstmal mit den Leuten reden, bevor er sich ein Urteil über sie bildet.«

Um Joan nicht noch mehr gegen ihre Großmutter aufzustacheln, versuchte ich, sie zu beruhigen. »Schatz, du urteilst selbst gerade vorschnell. Denn wir wissen nicht mit Bestimmtheit, ob sie etwas zu ihm gesagt hat. Vielleicht hat er seine Schlussfolgerungen aus dem gezogen, was er jahrelang gesehen hat: Eine Tochter, die sich nicht das kleinste Bisschen um ihre kranke Mutter kümmert.«

Traurigkeit überfiel mich, denn der Dorn der Erkenntnis bohrte sich in meine Brust. Lennhart Karlson hatte allen Grund mich so zu behandeln, er war mein persönlich umher wandelndes, schlechtes Gewissen.

»Mama!«, rief Joan vorwurfsvoll. »Das nimmst du dir doch selbst nicht ab. So, wie die sich gerade eben da unten aufgeführt hat, hat sie ihm, weiß der Geier, was erzählt. Und wahrscheinlich nicht nur ihm.«

Ich schüttelte sacht den Kopf. »Wenn dem so wäre, könnten wir auch nichts daran ändern. Solange wir hier sind, sollen sich die Leute ihre eigene Meinung über uns bilden.« Trotz packte mich plötzlich und ich begehrte auf. »Und wenn die beschissen ausfällt, ist es mir ehrlich gesagt egal. Wir haben andere Probleme als das.« Ich erhob mich und ordnete meine Kleider. Mit dem Vorsatz, es allen, insbesondere meiner Mutter, zu beweisen, dass ich auf eigenen Füßen stehen konnte, reckte ich das Kinn. »Morgen bringe ich meine Designer-Klamotten in einen Secondhandladen und werde mich anschließend auf die Suche nach einem Job machen.«

Wir verließen das Schlafzimmer und ich warf nochmals einen Blick in das Bad. Es sah genauso aus wie früher. Die gleichen Fliesen, das gleiche Waschbecken, die gleiche Badewanne. Ich schluckte, denn seit ich denken konnte, hegte ich eine gewisse Abneigung gegen Wasser. Duschen war für mich eine Notwendigkeit, der ich mit wenig Begeisterung nachging. Ein Vollbad zu nehmen war für mich jedoch eine Qual. Schwimmen zu gehen in einem See oder Schwimmbad ein Ding der Unmöglichkeit. Geschickt war ich diesem Zeitvertreib in meinem gesamten Leben aus dem Weg gegangen. Gab es da einen Zusammenhang? Doch ich konnte mich nicht erinnern, dass mir jemals etwas in dieser Wanne zugestoßen wäre. Kein Unfall, kein Sturz, kein Blut!

Ein Bild blitzte in meiner Erinnerung auf, so schnell, dass ich es nicht zu fassen bekam. Verstört wandte ich mich ab und folgte Joan eilig die Treppe hinunter. Ich war erleichtert, als meine Mutter erklärte, dass Lennhart Karlson das Haus verlassen habe.

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